Kompetenzorientierte fachspezifische Unterrichtsentwicklung (E-Book)

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3 Professionalisierung von Lehrpersonen durch videobasierte fachdidaktische Fallarbeit

Marco Adamina

In der Lehrerinnen- und Lehrerbildung wird in den letzten Jahren zunehmend Fallarbeit propagiert. Sie hat in verschiedenen Formen und Ausprägungen bereits Einzug gehalten, vor allem in der berufspraktischen Ausbildung, aber auch in der Unterrichtsforschung. Zur Erschliessung und Analyse professioneller Kompetenzen von (angehenden) Lehrpersonen werden zunehmend situations- beziehungsweise fallbezogene Text- und Videovignetten eingesetzt. So haben Videografie und Audiografie des Unterrichts als Forschungsinstrumente und als fallbezogene Repräsentationen und Materialien für das Lehren und Lernen an Bedeutung gewonnen. Die Literatur zur Fallarbeit allgemein und insbesondere auch zur Arbeit mit Unterrichtsvideos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung ist in den letzten 15 Jahren angewachsen und es werden zunehmend Plattformen oder Archive zur Fallarbeit und zu Unterrichtsvideos aufgebaut. Im Rahmen der Initiative «Qualitätsoffensive Lehrerbildung» (https://www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de/) werden an verschiedenen Standorten in Deutschland Lehrangebote mit Einbezug von Fallarbeit und Unterrichtsvideos konzipiert, entwickelt, erprobt und evaluiert.

Hingegen in der fachbezogenen und -didaktischen Lehre werden zur Erörterung und zur Auseinandersetzung mit Fragen der Unterrichtsplanung, des Unterrichtsarrangements sowie der Entwicklung und Erweiterung professioneller Kompetenzen und des Handelns der Lehrpersonen Fallbeispiele und Unterrichtsvideos nach wie vor eher selten eingesetzt. Für verschiedene Fachbereiche und Bildungsstufen bestehen noch keine oder erst wenige Grundlagen und Beispiele für eine videobasierte, fachdidaktische Fallarbeit.

Reusser et al. (2014) weisen im Editorial zum Themenheft «Fallarbeit/Kasuistik» in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung darauf hin, dass international gesehen Fallstudien und die Auseinandersetzung mit Fallbeispielen aus dem Unterricht als situiertes, problembasiertes und forschendes Lernen für zahlreiche Formate in der Lehre und der berufspraktischen Ausbildung aller Stufen eine bedeutende Rolle spielen. Angestrebt und erwartet wird dabei, dass durch Lernen an authentischen Situationen und Fällen unter Einbezug mehrerer Perspektiven vermehrt tief verstandenes und anwendungsfähiges Wissen und Können aufgebaut und erweitert werden kann.

Mit fallbasiertem Lernen in der fachbezogenen und -didaktischen Ausbildung wird insbesondere angestrebt, dass angehende Lehrpersonen professionelle Kompetenzen in einem möglichst eng verknüpften Bezug zwischen Grundlagen, theoretischen Konstrukten, Prinzipien und konkreten Situationen im fachbezogenen Unterricht in den Bereichen des fachlichen und fachdidaktischen Wissens und Könnens aufbauen und erweitern können.

3.1 Entwicklung und Erweiterung professioneller Kompetenzen in den Fachdidaktiken

Zentrale Kompetenz von Lehrpersonen im Kontext des kompetenzorientierten fachspezifischen Unterrichts ist insbesondere ein adaptives und souveränes Handeln in komplexen Situationen beim Planen und Arrangieren von Lerngelegenheiten und -situationen. Dies bezieht sich auf das Initiieren von Lernprozessen, das Hinführen und Anleiten zu Lernaufgaben und Aufträgen im Unterricht, das Erarbeiten, Veranschaulichen, Klären von Sachverhalten und Situationen gemeinsam mit den Lernenden, die Begleitung, Unterstützung und das Begutachten und Beurteilen von Lernprozessen und -ergebnissen. In Anlehnung an und erweitert nach Blömeke et al. (2014), Harms & Riese (2018), Kleickmann (2017) und Kunter et al. (2011) lassen sich die in Abbildung 1 aufgeführten sieben Bereiche professioneller Kompetenzen von Lehrpersonen für einen kompetenzorientierten Fachunterricht herausschälen. Dabei geht es (1) um die Wahrnehmung und die Reflexion eigener Vorstellungen und Beliefs zum fachbezogenen Unterricht, (2) die Erschliessung und Identifizierung von Schülerinnen- und Schülervorstellungen und -interessen, (3) das Erkennen von grundlegenden Kompetenzen eines lernwirksamen Fachunterrichts, (4) den Aufbau von schulfachbezogenem Fachwissen und das Erlangen von Souveränität in Bezug auf den Umgang mit Lerngegenständen im Unterricht, (5) die Planung von Unterrichtseinheiten und das Arrangement von Lerngelegenheiten für das fachbezogene Lernen, (6) das Initiieren, Inszenieren und Arrangieren entsprechender Zugangsweisen, Lernaufgaben und Aufträge im Unterricht und (7) das Begleiten, Unterstützen und Begutachten von Lernprozessen und -ergebnissen mit Rückmeldungen und Reflexionen zu Lerngegenständen und zum Lernen mit den Schülerinnen und Schülern.


Abbildung 1: Professionelle Kompetenzen von Lehrpersonen im kompetenzorientierten Fachunterricht (eigene Darstellung in Anlehnung und erweitert nach Blömeke et al., 2014; Harms & Riese, 2018; Kleickmann, 2017; Kunter et al. 2011)

Selbstverständlich spielen bei der Entwicklung professioneller Kompetenzen von Lehrpersonen für den Fachunterricht auch die anderen Komponenten, wie sie in den gängigen Modellen (Kunter et al., 2011) dargestellt werden, eine bedeutende Rolle. So erweisen sich neben den eigenen Vorstellungen zum Beispiel Überzeugungen und Interessen zum Fach und zum Unterricht, selbstregulative Fähigkeiten (zum Beispiel Umgang mit eigenen Ressourcen, Empathie und Distanz) sowie pädagogisches Wissen und Können (zum Beispiel Aspekte der Klassenführung) als einflussreiche Faktoren für das Planungs- und Unterrichtshandeln im kompetenzorientierten Fachunterricht.

Der Aufbau und die Erweiterung professioneller Kompetenzen lässt sich – in Anlehnung an Blömeke et al. (2015) – als Kontinuum mit Übergängen postulieren (vgl. Abb. unten 2). Dabei geht es im Wesentlichen um eine Transformation von (bereits vorhandenen) Vorstellungen, Einstellungen, Überzeugungen über die Entwicklung und Erweiterung von situationsbezogenen Fähigkeiten wie zum Beispiel die Unterrichtswahrnehmung, -analyse und -diagnose hin zum beobachtbaren Handeln und bewussten Verhalten im Unterricht. Das Modell kann wechselseitig verstanden werden, indem ausgehend von praktischen Erfahrungen und der Reflexion über den Unterricht situationsbezogene Fähigkeiten und Dispositionen erweitert und differenziert werden. Situationsbezogene Fähigkeiten haben in diesen Transformationsprozessen eine Art Brücken- oder Vermittlerfunktion und spielen für die Entwicklung professioneller Kompetenzen eine entscheidende Rolle (Blömeke et al., 2015; Kunter et al., 2011; Kleickmann 2017).


Abbildung 2: Modellierung professioneller Kompetenzen als Kontinuum (eigene Darstellung in Anlehnung an Blömeke et al., 2015)

Bei der Förderung professioneller Kompetenzen erscheint es angezeigt, alle drei Bereiche in verknüpfter Form einzubeziehen (Blömeke et al., 2015; Meschede & Steffensky, 2018). So ist es zum Beispiel unabdingbar, dass Lehrpersonen mit Bezug zu ihren bisherigen Vorstellungen, Konzepten und Überzeugungen Fähigkeiten entwickeln, Verläufe und Situationen im fachbezogenen Unterricht wahrzunehmen und zu deuten, und davon ausgehend alternative, adaptive Handlungsweisen (Instruktionen, Interventionen, Unterstützungen, Rückmeldungen) entwickeln und umsetzen. Das Wahrnehmen, Erkennen und Einschätzen von lernrelevanten und -wirksamen Situationen im (Fach-)Unterricht wird als Analysekompetenz bezeichnet. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um Handlungskompetenzen (weiter) zu entwickeln und umzusetzen. Ergebnisse aus verschiedenen Untersuchungen zeigen, dass die Entwicklung situationsbezogener Fähigkeiten wie die Wahrnehmungs- und Analysekompetenz bedeutsam ist für erfolgreiches Unterrichtshandeln; gleichzeitig werden dadurch auch das Lernen und die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler positiv beeinflusst (Kleickmann, 2017; Steffensky & Kleinknecht, 2016). Erforderlich sind dazu fachdidaktisches Wissen und Können in Bezug auf die Lerngegenstände, die Erschliessung der Perspektive der Lernenden, die Planung und das Arrangement entsprechender Lerngelegenheiten und -prozesse sowie auf die Inszenierung des Unterrichts und die Lernunterstützung im Unterricht.

Dies alles spricht für eine möglichst enge Verknüpfung von Theorie und Praxis beziehungsweise von Dispositionen, situationsbezogenen Fähigkeiten und dem Planungs- und Unterrichtshandeln. Mit dem Einsatz von videobasierter Fallarbeit wird eine stärkere Verknüpfung von fachdidaktischen Grundlagen (Theoriebezüge) und von Situationen mit hohem Berufsfeld- und Anwendungsbezug erreicht. Fallarbeit mit Unterrichtsvideos und weiteren Dokumenten aus dem Unterricht bietet eine anschauliche Möglichkeit, fachbezogenen Unterricht wahrzunehmen und Aspekte situiert und gleichzeitig auf fachdidaktische Grundlagen gestützt zu erschliessen. Dies kommt dem Anspruch der theorie- und praxisbezogenen Ausbildung von Lehrpersonen nach, die auf anschlussfähiges, flexibles und auf Transfer und Anwendung ausgerichtetes Wissen und Können mit Blick auf einen kompetenzorientierten, fachspezifischen Unterricht ausgerichtet ist (Biaggi, Krammer & Hugener, 2013).

3.2 Videobasierte fachdidaktische Fallarbeit

Wie die Begriffe «fallbasiertes Lehren und Lernen», «Fallarbeit», «Kasuistik», «mit und an Fällen lernen und lehren» zeigen, bestehen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung mit den vielfältigen erziehungs-, sozialwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven sehr unterschiedliche Verständnisse und Konzepte zu diesem Bereich (Hummrich, 2016; Steiner, 2014). Bei der Fallarbeit geht es in erster Linie darum, einen professionellen Umgang mit Situationen beim Planen, Umsetzen und Gestalten des Unterrichts aufzubauen, indem bei der Wahrnehmung und Analyse von Unterricht jeweils Bezüge zu Grundlagen und Theorien hergestellt werden. Dabei werden auch Alltagsroutinen reflektiert und alternative Handlungsoptionen und -wege gesucht und erweitert. Ziel ist die Steigerung der Lehr- und Unterrichtsqualität durch einen zunehmend professionellen Blick auf den Unterricht und die Entwicklung von Handlungsoptionen, -alternativen und -perspektiven.

 

Im Projekt «Kompetenzorientierte fachspezifische Unterrichtsentwicklung» verstehen wir «Fall» als Dokumentation von Situationen im fachbezogenen Unterricht, aufgespannt als Bezugs- und Handlungsnetz zwischen Lerngegenstand, den Lernenden und den Lehrpersonen. Ein Fall ermöglicht, multidimensional und aus verschiedenen Perspektiven Einblick zu nehmen in das authentische Unterrichtsgeschehen: wie Lerngegenstände aufgenommen und bearbeitet werden, wie Lernprozesse ablaufen und wie die Lernenden im Unterricht arbeiten und sich austauschen, wie Lehrpersonen Unterricht arrangieren, Lernaufgaben unterbreiten, das Lernen initiieren, anleiten und unterstützen. Dies kann sich auf eine abgeschlossene Teilsequenz im Unterricht (zum Beispiel zu einer Austauschrunde in der Klasse, in der Ergebnisse aus einer Erkundung besprochen werden), eine ganze Unterrichtssequenz oder eine Unterrichtseinheit zu einem bestimmten Lerngegenstand beziehen. Die im Rahmen des Projekts aufbereiteten Fälle repräsentieren Unterricht im Sinn von «practice as usual», wobei die Lehrpersonen bei ihrer Planung und Umsetzung die Anliegen aus den jeweiligen Projekten zum kompetenzorientierten Fachunterricht aufgenommen und umgesetzt haben. Die Unterrichtsvorhaben wurden zwischen den projektleitenden Fachdidaktikerinnen und -didaktikern und den Lehrpersonen besprochen und teilweise auch gemeinsam entwickelt. Fälle sind auch geprägt durch das Material, das für die Bearbeitung zur Verfügung steht. Im Zusammenhang mit der videobasierten Fallarbeit im Projekt «Kompetenzorientierte fachspezifische Unterrichtsentwicklung» sind die Fälle durch Videoclips aus dem entsprechenden Fachunterricht, Planungsunterlagen der Lehrpersonen, Arbeitsmaterialien für den Unterricht und Dokumente der Schülerinnen und Schüler zu Ergebnissen aus den Lernprozessen aufbereitet.

In Anlehnung an Kiel, Kahlert & Haag (2014) zeichnen sich gute Fälle durch einen klaren Berufsfeldbezug und gut situierte Anker aus, damit Grundlegendes und Abstraktes mittels konkreter, anschaulicher und vorstellbarer Situationen besser vergegenwärtigt werden kann («Narrative Struktur» nach Kiel et al., 2014, S. 25). Gute Fälle ermöglichen die Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen und mit den Möglichkeiten zum Arrangement von Lerngelegenheiten und -umgebungen. Sie weisen auf strukturelle Unsicherheit und das Handeln in entsprechenden Situationen hin und regen an, Rollenerwartungen und Handlungsmuster zu reflektieren. Dabei bieten sich Möglichkeiten an, das Spannungsfeld zwischen fachdidaktisch abgestützten (wissenschaftlichen), sozialen und subjektiven Handlungspraktiken von Lehrpersonen im Fachunterricht zu thematisieren. Mit Fallarbeit kann ein Habitus der Distanz, Skepsis und Neugier gegenüber Unterrichtssituationen und dem Handeln der Lehrpersonen aufgebaut und entwickelt werden.

3.3 Potenzial, Funktion, Ziele und Herausforderungen des Lernens mit videobasierter Fallarbeit

Videobasierte Fallarbeit bietet ein grosses Potenzial für die Förderung und Unterstützung professioneller Kompetenzen von Lehrpersonen. Um dieses Potenzial möglichst optimal auszuschöpfen, ist es allerdings wichtig, dass die dabei verfolgten Ziele und anvisierten Kompetenzentwicklungen transparent gemacht, das Fallmaterial gut ausgewählt und entsprechende Lehr-Lernkonzepte in der Lehrpersonenbildung sinnvoll geplant und abgestimmt werden (Blomberg et al., 2013).

Unterrichtsvideos und dazugehöriges Material wie Unterrichtsplanungen der Lehrperson, eingesetztes Unterrichtsmaterial und Dokumente der Lernenden aus Lernprozessen ermöglichen eine realitätsnahe und anschauliche Abbildung von Unterrichtssituationen. Das Handeln der Lehrpersonen und der Lernenden sowie die Interaktionen zwischen Lehrpersonen und Lernenden und unter den Lernenden sind direkt einsehbar. Die Informationsdichte zu Unterricht und zu Lehr-Lern-Prozessen ist hoch.

Videobasierte Fallarbeit ermöglicht eine nahezu authentische Erschliessung von Lehr-Lern-Prozessen, im vorliegenden Projekt mit kompetenzorientiertem, fachspezifischem Unterricht in verschiedenen Klassen und auf verschiedenen Stufen.

Ein grosser Vorteil videobasierter Fallarbeit liegt darin, dass Unterrichtssituationen unter verschiedenen Gesichtspunkten und aus mehreren Perspektiven wahrgenommen und analysiert werden können und anders als in der direkten Unterrichtssituation kein direkter Handlungsdruck besteht. Mehr Distanz zum Geschehen – ein distanzierter Blick – kann eingenommen werden und damit kann eine differenzierte und inhaltlich fokussierte Reflexion erfolgen. Mit der Möglichkeit, Situationen mehrmals zu betrachten, ergibt sich das Potenzial, vertieft Einblicke in Lehr-Lern-Prozesse nehmen zu können, durch Wahrnehmung, Erschliessung, Beschreibung und Analyse neue Erkenntnisse zu gewinnen und das fachdidaktische Wissen und Können sowie das Handlungsrepertoire zu erweitern. Gleichzeitig erhöht sich die Flexibilität im Nachdenken über unterschiedliche Handlungsoptionen. Dies fördert anwendungsbezogenes, adaptives und damit souveränes Handeln der Lehrpersonen beim Planen, Arrangieren und Gestalten von Unterricht und beim Initiieren, Anleiten und Unterstützen von Lernprozessen – es entsteht eine für die professionelle Entwicklung notwendige Abstandspraxis.

Videobasierte Fallarbeit ermöglicht es, bisherige Vorstellungen zu reflektieren, Handlungsweisen zu überdenken und situationsspezifische Fähigkeiten (vgl. Abb. 2, hier) sowie das Handlungsrepertoire zu erweitern und somit einen zunehmend professionellen Blick einzunehmen. Im Austausch mit anderen ist es zudem möglich, Selbst- und Fremdwahrnehmungen zu vergleichen, unterschiedliche Betrachtungsweisen zu thematisieren, Analysen auszutauschen, den Diskurs zu fachbezogenen Lehr-Lernprozessen zu führen, Einordnungen in theoretische und empirische Grundlagen vorzunehmen und eine gemeinsame Sprache und Begrifflichkeit zu fachdidaktischen und fachunterrichtsbezogenen Aspekten aufzubauen. «Der Vergleich mit anderen Formen der Unterrichtsreflexion zeigt, dass unter Beizug von Videos differenzierter und inhaltlich fokussierter reflektiert wird» (Krammer, 2014, S. 165).

In verschiedenen Untersuchungen konnte der positive Einfluss videobasierter Lernumgebungen auf die Wahrnehmungs- und Analysefähigkeiten angehender und bereits unterrichtender Lehrpersonen nachgewiesen werden (vgl. dazu die Zusammenstellung in Steffensky & Kleinknecht, 2016). Dabei zeigte sich, dass nach anfänglicher Fokussierung auf Merkmale der Oberflächenstruktur von Unterricht (zum Beispiel Methoden, Organisationsformen) im Verlauf von videobasierten Interventionen und mit entsprechender Anleitung stärker Tiefenstrukturen wie die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler und die Massnahmen der Lehrperson zur kognitiven Aktivierung und zur inhaltlichen Strukturierung aufgenommen und analysiert werden. Durch gezielte Förderung verändern sich die Analysen nach und nach hin zu Interpretationen.

Ergebnisse aus verschiedenen Studien deuten zudem darauf hin, dass die Erweiterung professioneller Kompetenzen durch videobasierte Fallarbeit wirksam ist in Bezug auf das Handeln der Lehrpersonen im Unterricht, zum Beispiel indem die Lernenden mehr Gelegenheit erhalten, ihre Vorstellungen einzubringen, dass Lehrpersonen bei Beiträgen der Lernenden mehr Begründungen einfordern oder dass sie Rückmeldungen konstruktiver geben (Meschede & Steffensky, 2018).

Selbstverständlich zeigen sich bei der videobasierten Fallarbeit auch verschiedene Herausforderungen und Schwierigkeiten, die bei Lerngelegenheiten in der Lehrpersonenbildung bewusst gemacht und bei Planung und Einsatz aufgenommen und thematisiert werden müssen. Videobasierte Fälle beleuchten lediglich einen begrenzten Ausschnitt der echten Unterrichtssituation. Daher hängt es stark von der Auswahl und dem Setting der Studienautorinnen und -autoren der Fälle ab, welche Situationen mit welchen Repräsentationsformen aufbereitet und für die Fallbearbeitung berücksichtigt werden. Weiter können bei der Wahrnehmung und Erschliessung von Unterrichtssituationen subjektive Filter und Verzerrungen eine wichtige Rolle spielen: So können zum Beispiel erste Eindrücke die weitere Beobachtungs- und Analysearbeit beeinflussen (Primacy-Effekt) oder eine subjektiv hoch eingeschätzte Beobachtung prägt alle weiteren (Halo-Effekt). Zudem stellen Stereotypisierungen, Vorurteile oder subjektive Zuschreibungen und Projektionen aufgrund eigener Erfahrungen oder Überzeugungen eine Herausforderung bei der Fallarbeit dar. Erfahrungen bei der Arbeit mit Unterrichtsvideos weisen daraufhin hin, dass bei der Analyse eine Tendenz zum (vorschnellen) Bewerten besteht und oft nur Positives gewichtet wird (Krammer & Reusser, 2005).

Eine zentrale Frage im Zusammenhang mit der videobasierten Fallarbeit bezieht sich darauf, welche Arten von Material einbezogen werden: Beziehen sich die Materialien auf authentischen oder auf nachgestellten Unterricht (zum Beispiel um bestimmte Aspekte zu zeigen)? Geht es um Best-Practice-, Typical-Practice- oder um As-Usual-Unterrichtssituationen? Werden Fälle aus fremdem oder eigenem Unterricht bearbeitet? Je nach Ausrichtung und Ziel sind unterschiedliche Arten von Materialien beziehungsweise Kombinationen von Arten sinnvoll.

Verschiedene Befunde weisen darauf hin, dass mit fremdem Unterrichtsmaterial ein kritisch-distanzierter Blick aufgebaut und dabei differenziertere und kritischere Analysen vorgenommen sowie häufiger Handlungsalternativen aufgeführt werden als bei der Arbeit mit eigenem Fallmaterial, dass aber andererseits aktiver und motivierter mit eigenen Materialien gearbeitet wird als mit fremden. Bisher konnte aber keine klare Überlegenheit von Fallarbeit mit fremdem oder eigenem Material festgestellt werden. Vielmehr scheint eine Kombination fruchtbar zu sein, wobei zum Aufbau von Wahrnehmungs- und Analysefähigkeiten empfohlen wird, zuerst mit fremden und danach mit eigenen Fällen zu arbeiten (Brouwer, 2014; Krammer, 2014; Meschede & Steffensky, 2018; Steffensky & Kleinknecht, 2016).

Bei der Arbeit mit Best- oder Good-Practice-Beispielen besteht die Gefahr, dass gezeigte Handlungsweisen übernommen werden, ohne dass eine Reflexion über die Lehr- und Lernprozesse erfolgt. In vielen Beiträgen wird deshalb vor allem für eine frage- und problemorientierte Wahrnehmung, Analyse und Diskussion von authentischen, praxisnahen Unterrichtssituationen plädiert (ebd.; Krammer & Reusser, 2005).

Insgesamt zeigen die verschiedenen angesprochenen Studien, dass Ansätze des situierten Lernens wie der videobasierten Fallarbeit dazu beitragen, ein grundlagengestütztes, übertragbares und anwendbares Repertoire zum Planungs- und Unterrichtshandeln zu fördern und zu entwickeln, und dabei eine Verknüpfung von Dispositionen und situationsspezifischen Fähigkeiten mit konkreten Unterrichtssituationen (vgl. Abb. 2, hier) sowie der Aufbau und die Erweiterung von fachdidaktischem Wissen und Können ermöglicht werden.

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