Angela Autsch

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Der Vater schüttelt über so viel Schwung seiner Tochter den Kopf und sagt:

„Ja, Marie, das machst du. Jetzt wird bald Frühling. Da kannst du auch die zwei Kilometer gut zu Fuß nach Finnentrop gehen.“

Marie blickt zu ihrer Mama. Es gibt ihr einen Stich, denn sie sieht zum ersten Mal ganz bewusst, wie mager und abgezehrt die Mama aussieht.

„Mama, wirst du den Haushalt ohne mich schaffen?“

Die Mama wischt sich mit der Kochschürze den Schweiß von der Stirn und sagt:

„Ach, Marie, du bist so aufmerksam. Manches Mal wird mir wirklich alles zu viel und jetzt im Frühjahr plagt mich wieder vermehrt das Rheuma.“

„Vielleicht solltest du doch zu einem Arzt gehen, Amalia“, sagt der Vater.

„Das kostet doch Geld und du weißt, August, dass wir so schon schwer über die Runden kommen.“

„Mama, dann verschiebe ich das Fahrrad auf später und du kannst zum Arzt gehen.“

„Ja, Marie, doch zuerst bewirbst du dich für diese Stelle. Gertrude und Amalia können mir auch noch helfen und Elisabeth hat ebenfalls ab und zu frei. Die kleinen Lausbuben sind außerdem aus dem Ärgsten draußen.“

Zwei Tage später geht Marie zum ersten Mal in ihrer besten Kleidung und mit ihren einzigen guten Schuhen zu Fuß von Bamenohl nach Finnentrop. Das Herz klopft laut, als sie das große Haus und daneben die Auslage mit den schönen Kleidern sieht. Sie läutet bei der Hausglocke. Ein Mann macht ihr die Türe auf und sagt:

„Grüß Sie Gott, Sie sind sicher Fräulein Maria Cäcilia Autsch?“

„Ja, Sie können Marie zu mir sagen.“

„Kommen Sie, gehen wir hoch, meine Frau erwartet Sie bereits.“

Sie gehen die breite Treppe mit dem schmiedeeisernen Geländer hinauf und Herr Brögger ruft:

„Ludmilla, Fräulein Autsch ist da!“

In der Wohnungstür hängen zwei kleine Buben am Rockzipfel ihrer Mutter. Dahinter steht ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit kurz geschnittenen Haaren. Marie muss lächeln, denn in Bamenohl tragen die Mädchen normalerweise lange Haare, die sie zu Zöpfen flechten.

Marie verbeugt sich vor der Hausfrau. Diese reicht ihr die Hand und sagt:

„Kommen Sie herein, Fräulein Autsch. Fühlen Sie sich wie daheim. Ich bin sehr froh, dass Sie mir bei den Kindern helfen werden. Wie Sie sehen, hat sich das nächste Kind bereits angemeldet.“

Marie lächelt und sagt:

„So gut ich kann, werde ich Sie unterstützen. Mit Kindern umzugehen, ist mir nicht neu. Ich habe noch zwei kleinere Brüder zuhause.“

Die achtjährige Tochter nimmt Marie bei der Hand und zeigt ihr das große Kinderzimmer. Marie ist über das schöne Zimmer erstaunt und fragt:

„Schläfst du hier ganz alleine?“

„Ja, mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester schlafen im Zimmer neben den Eltern, weil sie nachts öfters aufwachen. Wenn das Baby kommt, wird meine kleine Schwester Rosalinde sicher bei mir schlafen. Und wie heißt du eigentlich?“

„Ich bin Marie, du darfst du zu mir sagen.“

„Ich heiße Theresia, nach der heiligen Thérèse von Lisieux. Kennst du die Geschichte von der heiligen Thérèse?“

Marie sieht Theresia erstaunt an und sagt:

„Ja, unser Vater hat uns Kindern am Abend oft Heiligengeschichten erzählt oder vorgelesen. Die Geschichte von der heiligen Thérèse von Lisieux gefällt mir besonders gut. Es ist noch nicht lange her, seit sie gelebt hat. Drei Jahre nachdem sie starb, bin ich geboren.“

„Marie, bleibst du sicher bei uns? Erzählst du mir die Geschichte von Thérèse und noch viele andere?“

Marie ist gerührt, schließt Theresia in ihre Arme, der Bann ist gebrochen. Die Eltern sind erstaunt, wie schnell sich Marie mit Theresia vertraut machen konnte, denn ansonsten ist sie Fremden gegenüber sehr zurückhaltend.

Am Abend, als Marie zu Fuß nach Hause geht, ist sie sehr glücklich. Sie kommt bei der Haustüre herein und ruft:

„Mama, ich habe die Stelle bei den Bröggers bekommen. Morgen kann ich bei ihnen anfangen zu arbeiten. Sie haben drei Kinder und das vierte ist unterwegs. Herr und Frau Brögger sind sehr nett.“

Mit einem weinenden und einem lachenden Auge schließt die Mama Marie in die Arme und sagt:

„Du wirst mir zwar abgehen, doch du wirst deinen Weg gehen.“

Marie wird es schwer ums Herz. Sie läuft in ihre Kammer und kniet sich vor ihren Hausaltar. Es würgt sie und die Tränen rinnen über ihre Wangen. Plötzlich weiß sie, warum, und sagt ganz leise:

„Ja, ich habe dir bei der Erstkommunion versprochen, dass ich ins Kloster gehe, aber weißt du, noch ist die Zeit dazu nicht reif. Jetzt braucht mich diese Familie, vor allem die kleine Theresia und meine Familie braucht das Geld, das ich verdiene.“

Der Vater kommt von der Arbeit und sieht Marie erwartungsvoll an.

Sie sagt: „Ja, ich fange morgen zu arbeiten an. Nun habt ihr es auch leichter.“

„Aber Marie, bist du dann nicht mehr daheim, so wie August?“, fragen sie fast gleichzeitig ihre Brüder Wilhelm und Franz.

„Nein, ich komme jeden Abend heim. August kommt erst wieder, wenn der Krieg zu Ende ist.“

Für Marie beginnt eine spannende Zeit. Sie gewinnt durch ihre fröhliche Art bald das Vertrauen der zwei kleineren Kinder. Theresia fällt es sichtlich schwer, am Morgen, wenn Marie gerade gekommen ist, die Schultasche zu packen und in die Schule zu gehen. Doch Marie tröstet sie und sagt:

„Weißt du, ich kann dir nicht Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen. Das lernst du alles in der Schule. Doch ich erzähle dir, wenn du magst, gerne von Jesus.“

Bevor Theresia die Wohnung verlässt, sagt sie noch zu Marie:

„Versprich mir, dass du mir heute am Abend, bevor du nach Hause gehst, die Geschichte von der heiligen Thérèse erzählst.“

„Versprochen!“

Lachend läuft Theresia die Stiege hinunter und Frau Brögger sagt zu Marie:

„Wie schaffst du es bloß, Theresia immer wieder zu motivieren, in die Schule zu gehen?“

Marie lächelt und sagt, dass sie später ein Versprechen, das sie Theresia gegeben hat, einhalten muss. Abends, als die zwei kleinen Kinder bereits schlafen, geht Marie in Theresias Zimmer. Sie freut sich sehr und sagt:

„Toll! Hast du noch Zeit für die Geschichte von Thérèse?“

„Ja, natürlich. Komm, leg dich ins Bett, ich setze mich neben dich.“

„Die kleine Thérèse von Lisieux ist 1873 in Frankreich geboren. Meine Mama ist nur sieben Jahre älter als sie und deine Mama ist nur ein paar jünger, als Thérèse heute wäre. Sie war die Jüngste und hatte vier ältere Schwestern, außerdem vier ältere Brüder, die alle als kleine Buben gestorben sind. Als Therese vier Jahre alt war, starb auch ihre Mama. Der Papa zog mit seinen fünf Töchtern nach Lisieux. Bereits als kleines Mädchen hatte Thérèse Jesus sehr lieb. Sie glaubte fest daran, dass ihre Mama und ihre vier Brüder im Himmel sind und gut auf sie aufpassen. Als sie 14 Jahre alt war, betete sie für einen Mann, der einen anderen Mann getötet hatte und zum Tode verurteilt wurde, dass er doch noch vor seinem Tod an Gott glauben möge. Dieser Mann hat wirklich vor seinem Tod Gott um Verzeihung gebeten und zu einem Priester gesagt, dass es ihm leidtut, was er alles falsch gemacht hat.

Mit 15 Jahren wollte Thérèse in Lisieux ins Kloster gehen, doch der Bischof sagte, dass dies noch zu früh sei.“

Während Marie dies erzählt, muss sie mit den Tränen kämpfen und Theresia fragt sie:

„Warum weinst du, Marie?“

Marie streicht ihr über den Kopf und sagt leise:

„Weißt du, ich habe bei meiner Erstkommunion Jesus auch versprochen, dass ich ins Kloster gehe.“

„Aber Marie, du bleibst doch bei uns, oder?“

„Ja, Schätzchen, jetzt bleibe ich bei euch. Deine Mama braucht mich, denn bald kommt das Baby.“

„Erzähl weiter, Marie, was mit Thérèse passiert ist.“

„Als sie mit 16 Jahren mit einer Pilgerfahrt nach Rom fuhr, fragte Thérèse sogar den Papst, er hieß Leo, ob sie ins Kloster gehen darf. Doch dieser sagte zu ihr, dass der Bischof von Lisieux damit einverstanden sein muss. Als Thérèse von Rom heimkam, erlaubte ihr der Bischof, ins Kloster zu gehen. Thérèse betete oft für andere Menschen und viele wurden durch ihr Gebet gesund. Ihre Oberin sagte sogar, dass sie alles, was sie bisher erlebt hat, aufschreiben müsse. Thérèse wurde selber sehr krank. Sie fragte nie, warum sie so früh sterben müsse, oder ob sie Gott etwa gar strafen wolle, was viele Menschen damals noch glaubten. Sie war überzeugt, dass Gott alle Menschen gerne mag, auch wenn sie nicht immer gut gelebt haben. Die Menschen brauchen nur auf Gott zu vertrauen und zu versuchen, mit jedem Menschen gut zu sein, ganz gleich, woher er oder sie kommt. Thérèse von Lisieux wurde nur 23 Jahre alt.“

Bei ihren letzten Worten blickt Marie Theresia an und sieht, dass sie eingeschlafen ist. Sie streicht ihr noch einmal über den Kopf und macht ihr das Kreuz auf die Stirn.


Noch weiß Marie nicht, wie oft sie im KZ in Auschwitz vielen Sterbenden die Geschichte der kleinen Thérèse von Lisieux erzählen wird und diese Menschen Trost darin finden.

Thérèse Erkenntnis, dass alles ein Geschenk, also Gnade ist und auch die Gerechtigkeit Gottes mit Liebe „umkleidet“ ist, wird für viele in der Hölle von Auschwitz ein Trost sein. Thérèse von Lisieux wird als Karmeliterin mit braunem Kleid, weißem Mantel und schwarzem Schleier abgebildet. Sie hält einen Strauß Rosen in den Armen. Vor ihrem Tod versprach sie, den Mitschwestern vom Himmel Rosen auf die Erde zu streuen.

Sie war ein großes Vorbild für Marie, die spätere Schwester Angela.

 

Marie steht auf und verlässt so leise wie möglich Theresias Zimmer. Im Gang begegnet ihr Frau Brögger und sagt:

„Marie, seit du bei uns bist, ist Theresia wie ausgewechselt. Ich bin sehr froh darüber. Die Kleinen haben dich ebenfalls liebgewonnen. Das ist für mich sehr beruhigend, denn in sechs Wochen soll ja das Baby kommen.“

„Danke, Frau Brögger, ich bin sehr gerne bei Ihnen und auch ich mag die Kinder gerne. Jetzt mache ich mich auf den Nachhauseweg, damit ich, bevor die Dunkelheit hereinbricht, heimkomme.“

Schneller als sie glaubt wird es Nacht. Wie froh ist Marie, als endlich die ersten Lichter von Bamenohl zu sehen sind. Die Eltern sitzen noch beim Küchentisch.

„Marie, du bist heute spät dran. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

„Wisst ihr, ich hatte Theresia versprochen, vor dem Schlafengehen die Geschichte der heiligen Thérèse von Lisieux zu erzählen.“

Der Vater muss lächeln. Wie oft hatte er den eigenen Kindern Heiligengeschichten vorgelesen, deshalb sagt er:

„Marie, du hast dir sicher diese Geschichten am besten von deinen Geschwistern gemerkt.“

Marie lächelt. Sie blickt ihre Mama an. Ihr Lächeln erstarrt. Seit sie bei den Bröggers ist, hat sie ihre Mutter nie mehr so genau betrachtet. Sie sieht, dass diese stark an Gewicht verloren hat.

„Mama, geht es dir nicht gut?“

Amalia versucht zu lächeln, doch es gelingt ihr nicht so recht.

„Marie, ich glaube, dass mir etwas am Herzen fehlt. Ich fühle mich sehr erschöpft.“

„Mama, vielleicht kommt die Müdigkeit auch vom Rheuma? Und wir sind sieben Kinder, du sorgst so gut für uns! Meine Chefin bekommt erst das vierte Kind. Sie ist auch oft müde, obwohl sie eine Putzfrau und mich für die Kinder hat.“

Der Mama rinnen die Tränen über ihre Wangen, sie schluchzt und sagt:

„Aber Marie, ich bin noch nicht einmal 50 Jahre alt und fühle mich schon so verbraucht.“

„Amalia, du hast so viel geleistet und machst immer noch viel. Ich werde mit Gertrude reden, damit sie noch ein bis zwei Jahre daheim bleibt, um dir zu helfen“, meint August. Dankbar sieht Amalia ihren Mann an.

Auch Marie versucht, ihre Mutter zu trösten: „Ich werde am Abend auch wieder pünktlicher heimkommen. Heute hat mich Herr Brögger gefragt, ob ich, wenn mit dem Baby alles gut geht, bei ihm im Geschäft eine Lehre als Verkäuferin anfange. Sie nehmen dann ein anderes Kindermädchen.“

Die Eltern freuen sich darüber und die Mama sagt:

„Marie, du bist begabt und liebenswert. Einen Lehrberuf zu erlernen ist für ein Mädchen schon etwas Besonderes. Doch nun sagen wir Gott danke für alles und gehen schlafen.“

Am 15. April 1915 beginnt Marie ihre Lehre. Vorher muss sie Theresia versprechen, dass sie in der Mittagszeit immer in die Wohnung kommt. Frau Brögger drückt ihr auch noch schnell das Baby in den Arm und sagt:

„Ja, Marie, du isst bei uns zu Mittag, die Kinder mögen dich so gerne und das Baby soll dich ja auch kennenlernen.“

Marie bedankt sich, läuft die Treppe hinunter und betritt zum ersten Mal die Firma Bischoff/Brögger.


Ich sitze am Schreibtisch

draußen fällt Schnee

mein Blick fällt

auf das Bild

von Schwester Angela

auf meinem Schreibtisch –

ich stelle mir vor

wie sie zum ersten Mal

die vielen Kleider

im Geschäft sah –

ein junges Mädchen

aus einfachem Haus

mit viel Liebe

für die Menschen

in ihrem Innersten

eine tiefe Sehnsucht


Herr Brögger stellt Marie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor und sagt:

„Das Fräulein Marie fängt heute bei uns die Verkäuferinnenlehre an. Ich bitte Sie, ihr wohlwollend zur Seite zu stehen und ihr alle notwendigen Dinge zu erklären. Sie war ein halbes Jahr zur vollsten Zufriedenheit unser Kindermädchen. Also, viel Glück bei uns, Marie!“

Die Mitarbeitenden reichen Marie die Hand. Mit ihrem warmen Lächeln findet sie sofort Zutrauen. Eine langjährige Mitarbeiterin führt sie durch das Geschäft und die Lagerräume. Marie ist überrascht von der Größe des Betriebes. Noch nie hat sie so viele Kleider und Anzüge gesehen.

Eine spannende Zeit beginnt. Durch ihr liebenswertes, fröhliches Wesen ist sie sowohl bei Kolleginnen und Kollegen als auch bei der Kundschaft beliebt.

Marie freut sich jeden Tag auf die Mittagszeit. Theresia empfängt sie bereits an der Wohnungstüre und erzählt Marie ihre Fortschritte, aber auch ihre kleineren und größeren Probleme mit ihren Freundinnen. Auch Theresias kleinere Geschwister machen ihre Späße mit Marie. Bald streckt ihr auch das Baby seine Ärmchen entgegen.

Gegen Ende ihrer Lehrzeit erfüllt sich Marie ihren lang gehegten Wunsch und kauft sich ein Fahrrad. Laut singend fährt sie am Abend von Finnentrop nach Bamenohl. Ihre zwei jüngeren Brüder, die inzwischen 17 und 13 Jahre alt sind, sehen Marie schon von weitem und laufen ihr entgegen. Das ist ein Hallo! Gleich wollen sie das Radfahren ausprobieren. Doch Wilhelm stürzt mit dem Fahrrad und schürft sich die Hände auf. Auch bei Franz gelingt das Fahren nicht sofort. Lachend kommen alle drei zum Haus. Inzwischen ist Amalia ebenfalls im Dienst. Nur Gertrud ist daheim geblieben, da sich Mamas Gesundheitszustand immer mehr verschlechtert hat.

Beide kommen vors Haus und bewundern das Fahrrad von Marie.

„Stellt euch vor, Herr Brögger hat mir die Hälfte bezahlt, weil ich trotz meines Berufes immer bei seinen Kindern aushelfe und ihnen, bevor ich heimfahre, Geschichten erzähle“, sprudelt es aus Marie heraus.

Inzwischen ist Frau Brögger mit dem fünften Kind schwanger. Auch wenn es am Abend bei der Familie noch viel zu tun gäbe, nimmt sich Marie vor, jetzt mit dem Rad früher nach Hause zu kommen, und sagt das auch Mama und Gertrud.

Die Mama schüttelt zweifelnd den Kopf.

„Mama, was ist?“, fragt Marie.

„Der Vater kommt jetzt bald nach Hause und will mit uns reden.“

Fast wäre die Freude über Maries neues Fahrrad verflogen, denn alle spüren, dass es etwas Ernstes sein muss, was der Vater zu besprechen hat. Marie wagt noch eine Frage:

„Mama, ist etwas mit August?“

Die Mama schüttelt den Kopf und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

Inzwischen sind die großen Schwestern und der Vater von der Arbeit heimgekommen. Ein betretenes Schweigen macht sich um den Küchentisch breit. Nach dem gemeinsamen Tischgebet und dem einfachen Abendessen räuspert sich der Vater und sagt:

„Ihr wisst, dass der Steinbruch bereits seit zwei Jahren offiziell geschlossen ist und ich trotzdem bis jetzt weiter dort arbeiten konnte. Doch nun ist es damit vorbei. Durch den langen Krieg gibt es praktisch keine Aufträge mehr und die Firma wird nun ganz geschlossen. Die Mitarbeiter werden alle abgebaut.“ Der Vater kämpft mit den Tränen, als er sagt:

„Wir müssen bis Anfang April unser Haus aufgeben und wir werden nach Heinsberg ziehen.“

„Aber warum müssen wir so weit wegziehen?“, rufen alle durcheinander.

Die Mama mischt sich ins Gespräch ein und sagt:

„Ihr wisst ja, dass ich von Heinsberg stamme. Wir haben dort auch schon ein paar Mal Verwandte besucht. In Heinsberg finden wir leichter eine Unterkunft und der Vater eine Arbeit.“

„Dann sehen wir uns nur noch an meinen freien Tagen“, wirft Elisabeth, die in Bamenohl arbeitet, ein.

„Und ich habe mir ein so schönes Fahrrad gekauft. Ich wollte damit jeden Morgen nach Finnentrop und am Abend wieder heimfahren“, sagt Marie traurig.

„Wir haben keine andere Wahl“, erwidert der Vater. „Ich habe mich bereits erkundigt und bekomme sehr wahrscheinlich bei der Bahn eine Arbeit. Eine Wohnung habe ich ebenfalls in Aussicht.“

Ein geschäftiger Monat beginnt. Durch die viele Arbeit, die das Auflösen des Haushaltes mit sich bringt, bleibt wenig Zeit für Traurigkeit. Marie kommt jeden Abend etwas früher mit dem Fahrrad heim und hilft beim Zusammenpacken. Schnell ist der 3. April 1918 da. Die Familie verabschiedet sich bei all den lieben Menschen, mit denen sie so viele Jahre im Dorf zusammenlebten. Bei den großen Töchtern fließen besonders viele Tränen, denn sie müssen sich von Freunden trennen, bei denen das eigene Herz auch ab und zu höherschlägt. Heinsberg ist für zärtliche Annäherungen zu weit entfernt.

Am Abend des nächsten Tags steht die Familie vor ihrer neuen Unterkunft. Es ist ein altes, strohbedecktes Bauernhaus ganz unten am Bach. Sozialer Aufstieg ist es keiner, denn im Haus wohnen noch zwei weitere Familien. Nach dem anfänglichen Schrecken der bereits erwachsenen Kinder über diese einfachen Wohnverhältnisse hält der 13-jährige Franz gleich Ausschau, ob es bei den zwei Familien auch Buben gibt. Doch bald lebt sich die Familie ein. Hauptsache ist, dass der Vater bei der Bahn untergekommen ist.

Am Wochenende kommt Marie zum ersten Mal mit dem Zug nach Heinsberg. Obwohl es schon Mitte April ist, ist es am Bach kühl, feucht und schattig.

„Mama, du musst hier sehr gut mit deinem Rheuma und deinen Herzproblemen auf dich aufpassen. Heize dir immer den Herd in der Küche ein“, sind die ersten Worte von Marie, als sie ihre schmächtige Mama sieht.

„Es geht schon, Marie. Wir können auf der Anhöhe einen Acker für den Gemüseanbau verwenden. Dort ist es sehr sonnig. Es wird mir guttun.“

Marie erzählt, dass sie bei einem Werkmeister der Firma Bischoff/Brögger ein Zimmer gemietet hat:

„Mama, dort gibt es auch zwei Mädchen. Sie sind sehr nett zu mir. Auch ihre Mama ist freundlich. Ich fühle mich sehr wohl.“

Marie verschweigt, dass sie nun abends nach der Arbeit wieder länger Frau Brögger hilft, denn nach der Geburt ihres fünften Kindes ist sie sehr geschwächt. Theresia braucht ebenfalls noch den Beistand von Marie, da sie als Älteste in der emotionalen Zuwendung oft zu kurz kommt. Wenn Marie am Wochenende nicht nach Heinsberg fährt, gönnt sie sich am Sonntag ab und zu eine Radtour rund um Finnentrop. Nach dem Sonntagsgottesdienst kann sie so für die Arbeitswoche auftanken.

An einem wolkenlosen Sommersonntag hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich:

„Marie? Du bist doch Marie aus unserer Klasse. Schau, ich habe mir ebenfalls ein Fahrrad gekauft.“

Der junge Mann ist inzwischen neben Marie angekommen und lacht:

„Ja, klar. Du bist die Marie, du hast ein ganz schönes Tempo darauf.“

Beide begrüßen einander und lachen, weil sie sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben. Eine Weile fahren sie lachend und schwatzend nebeneinander her. Bei einer Kreuzung trennen sich ihre Wege.

„Sehen wir uns wieder, Marie?“

„Ja, vielleicht. Es war eine feine Radfahrt mit dir.“

Dann, im Spätherbst, gibt es nur noch ein Thema in der Firma, in der Marie ihre Lehre absolviert, und zwar, dass der Krieg bald zu Ende sei. Auch ist bis Finnentrop durchgedrungen, dass die Marinesoldaten auf verschiedenen Schiffen den Aufstand proben und nicht mehr die Befehle ihrer Oberen ausführen wollen. Marie bekommt Angst um ihren Bruder und betet noch mehr als sonst, dass die Gottesmutter ihn und alle beschützen möge, damit nicht viele noch unnötig sterben müssen.

Am 11. 11. 1918 beendet der Waffenstillstand von Compiègne den Ersten Weltkrieg. Mit 17 Millionen geschätzten Toten war es bis dahin der tödlichste Konflikt aller Zeiten. Annähernd 70 Millionen Menschen standen unter Waffen. Allein im kleinen Dorf Bamenohl sind 35 Männer gefallen und viele kehren als Verwundete zurück. Welche seelischen Schäden die Kriegserlebnisse angerichtet haben, lässt sich wohl nicht erfassen. Auch konnten die Heimkehrer die Schande, dass der Krieg verloren war, nur schwer überwinden. Von „großer Not“ und „drückender Sorge“ schrieben die Zeitungen. Was Frauen und Kinder der Heimgekehrten ertragen mussten, bis wieder ein einigermaßen gutes Zusammenleben möglich war, steht in keiner Chronik.

Als August knapp vor Weihnachten heimkehrt, erzählt er seinen Freunden stundenlang von seinen Eindrücken beim Kieler Matrosenaufstand. Daheim redet er nur spärlich davon, denn er will vor allem die Mama nicht beunruhigen.

 

Der Kieler Matrosenaufstand fand kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges statt. Auslösender Moment waren Befehlsverweigerungen auf einzelnen Schiffen der vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte. Etliche Matrosen und ihre Offiziere sahen den am 24. Oktober erlassenen Flottenbefehl, zu einer Entscheidungsschlacht gegen die britische Marine auszulaufen, als militärisch sinnlos an. Dies mündete in einer Meuterei mehrerer Schlachtschiffbesatzungen. Das Dritte Geschwader der Flotte wurde daraufhin nach Kiel zurückbeordert. In Kiel trat die Arbeiterschaft an die Seite der Matrosen. Es kam zu einem allgemeinen Aufstand. Von Kiel aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben, die dann zur Novemberrevolution und somit zum Ende der Monarchie in Deutschland und in Folge zur Errichtung der Weimarer Republik führten.2

Irgendwann erzählt August seiner Schwester Marie, zu der er immer noch ein großes Vertrauen hat, dass er auch zu den Befehlsverweigerern gehört hat. Marie antwortet ihm in der ihr eigenen einfachen und klaren Sprache:

„August, das war doch gut so. Sonst wären noch viele tausend Seeleute gestorben und vielleicht auch du.“

August ist dankbar über diese Worte von Marie, denn Befehlsverweigerung ist bei vielen, die zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten erzogen wurden, ein Verbrechen.

Die Jahre des Wiederaufbaus sind sehr schwierig. Die Firma Bischoff/Brögger übersteht aber die Wirtschaftskrise und Marie trägt in dieser Zeit sehr zum Unterhalt ihrer Familie bei. So oft es ihr möglich ist, fährt sie an den Wochenenden nach Heinsberg, um der Mama und Gertrud zu helfen. Dadurch, dass sie die Mutter nicht jeden Tag sieht, fällt ihr viel stärker auf, dass diese immer schwächer wird. Irgendwann bemerkt sie auch Mamas geschwollene Beine und macht ihren Vater darauf aufmerksam. Endlich begibt sich Amalia in ärztliche Behandlung und spürt eine leichte Besserung. So kann sie sich auch auf die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Elisabeth mit Anton Balzer freuen. Es ist ein wunderbarer Tag, an dem die ganze Großfamilie bei der Hochzeit zusammenkommt. Inzwischen ist ja nicht nur August erwachsen, sondern auch alle vier Töchter. Die beiden Jüngsten Wilhelm und Franz sind 18 und 14 Jahre alt. Die Eltern sind dankbar, dass August gesund vom Krieg heimgekehrt ist und nun die älteste Tochter einen neuen Weg einschlägt. Am Abend, bei der Verabschiedung, sagt Marie zu ihrer Schwester:

„Du weißt ja, was ich dir an meinem Erstkommuniontag anvertraut habe. Doch ich habe mein Versprechen an Jesus noch nicht umgesetzt, aber ich weiß, dass ich nicht heiraten, sondern, wenn die Zeit dafür reif ist, ins Kloster gehen werde. Ich wünsche dir viel Glück und dass es dir mit Anton gutgeht.“


Zwei Wochen später fahre ich mit einer Freundin nach Mödling. Wir steigen vom Zug aus und rufen uns ein Taxi.

„Trinitarierinnenorden, hier in Mödling?“

Noch nie hat der Taxifahrer von diesem Orden gehört.

„Wollen Sie nach St. Gabriel?“

„Nein, zu den Trinitarierinnen. Drei Schwestern leben noch im Kloster.“

Irgendwann fällt uns ihre Anschrift ein: Husarentempelgasse 4.

„Ah, da hinaus wollen Sie fahren. Ja, diese Gegend kenne ich.“

Wir fahren bei schönen Villen vorbei, hinaus aus der Stadt. Herbstlich bunte Laubwälder säumen die Straße. Mödling ist Ende Oktober in Gold getaucht. Dann, ein offenes Tor, wir fahren die Auffahrt hinauf und stehen vor einem alten Ansitz, vermutlich noch aus der Kaiserzeit. Später erfahre ich, dass dieser wohlhabenden Juden gehört hat, die während der Nazizeit flüchten mussten. Nach dem Krieg wurde dieses Anwesen Gemeindebesitz, der später dem Trinitarierorden geschenkt wurde. Wir verabschieden uns beim Taxifahrer, betreten das Haus und gehen zur Auskunft.

Ein Mann um die 50 kommt. Er begleitet uns zu den Schwestern und sagt: „Ich wohne mit meiner Frau und den sechs Kindern hier und bin unter anderem der Hausmeister für die Schwestern.“

Auf einem Türschild neben der Haustüre steht „Trinitarierinnenorden“. Wir gehen hinein und gelangen praktisch unmittelbar in den Wohnraum der Schwestern und damit in eine andere Welt. Die Einfachheit rührt sofort an meiner Seele. Im Kohlenherd brennt ein Feuer. Im Raum ist es angenehm warm. Ein Tisch, eine Bank, vier Stühle, eine Kommode sind die ganze Einrichtung des Raumes. An den Wänden hängen Fotos, unter anderem von Besucherinnen aus aller Welt. Auf einem lächelt uns Schwester Angela verschmitzt entgegen. Vier Türen führen in andere Räume. Eine davon öffnet sich, Schwester Evangelista, die ich in Innsbruck kennengelernt habe, kommt herein und begrüßt uns. Gleich fühlen wir uns wohl. Sie bietet uns einen Platz an. Die Küchentür geht auf. Eine Schwester kommt auf uns zu. Ich merke sofort, dass sie die praktische Schwester ist. Ein nach vorne gebeugter Rücken spricht von jahrzehntelanger, harter Arbeit in Haus und Garten.

„Ah, ihr seid die zwei Tirolerinnen! Ich bin Schwester Felice. Wer von euch möchte denn einen Roman über Schwester Angela schreiben?“

Das Wort Roman klingt ziemlich zweifelnd. Ich lächle und sage, dass ich versuchen will, das Leben von Schwester Angela niederzuschreiben.

Sie blickt mich fragend an und sagt: „In einem Roman ist doch vieles nur erfunden, wird dies gut gehen?“

Ich sage ihr, dass ich mich an die Eckdaten halten und nur eine Erzählung rundherum spinnen werde. An ihrem skeptischen Blick spüre ich, dass ich mir ihre Zuneigung erst erwerben muss.

Nun zeigt uns Schwester Evangelista unsere Schlafstätte. Meine Freundin bekommt das Zimmer gleich neben der Küche. Die Schwester begleitet mich dann durch einen schmalen Gang in mein Zimmer. Alles ist sehr einfach eingerichtet. Ein paar Minuten bleibe ich alleine hier und nehme mir vor, mich ganz auf das Jetzt einzulassen.

Drei Schwestern, alle über 80, ein Leben lang gemeinsam gelebt. Schwester Evangelista, die jetzige Oberin, ist 1955 in den Orden eingetreten. Sie sagt, dass in Mötz, wo Schwester Angela im Orden war, sehr lange nicht über sie gesprochen wurde, da es in Mötz viele Nazis gab. Auch in Mödling wurde nicht über Schwester Angela geredet. Wie überall sollte Gras über diese schreckliche Zeit wachsen. Bis Anfang der Achtzigerjahre war Schwester Angela kein Thema.

1986 las die damalige Generaloberin Schwester Maria Nieves Perez aus Valencia anlässlich eines Besuches in Mödling die Lagerpost von Schwester Angela. Von ihr zur Nachforschung angeregt, machten sich Schwester Hermine und Schwester Felice auf die Suche nach Verwandten von Schwester Angela in Deutschland. In Tirol hat Dr. Peter Stöger schon sehr früh Nachforschungen begonnen.

Schwester Evangelista sagt, dass sie und Schwester Agnes von 1978 bis 1980 in der Erzieherinnenschule in Pfaffenhofen in Tirol waren. Peter Stöger unterrichtete damals in Pfaffenhofen. Später hat sogar eine Schülerin von ihm eine Diplomarbeit über Schwester Angela geschrieben.

Schwester Felice trat 1969 in den Orden ein. Sie war auch länger in Valencia, im Mutterhaus des Ordens tätig und hat auch ein bisschen von der guten spanischen Küche mit nach Mödling gebracht.

Nun mischt sich auch Schwester Agnes in unser Gespräch ein und fragt: „Was machen Sie hier bei uns?“

„Ich schreibe ein Buch über Schwester Angela.“

Sie beginnt zu lächeln und sagt: „Schwester Angela, unsere Schwester Angela. Jetzt gehe ich aber in mein Zimmer. Ich will Sie nicht länger belästigen.“

„Sie belästigen uns nicht, Schwester Agnes. Wenn es für Sie möglich ist, erzählen Sie uns auch noch ein bisschen, was Sie über Schwester Angela wissen.“

„Vielleicht morgen.“

Die zwei anderen Schwestern schütteln zweifelnd den Kopf.

„Schwester Agnes ist gesundheitlich sehr angeschlagen und ihr Gedächtnis hat seit vorigem Jahr stark nachgelassen.“

Schwester Evangelista erklärt uns die Fotos an der Wand. Auf einem Foto ist noch Schwester Carmen abgebildet. Sie war die Älteste in diesem Kloster und verstarb 2004. Auf einem anderen Foto lachen uns Schwestern aus Madagaskar entgegen. 25 von ihnen kümmern sich dort um die Ärmsten. Noch ein Foto zeigt Schwestern aus Kolumbien. In der Zwischenzeit gibt es mehr als 30 Gemeinschaften der Trinitarierinnen in verschiedenen Ländern.

„Seit wann gibt es diesen Frauenorden?“, frage ich dazwischen.

Zwischen 1880 und 1885 schlossen sich fünf junge Frauen unter der geistlichen Führung des Diözesanpriesters Juan Baptist Calvo in Valencia zusammen und gründeten die neue Schwesterngemeinschaft nach den Regeln des männlichen Ordensgründers der Trinitarier Johannes von Matha aus Frankreich.