Einführung in die Ethik

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2 Ethik als praktische Wissenschaft

Das Verhältnis von Moral und Moralität, das die Ethik bedenkt, lässt sich nur im Zusammenhang mit moralischen HandlungenHandeln/Handlungmoralische(s) und moralischen Urteilen über solche Handlungen zureichend thematisieren. Insofern ist die Ethik eine Philosophie der PraxisPraxis oder eine Wissenschaft, praktischepraktische Wissenschaft, der es jedoch nicht um die menschliche PraxisPraxis als ganze geht, sondern ausschließlich um jene besondere Klasse von Handlungen, die als moralische HandlungenHandeln/Handlungmoralische(s) bezeichnet werden.

Die Ethik ist also eine Theorie moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s), aber – und das ist eine weitere Besonderheit der Ethik – diese Theorie entwickelt sie primär nicht um des Wissens, sondern um des Handelns willen. Die Ethik ist somit keine Theorie um der Theorie willen; ihr geht es primär nicht um eine ausschließlich intellektuelle Befriedigung, sondern um die Beziehung des Gedachten zum Handeln, d.h. das durch die Ethik vermittelte Wissen soll keine bloß theoretische, praktisch folgenlos bleibende Information, sondern »taterzeugendes Wissen« (FICHTEFichte, J.G.) sein, das sich nur in der PraxisPraxis bewährt. Oder, um es mit ARISTOTELESAristoteles zu sagen: Die PraxisPraxis ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel der EthikEthikZiele der. Die PraxisPraxis, von der die Ethik ihren Ausgang nimmt, ist für ihn die Alltagspraxis in der Polis, in deren EthosEthos der Schüler der Ethik schon durch eigenes Handeln bis zu einem gewissen Grad eingeübt sein muss, um zu verstehen, wovon in der Ethik die Rede ist.

Daher muss bereits über eine edle Grundgewöhnung verfügen, wer mit Nutzen eine Vorlesung über das Edle, das Gerechte, kurzum über die Wissenschaft von der Polis hören will. (Eth. Nic. I,2; 1095b 5–7)

Die PraxisPraxis, auf die die Ethik hinzieltEthikZiele der, ist eben jene Alltagspraxis, von der sie ausgegangen ist, doch nun als eine über sich selbst und die Bedingungen ihres Gutseins aufgeklärte PraxisPraxis.

2.1 Disziplinen der praktischen Philosophie

Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, was die Ethik einerseits mit anderen Disziplinen der Philosophie verbindet und was sie andererseits von diesen unterscheidet. Diese Lokalisierung der Ethik im Feld der Philosophie insgesamt ist nicht nur für das Selbstverständnis der Ethik als Wissenschaft wichtig, sondern auch für die Präzisierung des Gegenstandes der Ethik von eminenter Bedeutung, insofern die menschliche PraxisPraxis im Ganzen ein so vielschichtiges, komplexes Gebilde ist, dass eine immanente Klärung der verschiedenen Aspekte, unter denen die Philosophie sie aufzuschlüsseln versucht, Hinweise darauf gibt, wie sich moralisches HandelnHandeln/Handlungmoralische(s) zu anderen Formen von Praxis verhält.

Als Theorie in praktischer Absicht gehört die Ethik zu den klassischen Disziplinen der praktischen Philosophie, die außer der Ethik noch PolitikPolitik, Rechtsphilosophie und ÖkonomikÖkonomik umfasst.

2.1.1 PolitikPolitik

Reflektiert die Ethik die moralische Dimension menschlicher PraxisPraxis, so die PolitikPolitik deren politische Dimension. Für ARISTOTELESAristoteles gehören Ethik und PolitikPolitik noch untrennbar zusammen, daher lässt er auf die ›Nikomachische Ethik‹ jene Schrift folgen, die den Titel ›PolitikPolitik‹ trägt, denn es scheint ihm zweckmäßig,

wenn wir … uns mit dem Problem der Polisverfassung in seinem ganzen Umfang beschäftigen, um so nach unseren besten Kräften die Wissenschaft vom menschlichen Leben abzurunden. (Eth. Nic. X, 10; 1181b 12–15)

Im Unterschied zur Ethik, die die Strukturen moralisch richtigen Handelns erörtert, geht die PolitikPolitik auf die für die Polis optimalen Gesetze ein, die eine für alle Bürger der Polis geglückte Lebensform ermöglichen. Dabei setzt die PolitikPolitik MoralitätMoralität/Sittlichkeit als Bedingung der den Gesetzen zugrundeliegenden Gerechtigkeit voraus:

Das Gesetz … hat … zwingende GewaltGewalt: es ist ein OrdnungsprinzipOrdnung, das auf sittlicher Einsicht und Vernunft beruht. (Eth. Nic. X, 10; 1180a 15–16)

Was für ARISTOTELESAristoteles Ethik und PolitikPolitik miteinander verbindet, ist der Begriff der Gerechtigkeit; ta ethika und ta politika sind zwei Aspekte ein und desselben Handelns, das einmal mehr vom Individuum und zum andern mehr vom Individuum, sofern es Individuum unter anderen Individuen ist, her reflektiert wird, wobei GerechtigkeitGerechtigkeit beidemale die schlechthin soziale TugendTugend ist.

In der Neuzeit geht die enge Beziehung zwischen Ethik und PolitikPolitik verloren. Bei MACHIAVELLIMachiavelli, N. löst sich die PolitikPolitik von der Ethik ab; an die Stelle der Idee der Gerechtigkeit tritt das Prinzip der GewaltGewalt im Kampf um die MachtMacht. In Angelegenheiten, die die Staatsgeschäfte betreffen, bekommt die Staatsraison den unbedingten Vorrang vor der bürgerlichen MoralMoral und der FreiheitFreiheit des einzelnen. Moralität wird in den Bereich des Privaten abgedrängt, der politisch bedeutungslos ist. KANTKant, I. hat diese morallose Form politischen Handelns im Anhang zu seiner Schrift »Vom ewigen Frieden« heftig kritisiert und die »wahre Politik« wieder auf die MoralMoral zurückbezogen:

Die wahre PolitikPolitik kann … keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben. [KANTKant, I. kann sich zwar] einen moralischen Politiker, d.i. einen, der die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können, aber nicht einen politischen Moralisten denken, der sich eine MoralMoral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmanns sich zuträglich findet. (Werke, Bd. 9, 243, 233)

Eine auf dem Prinzip der DemokratieDemokratie beruhende PolitikPolitik weiß sich wiederum den moralischenMoral Grundwerten verpflichtet und steht von daher unter dem moralischen Anspruch, ihre Ziele nicht nur hinsichtlich ihrer politischen Wirksamkeit, sondern auch hinsichtlich ihrer HumanitätHumanität zu rechtfertigen.

Eine praktische politische Theorie, so hat sich gezeigt, kann ohne ethische Prämissen nicht auskommen, da der Anspruch moralischer Normen nicht auf den privaten Handlungsbereich beschränkt ist, sondern auch für öffentliche Willensbildungsprozesse verbindlich ist: Moralische Kompetenz wird auch und gerade von dem gefordert, der sich von Berufs wegen um staatliche und soziale Angelegenheiten zu kümmern hat. Mithin ist die Ethik die Basiswissenschaft, auf deren Ergebnissen die politische Philosophie aufbaut, indem sie das ethische Freiheitsprinzip rechtlich und institutionell absichert.

Otfried HÖFFEHöffe, O. hat darauf hingewiesen, dass von der Antike bis zur Neuzeit die meisten der klassischen Philosophen auch bedeutende RechtsRecht- und Staatsdenker waren, für die die sittliche Perspektive der politischen Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielte.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts bricht diese Tradition jedoch ab. … In den Rechts- und Staatswissenschaften dominieren der Historismus und der Positivismus, die beide der sittlichen Perspektive mißtrauen, sie zum Teil sogar ausdrücklich ablehnen. Mit der EntfremdungEntfremdung der Philosophie von den RechtsRechtsphilosophie- und Staatswissenschaften geht eine EntfremdungEntfremdung beider Seiten von der Ethik einher und damit die Rechts- und Staatsethik verloren. (Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, 13f.)

Neben O. HÖFFEHöffe, O. sind u.a. V. GERHARDTGerhardt, V., W. KERSTINGKersting, W., H. OTTMANNOttmann, H. und E. VOLLRATHVollrath, E. zu nennen, die sich im deutschsprachigen Raum um eine ethische Fundierung von Politik, Staat und Recht bemühen.

2.1.2 RechtsphilosophieRechtsphilosophie

Auch die RechtsphilosophieRechtsphilosophie oder philosophische Rechtslehre ist eine praktische Disziplin der Philosophie. Im Unterschied zu Ethik und Politik befasst sie sich jedoch nicht mit der moralischen und der politischen Dimension von Praxis, sondern mit ihrem rechtlichen Aspekt, der gleichwohl mit den beiden anderen eng zusammenhängt: Wie politisches Handeln an das Freiheitsprinzip einerseits, an Recht und Verfassung andererseits gebunden ist, so werden RechtsnormenRechtsnormNorm politisch sowohl gesetzt als auch durchgesetzt und haben in der grundsätzlichen Anerkennung des Menschen als moralischer Person ihr ethisches Fundament. Im Unterschied zu den NormenNorm einer Moral sind die NormenNorm einer Rechtsordnung als Gesetze niedergelegt, die für den Fall von Zuwiderhandlungen mit Strafen drohen.

Während also die NormenNorm einer Moral weitgehend ungeschriebenes Gesetz sind, sind die RechtsnormenRechtsnorm gesatzte, schriftlich festgehaltene und zusammen mit Sanktionen formulierte Regeln. Zwar ist auch der Verstoß gegen moralische Normen mit Sanktionen verbunden: Tadel, Missbilligung und Verachtung z.B. können sehr wirksame Maßnahmen sein, um unmoralisches Verhalten zu ahnden. Aber im Unterschied zu Rechtsnormen sind Verstöße gegen moralische Normen nicht einklagbar, es sei denn, dass mit der Verletzung einer moralischen Norm zugleich ein Rechtsbruch verbunden ist: z.B. absichtliche Falschaussage vor Gericht, Vortäuschung falscher Tatsachen bei einem Vertragsabschluss etc.

Die Herkunft des Rechts ist in der Geschichte der RechtsphilosophieRechtsphilosophie umstritten. Während die einen als Vertreter des sogenannten NaturrechtsNaturrecht die RechtsnormenRechtsnorm aus den der menschlichen NaturNaturNaturmenschliche immanenten Zwecken ableiten (PLATONPlaton, THOMAS v. AQUIN, GROTIUSGrotius, H., WOLFFWolff, Ch. u.a.), behaupten die Vertreter des sogenannten positiven RechtsRechtpositives, das RechtRecht sei eine unabhängig von irgendwelchen vorgegebenen Werten von Menschen zum Überleben geschaffene Ordnung (DUNS SCOTUSDuns Scotus, J., Wilhelm von OCKHAMOckham, W. v., HOBBESHobbes, Th.).

 

Die NaturrechtslehrerNaturrecht gehen davon aus, dass die NaturNatur insgesamt, inklusive die menschliche NaturNaturmenschliche, ein Ordnungsgefüge darstellt, das nicht Produkt menschlichen Wollens und Handelns – gemeinsamer Interaktionen – ist, sondern jeder menschlichen Tätigkeit vorausliegt, sei es wie bei PLATONPlaton im Sinne einer hierarchisch gestuften Struktur des Kosmos, von dem der Mensch nur ein Teil ist, sei es wie bei THOMAS im Sinne einer von Gott dem Menschen vorgegebenen SinnSinn- und SeinsordnungOrdnung. Aus diesem jeweils als NaturNatur begriffenen SinnganzenSinn wurden dann die darin implizierten Zweckvorstellungen erschlossen und zu einem Rechts- bzw. Pflichtenkatalog zusammengestellt, der den Inbegriff des NaturrechtsNaturrecht darstellen sollte. Für PLATON war z.B. die Welt, in der der Mensch lebt, nur ein Abbild einer höheren, wahren Welt, des überirdischen Orts, und der Riß zwischen dem Ursprünglich-Eigentlichen und dem Abgeleitet-Abkünftigen, zwischen dem Bereich des unveränderlichen, in sich vollkommenen ewigen Seins und dem Bereich des veränderlichen, vergänglichen, unvollkommenen Werdens geht auch durch die NaturNatur des Menschen und bestimmt seine RechteRecht und PflichtenPflicht. Er ist nämlich sowohl berechtigt als auch verpflichtet, die Strukturen jener höherrangigen Welt nachzuahmen, d.h. als Maßstäbe seines Handelns anzuerkennen.

Während die NaturrechtlerNaturrecht die Gültigkeit des als verbindlich behaupteten RechtsRecht aus der Wert- und Sinnhaftigkeit einer dem Menschen vorgegebenen NaturNatur ableiten, behaupten die Rechtspositivisten, dass es eine solche NaturNatur nicht gebe und die Gültigkeit des RechtsRecht allein daraus folge, dass es gesatztes RechtRecht, d.h. von Menschen zur Regelung ihrer wechselseitigen Beziehungen gemeinsam beschlossene und erlassene Gesetze sind, die aufgrund des gemeinsamen Beschlusses und ihrer schriftlichen Fixierung allgemein verbindlich seien.

KANTKant, I. war es, der diese Alternative von NaturrechtNaturrecht und positivem RechtRecht dadurch aufhob, dass er die menschliche NaturNatur als eine Vernunftnatur bestimmte, wobei er unter VernunftVernunft keine naturale Anlage des Menschen verstand, die sich von selber, ohne sein Zutun entwickelt, sondern eine moralische Aufgabe, die es autonom zu bewältigen gilt, indem die FreiheitFreiheit sich selbst Gesetze gibt – sich selbst ihre Grenze an der FreiheitFreiheit des Mitmenschen setzt. Von daher definierte er das RechtRecht als Inbegriff von Regeln, die lediglich das äußere Verhalten, die äußere FreiheitFreiheit der sich praktisch äußernden VernunftnaturVernunft des Menschen betreffen, wohingegen er den eigentlichen Wert der praktischen VernunftVernunft in der inneren FreiheitFreiheit als der moralischen Gesinnung sah. Entsprechend enthält die ›Metaphysik der Sitten‹ zwei Teile – sowohl eine Rechtslehre als auch eine Tugendlehre –, in denen der rechtliche und der moralische Freiheitsbegriff abgehandelt werden.

Gesetze der FreiheitFreiheit heißen, zum Unterschiede von Naturgesetzen, moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere HandlungenHandeln/Handlung und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auf, dass sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der HandlungenHandeln/Handlung sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die LegalitätLegalität, die mit den zweiten die Moralität der HandlungHandeln/Handlung. (Werke, Bd. 7, 318)

RechtsnormenRechtsnorm müssen somit nicht aus moralischen Gründen befolgt werden; es genügt, dass sie respektiert werden, aus welchen Gründen auch immer. Gleichwohl ist der Begriff des RechtsRecht ebensowenig wie der der Politik ohne Rückgriff auf das Prinzip der Moralität zu legitimieren, wie es die verschiedenen Fassungen der sog. MenschenrechteMenschenrechte oder Grundrechte deutlich zum Ausdruck bringen. Dort ist es überall die FreiheitFreiheit, die als schlechthinniges und unveräußerliches Grundrecht postuliert wird, das weder rechtlich noch politisch angetastet werden darf, da RechtRecht und Politik selber auf diesem GrundwertGrundwerte basieren.

Die EthikEthik erweist sich daher nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch gegenüber der RechtsphilosophieRechtsphilosophie als die Basiswissenschaft, der unter den praktischen Disziplinen der Philosophie das Primat gebührt, da der Begriff der Moralität sich auf die dem Menschen wesentliche FreiheitFreiheit bezieht, die den eine humane PraxisPraxis als humane PraxisPraxis auszeichnenden und qualifizierenden Grund ausmacht. Es sind vor allem die MenschenrechteMenschenrechte, die als kategorische Rechtsprinzipien (O. HÖFFEHöffe, O.) im Zentrum der RechtsphilosophieRechtsphilosophie stehen.

2.1.3 ÖkonomikÖkonomik

ARISTOTELESAristoteles untergliederte die praktische Philosophie in EthikEthik, PolitikPolitik und ÖkonomikÖkonomik. Die EthikEthik als Lehre vom moralischen HandelnHandeln/Handlung und guten Leben war für ihn die Grundlagendisziplin einerseits für die politische Philosophie als Lehre vom gerechten Staat und von legitimer Herrschaft und andererseits für die ÖkonomikÖkonomik als Lehre von der Hauswirtschaft. Nach ARISTOTELES handelt einer im weiteren Sinn ›ethisch‹, wenn er sein HandelnHandeln/Handlung an dem orientiert, was Sitte ist, was in der Polis Geltung hat und daher allgemeine Verbindlichkeit beansprucht. Im engeren Sinn ›ethisch‹ handelt jedoch derjenige, der den überlieferten Handlungsregeln und Wertmaßstäben nicht frag- und kritiklos gehorcht, sondern es sich zur Gewohnheit macht, aus Einsicht und Überlegung das moralisch GuteGute, das zu tun, wie es die jeweilige Situation erfordert.

ARISTOTELESAristoteles hat die EthikEthik und die WirtschaftWirtschaft noch nicht in der strikten Weise voneinander getrennt, wie dies heute geschieht. Jeder Bürger der Polis musste moralisch erzogen, d.h. in die Wertmaßstäbe der Polisgemeinde eingeübt werden, um moralische KompetenzKompetenz, moralische zu erwerben, die ARISTOTELES als TugendTugend (areté) bezeichnete. TugendTugend ist jene Tüchtigkeit der Seele, die den einzelnen befähigt, ein Ziel zu anzustreben, über dessen Wert in der Polis ein Konsens besteht, und dieses Ziel mit wirtschaftlich vertretbaren Mitteln umzusetzen. Moralisches, wirtschaftliches und politisches Handeln sind demnach für ARISTOTELES voneinander unabtrennbar. So wie es keine nur moralischen Handlungen gibt in dem Sinn, dass man bloß das Gute will, ohne sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wie es verwirklicht werden kann, so gibt es auch keine bloß politischen Handlungen: Wer in Staatsangelegenheiten – Verfassung, Gesetzgebung, militärische Erfordernisse, Gerichtswesen u.a. – Entscheidungen zu treffen hat, kann dies einerseits nicht ohne Bezugnahme auf moralische Vorgaben, insbesondere die Prinzipien der GerechtigkeitGerechtigkeit und der Autarkie tun, und andererseits nicht ohne wirtschaftliche ÜberlegungenWirtschaft. Andernfalls würde es zu entarteten Verfassungsformen bzw. zum wirtschaftlichen Ruin der Polis kommen. Ein Politiker, der nicht das für alle GuteGute, das und damit einen moralischen Anspruch zur Grundlage seines Handelns macht, verfehlt mit dem Ethischen auch das Politische. Er beraubt sich des Handlungsmaßstabs, der ihm die Grenzen des für die Polis Erstrebenswerten aufzeigt. So wird das Politische zum Selbstzweck, und zügelloses Machtstreben, Kampf und Gewalt treten an die Stelle einer PolitikPolitik, deren Ziel das Wohlergehen und das gute Leben der Bürger ist. Vernachlässigt der Politiker dagegen das Ökonomische, so bleibt er zwar der ethischen Vorstellung eines guten Lebens und den damit verbundenen Zielen der Polis verpflichtet, aber es gelingt ihm nicht, seine an sich erstrebenswerten Ziele in die Praxis umzusetzen.

Schließlich gibt es auch keine bloß ökonomischen Handlungen. Unter Ökonomie versteht ARISTOTELESAristoteles das Nützliche; darunter fällt alles, was mit der Hausverwaltung zusammenhängt: die Regelung der Arbeits- und Erwerbsverhältnisse in Bezug auf die Familienangehörigen durch den pater familias, dessen Entscheidungen moralische Tüchtigkeit und politisches Engagement voraussetzen. Wo sich das Wirtschaftliche verselbständigt, wie dies etwa beim Gelderwerb der Fall ist, der darauf abzielt, den Reichtum über das zum Leben Benötigte hinaus zu vermehren, spricht ARISTOTELES von einer widernatürlichen Erwerbsarbeit, die weder mit dem moralischen noch mit dem politischen EthosEthos vereinbar ist und mit der tugendhaften Grundhaltung das Fundament der Polis insgesamt korrumpiert. Werden also die Ansprüche der WirtschaftWirtschaft nicht durch ein Moralprinzip restringiert, droht der menschlichenMensch Praxis eine Enthumanisierung, denn wo die Durchsetzung von Eigeninteressen um des größtmöglichen Profits willen zum höchsten Handlungsziel avanciert, wird es eine immer breiter werdende Kluft zwischen Reichen und Armen geben. Rigoroses Streben nach NutzenmaximierungNutzen schafft ungerechte Verhältnisse, die ethisch nicht zu rechtfertigen sind.

Auch wenn wir heute – zweieinhalb Jahrtausende nach ARISTOTELESAristoteles – dessen integratives Handlungsmodell nicht ohne weiteres heranziehen können, um unsere Probleme zu lösen, da wir es nicht mehr mit den überschaubaren Verhältnissen in einem Polisverband, wie der griechische Stadtstaat es war, zu tun haben, sondern mit den komplexen Strukturen einer Weltgemeinschaft von global players, so hat sich mittlerweile doch herausgestellt, dass eine Trennung von WirtschaftWirtschaft, EthikEthik und PolitikPolitik nicht wünschenswert ist, weil sie unsere demokratischen Grundlagen zerstört und damit die soziale Verträglichkeit destabilisiert.

Die in der humanistischen Idee des homo sapiens zusammengefasste Vorstellung von Ganzheitlichkeit beinhaltet, dass die Tätigkeiten von Kopf, HerzHerz, M. und Hand (PESTALOZZIPestalozzi, H.) so miteinander kooperieren, dass sie sich gegenseitig zur Entwicklung und kreativen Umsetzung von Vernunftkonstrukten anspornen. Aus diesem dem homo sapiens immanenten Dreierverband haben sich homo faber und homo oeconomicus abgesetzt, indem sie vom Kopf lediglich die ZweckrationalitätZweckrationalität und Erfindungsgabe, von der Hand nur die Bedienungsfunktion mitnahmen und das Herz in den Privatbereich verbannten. Das so entstandene Ideal einer instrumentell verkürzten menschlichen Praxis, die auf der Basis von Nutzenkalkülen und Maximierungsstrategien ein maschinell unterstütztes quantitatives Wachstum in Gang setzte, hat dazu geführt, dass die auf diese Weise arbeitenden MenschenMensch ebenso verkümmerten wie die durch sie ausgebeutete NaturNatur. Das Menschenbild, das uns heute aus der Werbung und der Unterhaltungsindustrie entgegenblickt, ist der homo consumens, der genuss- und vergnügungssüchtige MenschMensch, der sich alles einverleibt, worauf er Lust und woran er Spaß hat. Gemäß dem Motto ›Nach uns die Sündflut‹ soll das Leben voll ausgeschöpft werden, und die materielle Basis dazu wird von der WirtschaftWirtschaft erwartet, die diese Erwartung umso lieber bedient, da sie ihren Profit aus dem Massenkonsum zieht.

Wie ist es zu diesem Abstieg vom homoMensch sapiens über den homoMensch faber und den homoMensch oeconomicus zum homoMensch consumens gekommen? Was ist aus unseren humanistischen Wertvorstellungen geworden, die wir doch eigentlich immer noch hochschätzen, wenn wir uns die ethische Perspektive zu eigen machen? Gibt es in unserer gewachsenen Kultur nichts, das wir bewahren oder in erneuerter Form für die Zukunft fruchtbar machen wollen? In unserer abendländischen Tradition können wir auf zwei ganz große Sinnkrisen zurückblicken. Die eine steht in einem engen Zusammenhang mit dem Idealismus der christlichen Metaphysik, in deren Gefolge das Leiblich-Materielle und damit zugleich alles mit den Sinnen Erfaß- und Erfahrbare bis zur Verteufelung jeglichen Genusses abgewertet wurde – bei gleichzeitiger Aufwertung, ja Vergöttlichung geistig-immaterieller WerteWert. Doch der Körper rebelliert, wenn seine BedürfnisseBedürfnis unterdrückt, als etwas Verächtliches, da schlechthin Sinn- und Vernunftloses abgetan werden. So wird verständlich, dass der des Sündenfalls verdächtigte Körper seine Rechte wieder geltend machen wollte und dabei ins andere Extrem gefallen ist. Das Resultat war der homoMensch consumens.

 

Und damit war die andere Sinnkrise vorprogrammiert, die aus dem Umschlag des extremen Idealismus in einen nicht weniger extremen Materialismus resultierte, der unsere heutigen Wertvorstellungen dominiert. Wir kennen trotz der Vielfalt an WertenWert in den verschiedenen Dimensionen unserer Lebenswelt nur noch einen Grundwert: den des Profits. Der WertbegriffWert hat sein qualitatives Moment verloren und wird nur noch auf quantifizierbare Gegenstände bezogen. Wo von Wertakkumulierung und Wertsteigerung die Rede ist, gilt nur das als wertvoll, was zur Gewinnmaximierung beiträgt. Das Geld avanciert zum WertWert schlechthin, weil es das Mittel ist, durch das man sich alles übrige, was man hochschätzt, verschaffen kann.

Aufgrund dieser Verarmung des WertbegriffsWert durch seine Reduktion auf zählbare und berechenbare Größen hat auch jeder MenschMensch seinen Preis und wird über seinen Preis bezüglich seines Wertes taxiert. Um ihm mit dem Wert der HumanitätHumanität seine WürdeMenschenwürde zurückzuerstatten, ist ein Umdenken nötig in Bezug auf den Maßstab, der unseren Hochschätzungen zugrundeliegt. Zur Grundlage unseres HandelnsHandeln/Handlung muss neben dem quantifizierenden wieder ein qualitatives Wertbewusstsein treten. Statt noch mehr Waffen, noch mehr Macht, noch mehr Technik, noch mehr Konsum auf der einen Seite, dem auf der anderen Seite noch mehr Ohnmacht, Unterdrückung, Umweltverschmutzung und Armut entspricht, verbunden mit noch mehr Angst, Unfreiheit, Krankheit und Elend – statt eines die Unmenschlichkeit festschreibenden grenzenlosen NutzenwachstumsNutzen einiger weniger auf Kosten der großen Mehrheit muss das neue Wertbewusstsein sich auf einen einzigen Grundwert besinnen, den WertWert der Menschlichkeit, der allein echte Lebensqualität verbürgt.

Menschlichkeit bedeutet: im MitmenschenMensch das andere Ich sehen, dem ich das schulde, was ich für mich selbst beanspruche: SolidaritätSolidarität, ChancengleichheitChancengleichheit, FairnessFairness, Toleranz, das Recht auf freie Selbstverwirklichung. In Anwendung auf MenschenMensch erweist sich der NutzenkalkülNutzen als inhumanes Instrument, durch welches das Gesamtquantum Menschheit klassifiziert, hierarchisiert, instrumentalisiert, in Herrschende und Beherrschte eingeteilt wird. Wo Herrschaftsprinzipien trennen, fordern SolidaritätSolidarität, ChancengleichheitChancengleichheit, Fairness und Toleranz als Ausdruck einfacher Menschlichkeit eine alle Verschiedenheiten übergreifende Einheit, die die MenschenMensch als MenschenMensch miteinander verbündet.

Mittlerweile ist der Ruf nach einem neuen MenschentypusMensch, dem homo oecologicus, immer lauter geworden (vgl. E. MEINBERGMeinberg, E.: Homo oecologicus, Darmstadt 1995), desgleichen die Forderung eines Umdenkens erstens in Bezug auf eine Wirtschaftlichkeit, die unter Berücksichtigung der Rechte künftiger Generationen mit den nicht erneuerbaren Ressourcen sorgsamer umgeht und die Ideologie stetigen Wachstums hinterfragt (Stichwort: nachhaltige Entwicklung); zweitens in Bezug auf einen Umgang mit der NaturNatur, der sich der Eingrenzung von Umweltschäden und dem Schutz der Artenvielfalt verschreibt (Stichwort: Biodiversität), sowie drittens in Bezug auf Formen der Mitmenschlichkeit, die nicht nur den interkulturellen Austausch und die ChancengleichheitChancengleichheit fördern (Stichwort: Erhaltung und Vernetzung kultureller Vielfalt), sondern auch die SolidaritätSolidarität zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft, deren Belastbarkeit mittelfristig allein schon dadurch einem harten Test unterworfen sein wird, dass weitere Rationalisierungsprozesse und ein kaum noch steigendes Wirtschaftswachstum eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit nach sich ziehen müssen, mit der Konsequenz, dass Besitzstandswahrung nicht mehr als Recht eingeklagt werden kann.

Der homo oecologicus als postmoderner homoMensch sapiens ist der Mensch der Zukunft, der – nicht nur um zu überleben, sondern auch um einigermaßen gut zu überleben – seinen individuellen und kollektiven EgoismusEgoismus/Selbstliebe so weit einschränken muss, dass er verträglich wird mit den berechtigten Interessen anderer Individuen, anderer Völker und der NaturNatur. Empathie und Toleranz sind die TugendenTugend, die er ausbilden muss, um jene Verstehensleistungen erbringen zu können, die die Voraussetzung für ein nichtrepressives Miteinanderumgehen sind.