Angela Autsch

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Die wichtigste Regel lautet: „Alle haben teil an dem von Gott gegebenen Erbe und setzen Gottes Werk in der Geschichte fort. Es gilt, die heiligste Dreifaltigkeit zu ehren und Freiheit den Gefangenen unserer Zeit zu bringen.“

Die Trinitarierinnen gehen davon aus, dass Gott so lebensbejahend ist, dass jede Knechtung und Entwürdigung der Menschen Gottes Schöpfung und dem Glauben an Gott widerspricht.

Wenn Gott das volle Leben ist, ist es die logische Konsequenz, dass Menschen sich für ein Leben in Gerechtigkeit einsetzen. Die Trinitarierinnen sehen es als ihren besonderen Auftrag, sich für jene einzusetzen, die aufgrund von Opportunismus, Rassismus oder aus verschuldetem Unwissen ihrer Mitmenschen keine Chance auf ein menschenwürdiges Dasein bekommen.3

In der ersten Lebensregel von Valencia heißt es: „Die Schwestern widmen sich dem Unterricht für Kinder der unterprivilegierten Klasse, um den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden, und ebenso der Pflege der Kranken. Sie wohnen Tür an Tür mit der arbeitenden Bevölkerung, halten Abendschule für Arbeiterinnen und Dienstmädchen.“4

Diesem Grundsatz der Schwestern von Valencia waren auch die Schwestern in Mödling bis zu ihrer Pensionierung verpflichtet.

Im Wohnraum prasselt angenehm das Feuer. Eine Caritasmitarbeiterin kommt, um Schwester Agnes die notwendigen Medikamente zu verabreichen. Bevor Schwester Felice wieder in die Küche zurückgeht, bestätigt sie uns noch, dass sie in den späten Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit Schwester Hermine nach Deutschland gefahren ist. Einmal fuhr sie an einem Tag 1000 km bis nach Recklinghausen. Dort blieben die zwei Schwestern eine Woche, um Interviews mit den Verwandten zu machen. Da die Aussagen von Neffen und Nichten später nicht immer korrekt in der Presse wiedergegeben wurden, kam es zu Verstimmungen zwischen den Schwestern und einigen Verwandten. Vor ein paar Jahren hat eine Verwandte doch noch einmal in Mödling angerufen und sich für ihr damaliges Verhalten entschuldigt. Dafür sind die Schwestern sehr dankbar.

Ich frage Schwester Evangelista, ob sie weiß, wie es zur Klostergründung in Mötz kam.

„Ja, ich gebe dir eine Bettlektüre mit, in der ist alles beschrieben.“

Schwester Felice kommt mit dem Abendessen. Sie hat für uns sehr liebevoll gekocht. Beim Essen erzählen wir einander aus unserem Leben. Auch wenn wir sehr unterschiedliche Lebensentwürfe haben, ist mir doch manches vertraut. Ich ging nämlich in meiner Heimatgemeinde bei Schwestern in den Kindergarten und hatte eine Klosterfrau als Klassenlehrerin. Der respektvolle Umgang dieser alten Schwestern miteinander berührt mich sehr. Nach dem Essen zeigt uns Schwester Evangelista noch das große Speisezimmer und den Kasten mit all den Berichten, Fotos, Büchern und Briefen von und über Schwester Angela.

Wie viele Priester und andere Gäste werden die Schwestern an diesem großen, schweren Tisch bewirtet haben? Vorher haben sie sicher in der Küche geschwitzt, um das Beste auftischen zu können.

Schwester Evangelista gibt mir noch vier Kassetten mit Originalaufnahmen von Gesprächen mit den Verwandten und ZeitzeugInnen. Sie erzählt auch, dass Schwester Hermine anlässlich des Beginns des Seligsprechungsprozesses den damaligen Verantwortlichen für Österreich viele Originalbriefe von Schwester Angela geliehen hat, die nicht mehr ins Kloster zurückgekommen sind. Auch sei beim Seligsprechungsprozess einiges schiefgelaufen. Die Verantwortlichen strebten ja einen Märtyrerinnenprozess an. Doch da Schwester Angela in Auschwitz entweder an Herzversagen oder an einem Granatsplitter gestorben ist5, wurde sie bisher in Rom nicht als Märtyrerin anerkannt. Erst in den letzten Jahren wird Schwester Angelas Leben noch einmal überprüft. Als Schwester Evangelista dies erzählt, schwingt Traurigkeit in ihrer Stimme mit. Ich tröste sie und sage: „Ob die Amtskirche Schwester Angelas Leben anerkennt und sie eine Selige wird, bleibt dahingestellt. Für uns und für viele Menschen war sie in dieser Schreckenszeit eine besondere Frau, die ein heiligmäßiges Leben gelebt hat.“

„Ja“, sagt Schwester Evangelista, „sie musste sogar in den Hungerbunker, nur weil sie einen SS-Mann mit ‚Grüß Gott‘ gegrüßt hat.“

Meine Freundin holt einen Ordner aus dem Kasten und beginnt Briefe zu fotografieren. Bevor Schwester Evangelista sich zurückzieht, drückt sie meiner Freundin einen Stein und mir einen großen Nagel in die Hand. Vermutlich stammen diese beiden Gegenstände aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich und stehen stellvertretend für die Ausbeutung und den gewaltsamen Tod von unzähligen Menschen während der Zeit des NS-Terrors. Wir halten die Gegenstände in unseren Händen. Tränen laufen uns über die Wangen. Aus meinem Inneren heraus formt sich ein Text:

Soviel Leid

soviel Tränen

soviel Schreie

so lange her

und immer noch

nicht vorbei

Ich bin tief bewegt, dass Schwester Evangelista so viel Vertrauen zu uns hat und uns mit diesen Schätzen allein lässt.

Im Bett beginne ich den Bericht über das Mötzer Kloster zu lesen.

Die Gründung einer Schwesterngemeinschaft der Trinitarierinnen erfolgte im Jahre 1926. Die Gräfin Karoline Erdödy erwarb in Mötz ein kleines Landgut mit Haus, Hof und einigen Feldern, um eine Niederlassung des Ordens zu ermöglichen.

Am 11. August 1926 trafen drei Schwestern aus Valencia und eine Schwester aus Österreich in Mötz ein, sodass die Gründung mit diesem Datum perfekt wurde.

Die kleine Gemeinschaft begann ihr klösterliches Leben in Gebet und Zurückgezogenheit und lebte sehr bescheiden von Paramentenstickereien und Näharbeiten.

Die Anfangsjahre sahen die Eröffnung eines Privatkindergartens im Kloster. In den Wintermonaten wurden außerdem für die größeren Mädchen der Umgebung Nähkurse abgehalten.

Nachdem sich die Gründung gefestigt hatte und die Zahl der Schwestern aus eigenem Lande vielversprechend war, gingen die spanischen Schwestern in ihre Heimat zurück.

Schwester Michaela Roth, die von Anfang an eine wesentliche Rolle bei der Verwirklichung der österreichischen Gründung hatte, wurde Oberin.

Unter ihrer Führung festigten sich die Kontakte mit den Drittordensgemeinschaften in Trier und Paderborn, in deren Folge dann auch Ordenszuwachs aus Deutschland kam. Eine dieser „deutschen“ Schwestern war Maria Autsch, die als Schwester Angela vom Herzen Jesu sich mutig gegen den Nationalsozialismus stellte und treu das Evangelium lebte bis zu ihrem Tod in Auschwitz.6

Bewegt schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen ist es schon früh unruhig im Haus. Wie am Vorabend angekündigt, brechen Schwester Evangelista und Schwester Felice zum Gottesdienst auf. Während meine Freundin und ich beim Frühstück im bereits geheizten kleinen Wohnraum sitzen, kommt Schwester Agnes mit ihrem Rollator lächelnd aus ihrem Zimmer und setzt sich zu uns. Jetzt am Morgen ist ihr Geist hellwach und sie genießt es sichtlich, mit uns alleine am Tisch zu sitzen. Ich bestärke sie und sage: „Sie können mir einfach sagen, was Ihnen einfällt.“

Sie sagt: „Dieses Haus hat Juden gehört. Sie mussten vor den Nazis fliehen. Paul besuchte uns im Jahre 2000 [vermutlich ein Nachkomme]. Zwei Schwestern sind nach dem Krieg aus Deutschland gekommen. Schwester Hermine war lange Zeit Oberin. Sie hat alles gut organisiert. Ich war mit ihr öfters in Valencia, denn die Ordensregeln werden alle sechs Jahre neu überarbeitet. Ich habe 40 Jahre Sprachbehandlung bei unseren Heimkindern gemacht. Es ist alles so lange her, ich kann mir nicht mehr alles so gut merken.“

Ich tröste sie und sage: „Schwester Agnes, Sie wissen noch so viel von früher, Sie sind immer noch eine wichtige Schwester.“

Sie strahlt übers ganze Gesicht.

Die zwei anderen Schwestern kommen von der Kirche zurück. Richtig fesch sind sie in ihrem Ausgehkleid und den glänzenden Schuhen.

Schwester Agnes sagt: „Gell, Schwester Felice, Schwester Hermine hat mit Ihnen alles über Schwester Angela erkundet. Ist alles schon erledigt?“

„Ja, alles haben wir gemacht und wir haben alles gut verwaltet.“

Mir fällt jetzt bewusst auf, dass sich die Schwestern mit „Sie“ ansprechen. Ich denke mir, dass dies eine gute Möglichkeit ist, höflich miteinander umzugehen, wenn die Schwestern einmal Probleme miteinander haben sollten.

„Schwester Agnes, kann ich mir das Buch von Dr. Margita Schwalbová ausleihen? Sie war ja als Ärztin gleichzeitig mit Schwester Angela in Auschwitz?“

Schwester Agnes schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt: „Dann müssen wir es gleich wieder bestellen. Von Pater Quirin haben wir nicht alles zurückbekommen.“

Das muss bei den Schwestern tief sitzen, wenn sich sogar Schwester Agnes daran erinnert. Schwester Evangelista sagt ihr, dass dieses Buch nicht mehr im Handel erhältlich ist. Schwester Agnes sagt darauf lächelnd:

„Sie sind die Oberin.“

Schwester Evangelista blinzelt mir zu und steckt das Buch in meine Tasche.

Irgendwie kommen wir auf schwere Krankheiten der Schwestern in den letzten Jahren zu sprechen. Es rührt mich sehr an und ich frage mich, wie lange die Schwestern noch so wie jetzt miteinander leben können. Als ob Schwester Evangelista meine Gedanken lesen könnte, sagt sie:

„Wie gut, dass die große Familie, die bei uns wohnt, uns viel hilft.“

Vor dem Mittagessen machen meine Freundin und ich im großen Garten einen Spaziergang. Im Gemüsebeet gibt es noch viele reife Tomaten, Paprika und Zucchini. Ob es Schwester Felice heuer noch schafft, das ganze Gemüse zu verarbeiten? Im nahen Wald tauchen wir in das Gold des Herbstes ein. Es ist wie ein Sinnbild dafür, was diese Schwestern in ihrem Leben für andere Menschen getan haben. Bei einer kleinen Abzweigung steht auf einem Schild „Schwesternfriedhof“.

 

Beim Mittagessen frage ich meine Gastgeberinnen, was uns Schwester Angela für heute sagen kann. Fast gleichzeitig geben wir uns die Antwort:

„Sie nannte das Unrecht beim Namen!“

Nach dem Essen unser Versprechen, im Frühjahr 2018 wiederzukommen, anschließend hinein ins Auto, mit Schwester Felice als Chauffeurin zum Bahnhof, ein paar Tränen, winken, abfahren.

Bereichert kommen wir am Abend daheim an.

Zweiter Teil

Am 27. September 1933, an einem strahlend schönen Herbsttag, kommt Marie mit dem Schnellzug in Innsbruck an. Fast setzt für einen Augenblick bei ihr der Herzschlag aus, als sie die imposanten Berge rund um die Tiroler Landeshauptstadt zum ersten Mal sieht. Vom Sauerland her kennt sie ja nur eine Hügellandschaft. Marie steigt mit ihrem wenigen Gepäck in den Personenzug um. Als sie sich bereits zum Aussteigen bereitmacht, sieht sie auf der linken Seite die zwei Zwiebeltürme des Zisterzienserklosters Stams. Dann, kurze Zeit später, rechts auf einem kleinen Berg die Wallfahrtskirche Locherboden. Marie freut sich, dass auch hier zu Ehren Mariens eine Kirche gebaut wurde. Bevor der Zug hält, bittet sie die Mutter Gottes noch schnell um ihren Beistand für ihre Familie, die sie verlassen hat, und auch dass Maria sie in ihrem neuen Lebensabschnitt schützen möge.

Der Zug hält, Marie steigt aus, eine Schwester steht am Bahnsteig, eine herzliche Umarmung und hinein gehts ins Dorf.

Bereits im Mai hat Marie um Aufnahme in die Kongregation der Trinitarierinnen angesucht. Der Pfarrer von Heinsberg hatte schon im Februar Maria in einem Brief der Gemeinschaft vorgestellt und sie als sehr geeignet für das Klosterleben beschrieben.

Die andere Schwester stellt sich als Schwester Agnes vor und erzählt, dass zurzeit zwei Schwestern – sie und Schwester Oberin Michaela – die Gemeinschaft bilden. Momentan sei auch Pater Bruno aus Wien auf Erholungsurlaub hier und außerdem ihre kleine Schwester Anna. Schwester Agnes bleibt stehen und zeigt auf ein Anwesen: „Wir sind da, herzlich willkommen bei uns im Kloster.“

Die übrigen Schwestern und die kleine Anna stehen am Balkon und winken. Marie winkt zurück. Die Anspannung fällt von ihr ab. Sie sieht den kleinen Glockenturm am Dach des Hauses. Das Haus ist langgestreckt, der Balkon verläuft über die gesamte Breite des Obergeschosses. Im Parterre hat das Haus Fensterläden aus Holz, davor leuchten zahlreiche Blumensträucher in der Herbstsonne. Der große Apfelbaum daneben ist voll mit reifen Äpfeln.

Da habe ich gleich eine Arbeit, denkt sich Marie. Inzwischen sind die Schwestern vor die Haustüre gekommen und begrüßen sie freundlich: „Ich bin Schwester Michaela und Oberin hier im Haus.“ Marie und Schwester Michaela blicken einander an und spüren, dass sie gut miteinander auskommen werden. Marie tritt ein, sowohl ins Haus als auch in den Orden. Sofort fühlt sie sich von der einfachen, schlichten Atmosphäre im Haus angetan. Eine Schwester hat bereits einen Malzkaffee am Herd bereitgestellt. Das Feuer darin wärmt die Küche angenehm, denn am späten Nachmittag ist es Ende September bereits kühl. Der nahe Grünberg lässt die Sonne früh untergehen.

„Rufen Sie auch Pater Bruno zum Kaffee“, sagt Schwester Oberin zu Schwester Agnes. „Marie. Legen Sie einfach ab und setzen Sie sich zum Tisch. Später zeige ich Ihnen Ihren Schlafplatz.“ Marie ist erstaunt, dass sich die Schwestern mit Sie anreden. Erst viel später, als die ersten Probleme mit einer Mitschwester auftauchen, wird sie froh darum sein. Eine andere Schwester, sie stellt sich als „Schwester Rita“ vor, stellt einen einfachen Germguglhupf auf den Tisch und sagt: „Zu Ihrem Einstand, Marie, etwas Süßes.“ Pater Bruno kommt mit der kleinen Anna zur Tür herein. Anna stutzt und fragt: „Sind Sie die neue Schwester aus Deutschland?“ Marie nickt und sagt: „Und ich heiße Marie.“

„Hast du diesen Namen von der Mutter Gottes vom Locherboden?“

Marie muss lachen und sagt: „Du bist ja ein ganz schlaues Mädchen. Ja, Anna, Maria ist der Name der Gottesmutter und weil sie so viele Menschen verehren, haben sie ihr an vielen Orten eine Kirche erbaut.“

„Ja, aber am Locherboden ist ein Wunder geschehen, deshalb gibt es unter der großen Kirche die kleine Grotte“, berichtet Anna.

„Ich schlage vor, du gehst mit mir am Sonntag auf den Locherboden, dann erzählst du mir das Wunder.“

„Ja, das machen wir“, freut sich Anna.

Die anderen Schwestern und Pater Bruno sind erstaunt, wie schnell Anna Zutrauen zu Marie gewonnen hat. Nach der Jause geht Schwester Oberin mit Marie auf ihr Zimmer. Sie zeigt auf ein frisch gemachtes Bett und sagt: „Sie schlafen hier, im anderen Bett schläft Agnes. Sie werden sich aneinander gewöhnen. Ruhen Sie sich jetzt von der langen Reise ein wenig aus. Um 17 Uhr treffen wir uns in der Kapelle zur Vesper.“

„Danke, Schwester Oberin, vielen Dank für die liebevolle Aufnahme“, sagt Marie. Dann ist sie allein. Sie öffnet den Koffer und stellt das Foto ihrer Eltern auf das Nachtkästchen. „Mama, steh mir bei, dass ich mich hier gut eingewöhnen kann“, flüstert Marie. Dann zieht sie sich ihre Schuhe aus und legt sich aufs Bett. Sie schläft sofort ein. Plötzlich klopft es an der Tür. Schwester Agnes kommt herein und sagt: „Marie, wir warten schon auf Sie. Kommen Sie in die Kapelle.“ Marie schreckt hoch, reibt sich die Augen und läuft der Schwester nach. Als Schwester Agnes die Kapellentür öffnet, dringt ein wunderschöner Choral an Maries Ohr. Im Bruchteil einer Sekunde weiß sie, dass sie angekommen ist. Sie kniet sich neben Schwester Agnes auf die Bank, schlägt das ihr hingereichte Gebetsbuch auf und beginnt leise mitzusingen, dann immer lauter, bis sie sich traut, voll in den Chor der Schwestern einzustimmen.

Am nächsten Abend erzählt Pater Bruno den Schwestern und Marie ein Gespräch, das er am Nachmittag auf dem Weg zum Locherboden mit der kleinen Anna geführt hat. Anna hat ihn gefragt, ob die neue Schwester an Gott glaubt und ob er sie schön finde. Er gab ihr als Antwort: „Natürlich glaubt sie an Gott, sonst käme sie doch nicht ins Kloster. Wegen der Schönheit sagt er: „Schau sie dir doch noch einmal selber an.“

Marie muss sich erst im Alltag des Klosters zurechtfinden und ihre Mitschwestern allmählich kennenlernen.

Als Marie ins Kloster eintritt, sind die ersten spanischen Schwestern schon wieder nach Spanien zurückgekehrt. Die Generaloberin aus Valencia besuchte 1929 die erste Gemeinschaft in Mötz. Sie war mit den Anfängen des Klosters sehr zufrieden. Die erste Oberin, Schwester Christina aus Tschechien, sprach nämlich Deutsch und besaß die Lehrbefähigung, einen Kindergarten zu eröffnen. Die spanischen Schwestern waren gute Stickerinnen und erhielten sogleich wichtige Aufträge von vielen Pfarren Tirols. Ebenfalls organisierten die Schwestern in den Wintermonaten Nähkurse für die Mädchen von Mötz. Trotzdem erkannte die Generaloberin, dass deutschsprachige Schwestern bei der Bevölkerung mehr Anerkennung genießen würden.

Die jetzige Oberin, Schwester Michaela Roth, stammte aus Südmähren und legte ihre ewigen Gelübde am 30. August 1928 in Mötz ab. Seit Jänner 1932 ist sie nun Oberin in Mötz. Sie verbleibt in dieser Funktion bis zu ihrem Tod am 9. Juli 1960 in Mödling.

Schwester Maria Rita Schrott ist seit 1929 im Kloster und bereitet sich, als Marie nach Mötz kommt, gerade auf die ewige Profess vor. Am 10. Dezember wird ihr großes Fest sein.7

Schwester Immaculata, mit weltlichem Namen Caroline Feichtinger-Pühringer aus Wien, tritt 1927 ins Kloster in Mötz ein und bereitet sich, ebenso wie Schwester Rita, auf die ewige Profess im Dezember vor. Auch sie verlässt 1948 den Orden, um ihren Ziehvater in Oberösterreich zu pflegen. Schwester Rita und Schwester Immaculata haben es nicht immer leicht miteinander, zu unterschiedlich sind ihre Charaktere. Dies erkennt Marie bald und versucht auszugleichen.

Da Schwester Rita und Schwester Immaculata mit geistlichen Übungen und anderen Vorbereitungen auf ihr Gelübde beschäftigt sind, bleibt viel von der praktischen Arbeit Marie und Schwester Agnes. Sie verstehen sich gut und lachen auch viel bei der Ernte im Garten und auf dem Feld.

Am 26. Oktober 1933, als draußen alle Arbeit getan ist, wird Maria Autsch in den Orden als Postulantin aufgenommen.

Das Postulat ist die Zeit des ersten Kontaktes mit dem Ordensleben. Die Berufung, die man zum Ordensleben verspürt, muss an Ort und Stelle des konkreten Ordens überprüft werden. Die Möglichkeit, Jesus in einem Leben in Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam nachzufolgen, erfordert viel Einsatz und Großzügigkeit. Die Postulantinnenzeit dauert bei Maria Autsch acht Monate.

Die Schwestern schmücken noch am Abend die Kapelle mit den restlichen Dahlien und Zinnien aus dem Garten. Eine weiße Lilie, die die Statue des heiligen Josef in der Hand hält, leiht sich Schwester Agnes von ihm aus und stellt sie zum Betschemel von Marie. Die weiße Lilie ist das Symbol eines zur vollen Spiritualität erwachten Geistes und zeigt auf, dass Marie nun nichts mehr vom Ursprung des Göttlichen trennt.

Als Marie am nächsten Morgen in die Kapelle kommt und das Blumenmeer sieht, umarmt sie ihre drei Mitschwestern und Schwester Oberin. Diese reicht ihr ein einfaches Postulantinnenkleid. Dabei lächelt sie Marie liebevoll an und beiden stehen Tränen der Freude in den Augen. Ein Pater aus dem nahen Zisterzienserstift Stams feiert mit den Schwestern gemeinsam den Gottesdienst. Nach der Vesper essen die Schwestern miteinander zu Abend und alle freuen sich mit Marie.

Vor dem Einschlafen nimmt Marie das Foto ihrer Eltern in die Hand und sagt leise: „Mama, Papa, nun bin ich das erste Stück meines Weges im Kloster vorangekommen. Ich bin sehr glücklich. Morgen gehe ich mich bei der Muttergottes am Locherboden bedanken.“

Wieder ein klarer Spätherbstmorgen. Über den Stamser Bergen ist bereits die Sonne aufgegangen. Die Schwestern kommen vom Morgengebet aus der Kapelle. Schwester Agnes und Marie binden sich die Schürze um und stellen bald darauf eine dampfende Kanne Malzkaffee auf den Tisch. Frische Bauernbutter und ein Laib selbstgebackenes Brot laden zum Frühstück ein. Manche Frauen bringen den Schwestern Lebensmittel als Dank dafür, dass ihre Kinder in den Kindergarten kommen können. Die Schwestern sind darüber sehr froh, denn manchmal fehlt es ihnen am Nötigsten. Nun fühlt sich Marie richtig zugehörig. Ihr frohes Wesen springt auf die anderen Schwestern über. Schwester Oberin hustet zurzeit wieder stärker, da tut ihr Maries frische Jugendlichkeit besonders gut. Schwester Rita und Schwester Immaculata bereiten sich auf ihren letzten Besuch daheim vor, bevor sie im Dezember die ewigen Gelübde ablegen werden.

Während Marie und Schwester Agnes das Mittagessen zubereiten, fragt Marie: „Schwester Agnes, waren Sie schon öfters auf dem Locherboden?“

„Ja“, antwortet Schwester Agnes, „manchmal machen wir auch mit der Pfarrgemeinde eine Wallfahrt hinauf zur Kirche. Ein Stamser Pater feiert dann mit den Gläubigen am Gnadenort einen Gottesdienst.“

„Heute am Nachmittag möchte ich noch einmal alleine auf den Locherboden gehen.“

„Ja, gehen Sie, Marie. Es war ja gestern ein aufregender Tag für sie.“


Ein heißer Frühsommertag. Ich stehe am Bahnhof von Mötz und warte auf Barbara. Sie wird mit mir heute die wichtigsten Orte von Schwester Angela in Mötz besuchen. Ich beginne nachzuzählen. Vor fast 85 Jahren hat Schwester Agnes an diesem Bahnhof auf Marie gewartet. Da war meine Großmutter väterlicherseits bereits 60 Jahre alt, meine Großmutter mütterlicherseits war 65 Jahre alt. Beide haben daneben im Klosterdorf gewohnt. Nie habe ich davon gehört, dass es in Mötz ein Frauenkloster gab, obwohl die Schwestern bis 1954 dort lebten. Da war ich bereits acht Jahre alt. Die Zeitgeschichte holt mich ein. Niemand sprach, Schweigen über diese Zeit.

Da kommt Barbara mit ihrem Auto um die Ecke. Wir umarmen uns.

„Wir fahren zuerst auf den Locherboden. Heute ist es zum Zufußgehen zu weit“, sagt sie.

Wir kommen mit dem Auto am schmalen Fußweg vorbei, der zum Locherboden führt. Vermutlich ist Schwester Angela von hier aus zur Wallfahrtskirche gegangen. Damals war der Berg nur wenig bewachsen und es war im Sommer zum Hinaufgehen sicher sehr heiß. Auch ich erinnere mich, wie ich als Kind bei Familienwallfahrten geschwitzt habe.

 

Wir bleiben beim großen Parkplatz stehen. Vor dem alten Kiosk sitzen zwei Frauen. Eine davon winkt mir zu. Ich erzähle ihr von meinem Projekt, über Schwester Angela zu schreiben. Auch ihr ist Schwester Angela ein Begriff und sie war sogar im vergangenen Herbst bei der Erdwärtsmesse in der Pfarrkirche St. Nikolaus in Innsbruck. Wir verabschieden uns und gehen über die Steinstiege zur kleinen Kapelle hinauf. Es gibt mir einen Stich. Ich sehe die Bodenplatte mit der Inschrift: „Hier stand Maria“. Wie war ich als Kind immer aufgeregt, wenn ich mir vorstellte, dass hier Maria Kalb aus Rum die heilige Maria gesehen hat. Neben der Kapelle sei früher auch Wasser aus dem Felsen geflossen, erzählt Barbara.

„Baum, Stein und Quelle“, uralte Symbole eines Kraftplatzes, meistens aus vorchristlicher Zeit. Mir fällt wieder ein, was Maria Kalb, die 1871 an diesem Ort Heilung erfuhr, in einer nächtlichen Vision vernahm: „Dies ist der Ort, wo du mich suchen musst.“ Das Marienbild in der Kapelle, das nach Angaben von Maria Kalb gemalt wurde, erkenne ich sofort wieder. Barbara macht mich auf die drei Steine auf dem Bild aufmerksam, die laut Volkskundeforschung mit den drei „Bethen“ in Verbindung gebracht werden, die als zyklische Göttinnen mit ihren drei Lebensphasen als junge Frau/als reife Frau und als weise Alte vor allem in Südtirol bis heute verehrt werden. In Nordtirol sind sie als Ambeth, Wilbeth und Querbeth bekannt. Christianisiert werden sie als die drei heiligen Madln Katharina, Margarethe und Barbara verehrt. Uralter Frauenkult ist in dieser kleinen Kapelle zu entdecken. Ob Schwester Angela davon wusste, die so gerne zu ihrem „Bergmutterl“ hinaufging? Auf alle Fälle ist hier die weiblich/spirituelle Kraft zu spüren, sodass Heilung geschehen kann.

Mein Blick fällt auf ein Bild von Schwester Angela und ich frage Barbara, wer dieses Bild gemalt hat:

Als ich vor zirka 12 Jahren begann, mich mit dem Leben von Schwester Angela auseinanderzusetzen und sie wieder in Mötz ins Gedächtnis der Menschen zu bringen, hatte beim Pfarrkaffee ein Mann die Idee, ein Bild von Schwester Angela am Locherboden anzubringen. Daraufhin rief ich Schwester Agnes von den Trinitarierinnen in Mödling an, um ihr von unserem Vorhaben zu erzählen. Sie sagte: „Zur Seligsprechung von Schwester Angela warten wir noch auf ein Wunder“.

Auch wenn gerade keine körperliche Heilung einer Person zu verzeichnen ist, so haben sich doch in der kommenden Zeit viele Fäden ineinandergewoben, die etwas Großartiges in Bewegung setzten.

Ein Trinitarierpater betreute in Wien einen Häftling und schenkte ihm ein Foto von Schwester Angela. Daraufhin malte dieser Häftling ein Bild von ihr. Nun bot sich Schwester Agnes an, dieses Bild nach Mötz zu bringen. Barbara machte beim Pfarrer von Mötz den Vorschlag, in der Pfarrkirche eine Andacht zu halten und dann gemeinsam mit dem Bild von Schwester Angela auf den Locherboden zu gehen. Da er wieder einmal im Zweifel war, wagte sie, ihn zu fragen, ob er ihr Vorhaben, Schwester Angela in Mötz wieder bekannter zu machen, nicht gern sehe. Endlich gestand er ihr, dass er Angst habe, dass die Sache mit dem Verrat damals bei den Leuten wieder in Erinnerung kommen könnte und dies für die Gemeinde nicht gut sei.

Es ist mehrfach belegt, dass Schwester Angela am 10. August 1940 im Milchgeschäft sagte, dass in Norwegen von den Alliierten ein Schiff versenkt worden war, auf dem sich auch ein Mötzer befunden hatte. Ebenfalls jammerten Frauen im Milchgeschäft, dass sie mit ihren Söhnen nichts mehr anfangen könnten, weil alle dem Hitler nachsprangen. Darauf hatte Schwester Angela erwidert: „Ja, der Hitler ist eine Geißel für Europa.“ Eine Frau, die dies gehört hatte, sagte es zu ihrem Sohn, der ein Parteifunktionär war.

Trotzdem scheint es auch nach fast 80 Jahren schwierig zu sein, diese Dinge klar anzusprechen.

Am Dreifaltigkeitssonntag 2011 konnte aber schließlich doch eine Messe in Mötz zum Andenken an Schwester Angela Autsch gefeiert werden. Wenn Christinnen und Christen davon ausgehen, dass bei der gemeinsamen Mahlfeier Erde und Himmel einander berühren, dann war diese Feier ein Zeichen dafür, das nach 71 Jahren Schwester Angela bei der Bevölkerung endlich wieder ins Bewusstsein kommt. Dies dazu noch am Dreifaltigkeitssonntag, da doch die Dreifaltigkeit zu verehren und Gefangene zu befreien zu den Leitmotiven des Trinitarierordens gehört.

Am Ende dieses Gottesdienstes rief der Ortspfarrer Barbara zum Altar und sie erzählte der Gemeinde vom Vorhaben, ein Bild von Schwester Angela am Locherboden anzubringen. Am 10. Juni 2011 war es dann so weit. Nach einer Andacht in der Pfarrkirche pilgerten viele Menschen von Mötz mit dem Bild zum Locherboden. Ein Kreis hatte sich geschlossen.

Seither sind sieben Jahre vergangen und einmal in der Woche wird für besondere Anliegen in der kleinen Kapelle am Locherboden der Rosenkranz gebetet. Auch findet jedes Jahr am 23. Dezember, dem Todestag von Schwester Angela, ein Gottesdienst mit einem namhaften Priester der Diözese oder dem Bischof statt. Braucht es da noch ein Heilungswunder, wenn so viel Heilung geschieht?

Tief berührt gehen Barbara und ich die weiteren Stufen bis zur Wallfahrtskirche hinauf, die 1901 fertiggestellt wurde. Im Eingangsbereich ist auf der Wand die Heilungsgeschichte von Maria Kalb aus Rum gemalt und geschrieben. Wir singen miteinander „Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige, himmlische Frau“. Vielleicht hat Schwester Angela vor 85 Jahren dieses Lied auch hier angestimmt.

Vor dem alten Kiosk sitzen immer noch die zwei Frauen, denen wir am Anfang unseres Weges von Schwester Angela erzählt haben. Wir spüren gemeinsam, dass wir an einem heilbringenden Ort sind und den Alltag hinter uns gelassen haben. Barbara überlegt, ob man diesen Kiosk zu einem kleinen Museum für Schwester Angela herrichten könnte. Ich sage lachend:

„Das gehen wir dann an, wenn der Seligsprechungsprozess positiv abgeschlossen ist.“

Unter einer alten Linde trinken wir einen Kaffee. Da kommt auch noch der Pfarrer von Mötz im Zisterziensergewand und mit Strohhut des Weges. Wir grüßen ihn, er nickt uns zu und geht weiter. Irgendwie sind auch wir drei inzwischen mit Schwester Angela verwoben.

Die vorletzte Station dieses Tages ist die Mötzer Pfarrkirche. Hier habe ich am 23. Dezember 2015 das erste Mal den Gedenkstein für Schwester Angela, der vor zirka 30 Jahren hier angebracht wurde, gesehen. An diesem Abend wurde auch vom Chor das erste Mal während der Messe das Angela-Lied gesungen. Ein halbes Jahr vorher bat mich Barbara, einen Text für ein Lied zu schreiben. Jan Marthé, der Komponist der Erdwärtsmesse, hat diesen Text vertont. Als dann das Lied vom Chor her ertönte, kamen mir die Tränen.

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