Einführung in die Ethik

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2.5.7 FriedensethikFriedensethik

Die FriedensethikFriedensethik wird vielfach zur ökologischen EthikEthikökologische gerechnet, weil vor allem Umweltschützer und Grüne es waren, die nicht nur den FriedenFrieden mit der NaturNatur, sondern – insbesondere in ihren Friedensbewegungen – auch den Frieden der Menschen untereinander (»WeltfriedenFrieden«) auf ihr Panier geschrieben haben. Der Sache nach gehört die FriedensethikFriedensethik jedoch zur politischen Ethik, deren grundlegendes Prinzip das der GerechtigkeitGerechtigkeit ist. Eine die gesamte Menschheit als Solidargemeinschaft umfassende Vorstellung von GerechtigkeitGerechtigkeit, wie sie in den global verbindlichen Menschenrechten ihren Ausdruck gefunden hat, verbietet Waffengewalt und KriegKrieg, H. als Mittel zur Durchsetzung »gerechter« Ziele. In welches Dilemma und in welche Begründungsnot man gerät, wenn ein regionaler Krieg ethisch gerechtfertigt werden soll, hat der Krieg gegen Jugoslawien gezeigt, den man nicht gegen das serbische Volk zu führen vorgab, sondern gegen dessen Diktator.

Im Zeitalter der Atomwaffen und ihres vernichtenden Zerstörungspotentials muss man nach ErnstErnst, W. TUGENDHATTugendhat, E. »Nuklearpazifist« sein (Rationalität und Irrationalität der Friedensbewegung und ihrer Gegner, 10), denn die Alternative »Sein oder Nichtsein« betrifft nunmehr die gesamte Menschheit in unüberbietbarer Radikalität. Die ethischen Vorschläge jedoch, wie der Ost-West-Konflikt entschärft und ein dauerhafter FriedenszustandFrieden erreicht werden kann, sind höchst konträr. Während Franz ALTAlt, F., die Botschaft der Bergpredigt aufgreifend, für »eine Umkehr der Herzen« plädiert (Frieden ist möglich, 29f.), tritt André GLUCKSMANNGlucksmann, A. für eine »Philosophie der Abschreckung« ein.

ALTAlt, F. betont immer wieder: »Die atomare Bedrohung ist eine ökologische Bedrohung der gesamten Schöpfung. Die Atombombe ist die Spitze unseres zivilisatorischen Eisberges« (Frieden ist möglich, 32). Dass es so weit gekommen ist, sieht er als eine Folge der Verherrlichung der technischen Rationalität des Menschen, »der Vergötzung von Vernunft und Wissenschaft« an (ebd., 47). »Unser Verstand muss (daher) wieder bei unseren Emotionen und Intuitionen in die Schule gehen, um Überlebensphantasie, um FriedenFrieden zu lernen« (ebd., 41). Eine fundamentale Umbesinnung ist nötig, eine Umkehr, die »nicht den homo oeconomicus zum Ziel (hat), sondern den homo humanus, den ganzen Menschen« (ebd., 78). Diese Umkehr muss beim einzelnen einsetzen; den ersten Schritt, um dem FriedenFrieden den Boden zu bereiten, muss nach ALT das Individuum tun, indem es sich die Frage stellt:

Wie kann ich dem anderen, der vor mir Angst hat, so wie ich vor ihm Angst habe, seine Angst nehmen? Unser Hauptproblem darf nicht länger sein, wie ich mich vor meinem Feind schütze. Unser Hauptproblem muss werden, wie ich meinen Feind vor mir schütze. Das wäre intelligente Feindesliebe. Wir kommen dem FriedenFrieden nur näher, wenn wir moralische Überheblichkeit ablegen. Wir müssen begreifen, dass unsere bisherige politische Ethik weitgehend eine Zeigefinger-Ethik war, mit der wir immer nur auf das Böse im anderen gezeigt und dabei das Böse in uns übersehen haben. (Ebd., 68)

Für GLUCKSMANNGlucksmann, A. dagegen ist Pazifismus, vor allem die Friedenslehre der »Grünen«, eine Philosophie der Feigheit. Er leitet aus dem Recht des Widerstands seine These von der legitimen Herstellung eines Gleichgewichts des Schreckens ab. »Durch die Gleichsetzung der Ungleichen vor der höchsten Gefahr streift der Knecht sein Knechtsein ab und verweigert sich den Umerziehungsmaßnahmen des großen Bruders« (Philosophie der Abschreckung, 383). Da jeder nur ein Leben zu verlieren und zu verteidigen hat, nämlich das seine, resultiert daraus sein Recht, sich mit allen Mitteln gegen die atomare Bedrohung zur Wehr zu setzen, also auch mit Hilfe der Atombombe, denn: »Die Kernwaffen schützen den FriedenFrieden« (ebd.).

Haben wir das Recht, Frauen, Kinder und Kindeskinder eines ganzen Planeten als Geiseln zu nehmen? Dürfen wir die Zivilbevölkerungen, zu denen wir selbst gehören, mit der Apokalypse bedrohen? Verdient eine Kultur weiterhin diesen Namen, wenn sie, um zu überleben, wissentlich ihre Auslöschung riskiert? Das ist die höchst philosophische, ernsteste und einfachste Frage, die uns von der banalen Aktualität gestellt wird. Die Antwort lautet – was die allzu ruhigen Gewissen auch immer sagen mögen – ja. (Ebd., 388)

Während GLUCKSMANNGlucksmann, A. im Durchgang durch die Geschichte und die Geschichte der Philosophie nachzuweisen strebt, dass der FriedenFrieden immer bewaffnet war und als solcher theoretisch begründet wurde, hält ALTAlt, F. dem entgegen:

Das neue, 2000 Jahre alte Menschenbild der Bergpredigt ist ein Aufruf: Entscheidet euch gegen das Gesetz der GewaltGewalt und Vergeltung für das Gesetz der LiebeLiebe und Vergebung! – Bedenkt, dass ihr Menschen seid, und vergeßt alles andere! Arbeitet an der Überwindung des unmenschlichsten aller Dogmen: dass der Mensch unverbesserlich sei! (Frieden ist möglich, 116)

Wolfgang HUBERHuber, W. und Hans-Richard REUTERReuter, R. halten fest:

Die Angst um das Überleben macht PolitikPolitik in einer neuen Weise zum Thema der Ethik. Freilich kann sich diese Ethik des Politischen nicht mehr darin erschöpfen, den Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität zu begründen und dessen Grenzen zu bestimmen. Vielmehr wird politische Ethik nun unausweichlich zur Kritik der Politik. Den Maßstab dieser Kritik aber bildet das, was heute am notwendigsten und gefährdetsten zugleich ist: der FriedenFrieden. Deshalb ist eine Ethik des Politischen als FriedensethikFriedensethik zu entwerfen. (Friedensethik, 20)

2.5.8 Weitere Spezialethiken; EthikkommissionenEthikkommission

In den letzten Jahren haben sich weitere Spezialethiken herausgebildet, besonders im Zusammenhang mit Berufsfeldern, auf welchen sich im Zuge von bestehenden Machtverhältnissen brisante Probleme entwickelt haben. (Vgl. A. PIEPERPieper, A. / U. THURNHERRThurnherr, U. (Hrsg.): Angewandte Ethik, München 1998) So versucht die TechnikethikTechnikethik, die ethischen Voraussetzungen des Herstellungshandelns zu eruieren und eine Verantwortungsethik für jene Personengruppen zu entwickeln, die durch die Erzeugung technischer Produkte massiv in unsere Lebensverhältnisse eingreifen. Der nicht mehr ohne weiteres kalkulierbare NutzenNutzen weitgehender Eingriffe in die menschliche und die außermenschliche Natur bedarf komplizierter Technikfolgenabschätzungsverfahren, in denen nach bestem Wissen und Gewissen die potentiellen Schäden und Risiken einer Technologie mit ihren erwarteten Vorteilen gegeneinander abgewogen werden müssen. Das technisch Machbare wird auf diese Weise durch das ethisch Wünschenswerte restringiert. (Vgl. H. JONASJonas, H.: Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt 1985; G. ROPOHLRopohl, G.: Technologische Aufklärung, Frankfurt 1991)

Die MedienethikMedienethik beschäftigt sich mit Fragen einer korrekten Information seitens der Journalisten, Redakteure und der übrigen Medienschaffenden, die auf der Basis genauer Recherchen und unvoreingenommener Berichterstattung ihrer Wahrheitspflicht nachkommen sollen. Fingierte Fakten, einseitig selektive Nachrichten, Voyeurismus, manipulative Maßnahmen, um an geheimes Material zu gelangen, tendenziöse Berichte disqualifizieren den Journalismus, da sie eine sachgerechte Meinungsbildung in der Öffentlichkeit verhindern. (Vgl. S. WEISCHENBERGWeischenberg, S.: MedienethikMedienethik. In: PIEPERPieper, A./THURNHERRThurnherr, U. (Hrsg.): Angewandte Ethik, 219ff.) Wie wichtig es ist, medienethisch zwischen Tatsachenbericht, Kommentar und persönlicher Stellungnahme zu unterscheiden, zeigt der regelmäßig auftauchende Vorwurf der „Lügenpresse“. Ein gewisses Misstrauen gegenüber Presseleuten hegte schon NietzscheNietzsche, F.. Er unterstellte ihnen, dass sie sich nicht vom Willen zur Wahrheit, sondern vom Ressentiment leiten ließen: „sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung“ (KSA 4, 63). Für Nietzsche rührte der Frust des Journalisten daher, dass er, „der papierne Sclave des Tages“ (KSA 1, 130), gezwungen ist, Artikel zu schreiben, die keine die Zeit überdauernde große Literatur sind, sondern Texte, die rasch veralten und von niemandem mehr gelesen werden.

Von rechtspopulistischer Seite verbreitet, dient das Hasswort „Lügenpresse“ zur Diffamierung einer Zunft, die es darauf anlege, das Volk zu täuschen und politisch zu beeinflussen durch Verharmlosung, einseitige oder falsche Darstellung von Fakten. Im Nationalsozialismus sah man die Presse in jüdischer Hand, infiltriert durch die marxistische Ideologie. So polemisiert Adolf HitlerHitler, Adolf gegen den Juden und „seine sogenannte Intelligenzpresse“ (gemeint sind insbesondere die „Frankfurter Zeitung“ und das „Berliner Tageblatt“), die unter dem Deckmantel der Pressefreiheit einer „straflosen Volksbelügung und Volksvergiftung“ den Weg bereitet habe. (Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. München 1942, 268)

Mit dem Schmähbild der Lügenpresse kontrastiert aus medienethischer Sicht das Beispiel des „Panama-Skandals“: Ein global operierendes Netzwerk unabhängiger Journalisten hat eine große Zahl über Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen geleiteter illegaler Geldflüsse aufgedeckt und eindrücklich gezeigt, wie die im journalistischen Ethos verankerten Tugenden der Wahrheit und Wahrhaftigkeit kollektiv umgesetzt werden.

Die verschiedenen Spezial- und Berufsethiken treten in EthikkommissionenEthikkommission zueinander in Beziehung, wenn es darum geht, komplexe Sachverhalte, deren Probleme interdisziplinär gelöst werden müssen, aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen und nach ethischen Gesichtspunkten zu beurteilen.

 

Mediziner, Naturwissenschaftler, Techniker, Juristen, Soziologen, Theologen und Politiker sitzen mit Ethikern an einem Tisch, um über die Probleme zu beraten. EthikkommissionenEthikkommission sind der Idee nach nichts Neues. Schon immer wurde in ethisch-politischen Theorien ein unabhängiges Gremium gefordert, welches als Rat der Weisen dafür Sorge tragen sollte, dass das gemeinsame, allgemein verpflichtende EthosEthos in allen Bereichen gesellschaftlicher Praxis seine bindende Kraft ungehindert entfalten kann. Heute sind EthikkommissionenEthikkommission unverzichtbar, weil Individualismus und Pluralismus das EthosEthos fragmentarisiert haben, sodass niemand mehr VerantwortungVerantwortung für das Ganze trägt. Ethiker als Anwälte des Ganzen haben daher die Aufgabe, die partikularen Interessen im Kontext des gesamtgesellschaftlichen Interesses kritisch zu beurteilen.

Der von vielen Menschen weltweit als immer prekärer empfundene Zustand des Systems Erde und die Erfahrung zunehmender Brüchigkeit des sozialen Netzes haben zu einer Sensibilisierung für die VerantwortungslosigkeitVerantwortung von Handlungen und Interaktionen geführt, deren gigantischer NutzenNutzen für die einen mit einem unverhältnismäßig hohen Schaden für die anderen verbunden ist. Der Leidensdruck auf den Menschen und der lebendigen Natur insgesamt hat zugenommen, und nachdem sich auch die Medien verstärkt zum Anwalt der Benachteiligten gemacht haben, ist der Ruf nach Ethik im ausgehenden 20. Jahrhundert immer lauter geworden. Wie lässt sich dieses Verlangen gerade nach Ethik erklären? Leben wir in einer derart morallosen Zeit, dass man sich von den Ethikern als den Fachleuten für moralisches Verhalten Richtlinien erhofft, die zu verantwortungsbewussterem Handeln und damit zu einer Verbesserung der Lebensqualität aller führen? Wird von den Ethikern gar erwartet, dass sie den sich in einem moralfreien Raum wähnenden Akteuren die Leviten lesen? Sind EthikkommissionenEthikkommission überhaupt das geeignete Instrument, um die beklagten Mängel an moralischer Einsicht und ethischer Kompetenz zu beheben? Üben sie nicht letztlich eine bloße Alibifunktion aus?

Ein Blick zurück in die Vergangenheit hilft, diese Fragen zu klären. Gab es früher schon EthikkommissionenEthikkommission – wenn ja, welche Aufgaben hatten sie; wenn nein, warum waren sie nicht nötig? In der griechischen Antike finden sich zwei unterschiedliche Antworten. PLATONPlaton konzipierte sein ideales Staatsmodell als ein Dreiklassensystem in Analogie mit den Seelenteilen: Während der mutige Teil durch das Militär und der begehrliche Teil durch die Ackerbauern und Handwerker repräsentiert wird, personifiziert sich in den Philosophen der vernünftige Teil. Während sich die GerechtigkeitGerechtigkeit der SeeleSeele in einem ausgewogenen Verhältnis der drei Seelenteile unter der Herrschaft der VernunftVernunft darstellt, handeln die Bürger der Polis auf der Folie eines gerechten Interaktionsmusters, wenn jeder so gut wie möglich das seine tut – nämlich seine spezielle TugendTugend der Tapferkeit, Besonnenbeit bzw. Weisheit ausbildet – und damit zum Gelingen des Ganzen beiträgt. PLATONs berühmte These von den Philosophenkönigen (Politeia, 473c–d) fordert an der Spitze des Staates ein hochkarätiges Expertengremium, dessen Mitglieder sich in jahrzehntelanger Ausbildung theoretisch mit der Idee des Guten vertraut gemacht haben und deren Umsetzung in die Praxis zu bewerkstelligen vermögen.

Die Regierungsgeschäfte werden also in PLATONPlatons Staat von einer EthikkommissionEthikkommission geführt, was von PLATON mit der UngerechtigkeitUngerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse und der allgemeinen Sittenverderbnis der bisherigen Herrscher begründet wird. Anstatt das Staatsschiff mit Hilfe der Gestirne sicher durch unruhiges Wasser zu steuern, lassen sie sich von einer betrunkenen Mannschaft beschwatzen, das Steuer aus der Hand zu geben, und überlassen den Kurs einer unkundigen, ziellos navigierenden Meute, deren zersplitterte Interessen das Schiff in den Untergang reißen. (Politeia, 488a–489c) Nur eine EthikkommissionEthikkommission, die sich an bleibenden Werten orientiert und die TugendTugend der GerechtigkeitGerechtigkeit als Kompass benutzt, vermag die vielfältigen Bedürfnisse der Passagiere auf das gemeinsame Interesse aller an einem guten Leben auszurichten und dafür Sorge zu tragen, dass niemand hinsichtlich seiner berechtigten Ansprüche unzulässig bevorzugt oder benachteiligt wird.

Im Staat des ARISTOTELESAristoteles gibt es keine EthikkommissionenEthikkommission. Sie sind überflüssig, weil jeder Bürger der Polis ein zoon politikon (soziales Lebewesen) ist und als solches moralische KompetenzKompetenz, moralische besitzt. Durch Erziehung in ein EthosEthos eingeübt, das ihn dazu befähigt, seinen Handlungen die tradierten Wert- und Normvorstellungen zugrunde zu legen, befindet sich der einzelne bezüglich der allgemein verbindlichen Ziele in einem Konsens mit den Mitgliedern der Gemeinschaft und kann Konflikte selbständig lösen. Zwar ist die Ethik für ARISTOTELES ein wichtiges Aufklärungsinstrument, das dem Handelnden seine Willensbildungsprozesse transparent macht und ihn dazu anleitet, praktische Urteilskraft auszubilden, indem er lernt, wie dem Streben nach dem Guten sowohl im Polisverband als auch im Kontext eines persönlichen Lebensentwurfs Erfolg zuteilwird. Doch weit davon entfernt, die Regierungsvollmacht einer EthikkommissionEthikkommission zu übertragen, gesteht ARISTOTELES den Philosophen sogar politische Abstinenz zu, damit sie fernab von gesellschaftlichen Verpflichtungen ihren Gedanken nachhängen und in der Theoria ihre kontemplative Erfüllung suchen können. (Vgl. Nikomachische Ethik, I,1; X,6–9)

Da nun aber auch ein Ethiker, obwohl er bereits Lebensklugheit und praktische Urteilskraft besitzt, sich bei der Anwendung seiner moralischen Prinzipien trotzdem irren kann, wurde in der Folge die ethische Führung einem Rat der Weisen, dessen Mitglieder sich gegenseitig kontrollieren, übertragen. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Renaissance-Utopien, die allesamt als Versuche einer Ethisierung der sozialen und politischen Verhältnisse begriffen werden können. In Francis BACONBacon, F.s Nova Atlantis bildet das »Haus Salomons« bzw. die »Gesellschaft der Werke der sechs Tage« den Rat der Weisen, der Parlament, Wissenschaftsverband, religiöser Orden und EthikkommisssionEthikkommisssion in einem ist. Diese Bruderschaft von Weisen legitimiert ihre Doppelfunktion als Wissenschaftler und Politiker damit, dass sie einen göttlichen Auftrag erfüllt, indem sie auf theoretischem Gebiet »die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der NaturNatur« erforscht, um »des wahren und inneren Wesens aller Dinge« teilhaftig zu werden (Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, Reinbek 1960, 205, 194), und im praktisch-sozialen Bereich eine auf dem Prinzip der HumanitätHumanität beruhende patriarchale Gesellschaftsordnung zu bewahren. Wissenschaftliches und politisches Ethos haben ihre Wurzel in der Kommunikation mit dem Schöpfergott, dessen Absichten durch Entzifferung der Naturgesetze aufgedeckt werden und dessen Kreativität durch technische Erzeugung einer zweiten NaturNatur mittels menschlicher Erfindungen nachgeahmt wird, während sich in der Familienstruktur, insbesondere im Kinderreichtum die göttliche Zeugungskraft widerspiegelt. Als EthikkommissionEthikkommission fungiert der Rat der Weisen, wenn er darüber entscheidet, ob brisante Forschungsergebnisse wegen ihrer potentiellen Gefährlichkeit der Öffentlichkeit vorenthalten werden sollen. »Auch ist es bei uns üblich, genau zu erwägen, was von unseren Erfindungen und Versuchsergebnissen zu veröffentlichen angebracht ist, was dagegen nicht. Ja, wir verpflichten uns sogar alle durch einen Eid, das geheimzuhalten, was wir geheimzuhalten beschlossen haben.« (Ebd., 214)

Noch enger ist die Verschränkung von göttlicher Persönlichkeits- und menschlicher Interaktionsstruktur in Tommaso CAMPANELLACampanella, T.s Sonnenstaat auf der Insel Bensalem. Dort repräsentieren drei hohe Staatsbeamte – Pon (für potentia = Macht), Mor (für amor = Liebe) und Sin (für sapientia = Weisheit) – Gottvater, Gottsohn und den Heiligen Geist. Die Einheit des Dreierverbandes wird durch eine als Sol oder Metaphysikus bezeichnete Person gewährleistet, deren Wissen und Klugheit so umfassend sind, dass sie als Stellvertreter der Idee des Guten imstande ist, die drei Kompetenzbereiche (Regierung/Kriegsführung, Erziehung/Gemeinschaft, Wissenschaft/Bildung) so miteinander in Einklang zu bringen, dass der Staat als ein sinnvoll gegliedertes Ganzes erscheint – vergleichbar einem Organismus, dessen Teile eine Funktionseinheit bilden. Dieser Gesellschaftskörper ist durch und durch ethisiert, insofern nicht nur der ›Kopf‹, sondern auch der ›Leib‹ als EthikkommissionEthikkommission konstruiert ist. »Soviele Namen wir für die Tugenden haben, soviele Behörden gibt es bei [den Bürgern von Bensalem; sie haben also ein Amt für] Großmut, Tapferkeit, Keuschheit, Freigebigkeit, richterliche und bürgerliche GerechtigkeitGerechtigkeit, Gewissenhaftigkeit, WahrheitWahrheit, Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Heiterkeit, Fleiß, Nüchternheit usw.« (Sonnenstaat, in: Der utopische Staat, 124) Von der Spitze bis zur Basis stellt sich der Sonnenstaat als personifizierter Moralkodex dar, in welchem jedes Glied für die ethischen Belange seines Regelkreises zuständig ist, wobei die normative Kraft der TugendTugend als solcher gemeinschaftsbildend wirkt und den Zusammenhalt des Ganzen gewährleistet.

In den utopischen Konstrukten der politischen Philosophie der Antike und der frühen Neuzeit wurden demnach EthikkommissionenEthikkommission als ein unbedingtes Erfordernis erachtet, um der moralischen Verrohung und der Sittenverderbnis vorzubeugen. Im Idealfall funktioniert das ethische System ›bottom up‹, dann nämlich, wenn jeder Bürger aufgrund seiner moralischen Kompetenz ein vollwertiges Mitglied der gesamtgesellschaftlichen EthikkommissionEthikkommission ist. Andernfalls muss die ethische Führung ›top down‹ durch eine EthikkommissionEthikkommission erfolgen, die sich entweder aus den höchsten politischen Amtsträgern zusammensetzt oder neben diesen eine eigene Instanz bildet, die die gesamtgesellschaftliche Praxis aus normativer Perspektive beurteilt. Historisch wurden die Aufgaben einer EthikkommissionEthikkommission vom Senat, dem Rat der Alten wahrgenommen, deren Autorität sich auf langjährige Erfahrung und praktische Urteilskraft stützte.

In der Neuzeit wandelte sich im Zuge der Verselbständigung der Naturwissenschaften mit dem Weltbild auch das Menschenbild. Der MenschMensch begreift sich von nun an nicht mehr vorrangig als soziales Lebewesen, sondern als autonomes Subjekt, das ein alle verpflichtendes vorgegebenes GutesGute, das nicht mehr akzeptiert, sondern sein GutesGute, das aus eigener Kompetenz allererst hervorbringt. Infolgedessen zerfällt der soziale Organismus in Individuen, die unter Berufung auf das Prinzip der FreiheitFreiheit ihre eigenen NormenNorm und WerteWert schaffen. An die Stelle der bindenden Kraft eines gemeinsamen EthosEthos tritt entweder das Kantische Universalisierungsprinzip, das in Gestalt des kategorischen Imperativs die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse auf Kosten der Gemeinschaft verbietet, oder das utilitaristische Nutzenprinzip, das im Sinne der Formel vom größten GlückGlück(seligkeit) der größten Zahl die Verfolgung subjektiver Interessen von der Steigerung nicht nur des eigenen, sondern auch fremden GlücksGlück(seligkeit) abhängig macht.

Die Kehrseite der mit der AutonomisierungAutonomie des Subjekts einhergehenden Individualisierung und Interessenpluralisierung ist der Verlust an Gemeinschaftswerten, der dem EgoismusEgoismus/Selbstliebe Vorschub leistet. Der Autoritätszerfall auch der Religionen, die ihre Mitglieder im religiösen EthosEthos eines Gottesglaubens zusammenhielten und in den klassischen Theorien das normative Fundament des gesamten Staatswesens bildeten, hat das solidarische Netz noch grobmaschiger gemacht, sodass im Grunde niemand sich mehr für die anderen verantwortlich fühlt. Zwar werden die FreiheitsrechteFreiheit mit beträchtlichem Pathos als MenschenrechteMenschenrechte hochgehalten, aber die Tendenz, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, Hauptsache, man selbst bleibt in der Ausführung seines eigenen Lebensentwurfs ungestört, nimmt zu und gibt sich unter dem Deckmantel der Toleranz sogar einen moralischen Anschein.

Hatte KANTKant, I. »AutonomieAutonomie« noch als eine ethische Kategorie aufgefasst, der gemäß der Gebrauch der FreiheitFreiheit an selbst gesetzte Regeln gebunden ist, die jedes andere Individuum prinzipiell muss bejahen können, wodurch die Instrumentalisierung anderer Menschen moralisch ausgeschlossen wird, so gelten heute diejenigen als autonom, die sich politisch und wirtschaftlich durchzusetzen vermögen. Wo die Wertvorstellungen der einen mit denen der anderen konkurrieren, wird nicht mehr moralische Charakterstärke, sondern schieres Durchsetzungsvermögen als Leistung ausgezeichnet. Führungskraft, Effizienz, zweckrationales und strategisches Know-how avancieren im Zeitalter der ›freien‹ Marktwirtschaft zu quasi-moralischen Gütesiegeln, denen das sportlich-markige Etikett Fairplay angehängt wird, um zu verschleiern, dass der individuelle EgoismusEgoismus/Selbstliebe im Verbund mit Gruppen- und nationalen EgoismenEgoismus/Selbstliebe die Menschheit wieder dem von HOBBESHobbes, Th. beschriebenen Zustand des Krieges aller gegen alle annähert.

 

Das ethische Universalisierungsprinzip ist durch das ökonomische Globalisierungsprinzip ersetzt worden. Dabei sind nicht nur diejenigen auf der Strecke geblieben, die im Rivalitätskampf keine Chance haben, sondern auch die MoralMoral wurde vielfach als unnötiger Ballast über Bord geworfen, damit der Gewinnmaximierungszug desto schneller über alle Grenzen hinweg durch die verschiedenen Dimensionen unserer Lebenswelt sausen kann. In dieser Situation haben es EthikkommissionenEthikkommission schwer, weil mit schwindender Moral auch die Ethik auf verlorenem Posten steht (so, wie ohne Religion die Theologie überflüssig wird). Die Ethik vermag keine MoralMoral zu erzeugen, sie ist ganz im Gegenteil auf ein Moralbewusstsein angewiesen, sei es auch noch so schwach ausgeprägt. Nur unter der Voraussetzung, dass eine grundsätzliche Bereitschaft zu ›gutem‹ Handeln besteht, konnte in den klassisch-utopischen Konzepten dem Ideal eines Rates der Weisen eine Funktion zugeschrieben werden: die Menschen zwar nicht gut, sehr wohl aber besser zu machen, indem sie über die Bedingungen und den Sinn guten Handelns aufgeklärt wurden. Auf diese Weise sollten sie in den Stand versetzt werden, aus eigener Kompetenz Entscheidungen zu treffen, d.h. aus Einsicht in die Verbindlichkeit des gemeinsamen EthosEthos ihre Praxis selbstverantwortlich zu strukturieren und nicht am Gängelband der Tradition.

Wenn der Ruf nach Ethik heute unüberhörbar ist, wenn in fast allen Praxisfeldern EthikkommissionenEthikkommission aus dem Boden sprießen, um diesem Ruf Folge zu leisten, so scheint dies ein Indiz dafür zu sein, dass das Moralbewusstsein noch nicht völlig verdrängt wurde, auch wenn es vielfach als Relikt eines antiquierten Menschenbildes verspottet wird, das sich die Schlechtweg- und Zukurzgekommenen zu eigen gemacht haben, um sich durch ›humanistischen Kitsch‹ dafür schadlos zu halten, dass sie auf der Verliererseite stehen. EthikkommissionenEthikkommission sind heute nötiger denn je, aber man darf ihre Aufgabe nicht überschätzen. Sie können keine moralische Einstellung bewirken, keinen guten Willen hervorbringen, kein EthosEthos erzeugen. AutonomieAutonomie als die Errungenschaft des modernen Menschen respektierend, haben sie dafür Sorge zu tragen, dass über der Verfolgung partikularer Interessen das Ganze nicht aus dem Blick gerät. Die Vertreter der Ethik sind Platzhalter und Anwälte für das Ganze, für das niemand mehr VerantwortungVerantwortung trägt, wo VerantwortungVerantwortung parzelliert und nur innerhalb des jeweiligen Kompetenzbereichs übernommen wird. Die in den EthikkommissionenEthikkommission einsitzenden Ethiker müssen daher stets die mit dem FreiheitsprinzipFreiheit verbundenen Verpflichtungen im Auge behalten, wenn es darum geht, Gruppeninteressen hinsichtlich ihrer sozialen Verträglichkeit zu evaluieren. Was immer unter politischem, wirtschaftlichem, wissenschaftlichem, technischem oder medizinischem Aspekt wünschenswert sein mag, bedarf selbst dann, wenn es durch das jeweilige BerufsethosEthos legitimiert ist, einer ethischen Problematisierung, in deren Verlauf ein Projekt an der Norm eines guten Lebens für alle überprüft und nur dann gut geheißen wird, wenn es nicht gegen die MenschenwürdeMenschenwürde als jenen unverrechenbaren, unverlierbaren Wert verstößt, der jedem menschlichen Individuum als Mitglied der Gattung Mensch diskussionslos zuzuerkennen ist. Der Sinn von EthikkommissionenEthikkommission kann jedoch nicht der sein, dass man die Moral an Experten delegiert und sich damit ein gutes GewissenGewissen verschafft. MoralitätMoralität/Sittlichkeit kann überhaupt nicht delegiert, das GewissenGewissen kann nicht ausgelagert werden, sondern seinem Anspruch, sich menschlich zu verhalten, muss jede Person selbstverantwortlich Folge leisten.

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