Ius Publicum Europaeum

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I. Grundzüge des Verwaltungsrechtsschutzes
im europäischen Rechtsraum

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Auf den ersten Blick weisen die Verwaltungsrechtsordnungen im europäischen Rechtsraum eine bemerkenswerte Vielgestalt auf – nicht nur, was die Organisation der Verwaltung, ihre Handlungen, die demokratische Steuerung und den politischen Gestaltungsfreiraum angeht.[1] Auch und gerade mit Blick auf Art, Umfang und Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Verwaltung, dem nicht nur für den Schutz individueller Interessen, sondern auch für Stellung und Aktionsradius der Verwaltung im Gefüge der Gewalten entscheidende Bedeutung zukommt, unterscheiden sich die einzelnen (Teil-)Rechtsordnungen erheblich. Ob der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz bei den allgemeinen (ordentlichen) Gerichten oder einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit angesiedelt ist, ob die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung primär als objektive Gesetzmäßigkeitskontrolle oder als Instrument zur Durchsetzung subjektiver öffentlicher Rechte oder individueller Interessen der Bürger gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung konzipiert ist – in der Regel handelt es sich hierbei um Grundentscheidungen, die das Ergebnis kontingenter historischer Prozesse sind und häufig auch in den jeweiligen Verfassungen Niederschlag gefunden haben. Das gilt auch für die unterschiedlichen Formen verwaltungsinterner und verwaltungsgerichtlicher Kontrolle, die Frage der Kontrolldichte und die Vollstreckung sowie für andere Instrumente des Interessenschutzes. Soweit dies im Verwaltungsprozessrecht Niederschlag gefunden hat, lässt sich daher ohne weiteres von einer verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes sprechen.

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › I. Grundzüge des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › 1. Konstitutionalisierung und Europäisierung

1. Konstitutionalisierung und Europäisierung

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Die verfassungsrechtliche Prägung im hier verstandenen Sinne meint aber mehr. Betrachtet man den Verwaltungsrechtsschutz im europäischen Rechtsraum, so lassen sich Konturen einer verfassungsrechtlichen Prägung erkennen, die auf ausdrücklichen oder konkludenten Garantien effektiven Rechtsschutzes in den nationalen Verfassungen beruhen,[2] auf den Vorgaben von Art. 6 und Art. 13 EMRK bzw. Art. 47 GRCh sowie weiteren allgemeinen Grundsätzen und bereichsspezifischen Gewährleistungen.[3]

a) Konstitutionalisierung

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Ihr Ausgangspunkt liegt in Deutschland, wo nach dem Zweiten Weltkrieg der vom NS-Regime zerstörte Rechtsstaat nicht nur wieder aufgebaut, sondern in gewisser Weise perfektioniert werden sollte bzw. wurde.[4] Hier hat sie in der berühmt gewordenen Feststellung Fritz Werners von 1959 vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ programmatischen Ausdruck gefunden.[5] Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts bedeutete in Deutschland der Sache nach vor allem eine „Vergrundrechtlichung“ und Subjektivierung der Rechtsordnung. Im Zusammenspiel mit den formellen Aspekten des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes, wurde das Verwaltungsrecht – sehr viel später erst das Zivil- und Strafrecht – konsequent auf Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen ausgerichtet, durchdrangen die Grundrechte nahezu jeden seiner Winkel. Konzeptionelle oder dogmatische Grundlage für diese Entwicklung waren die Festlegung des Bundesverfassungsgerichts auf einen weiten Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) im Elfes-Urteil von 1957,[6] die dem Einzelnen eine Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang garantierte,[7] das Lüth-Urteil von 1958,[8] das es gestattete, auch die Normen des von 1900 stammenden Zivilrechts im Lichte der Verfassung zu re-interpretieren, sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG, die bei jedem Eingriff in ein (grund-)rechtlich geschütztes Interesse den Rechtsweg verbürgte.[9]

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Die Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, und mit ihr des Verwaltungsrechtsschutzes, war freilich keineswegs auf Deutschland beschränkt.[10] Nahezu alle Verwaltungsrechtsordnungen Europas haben nach dem Zweiten Weltkrieg – wenn auch nicht gleichzeitig und mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten – eine Konstitutionalisierung ihres Verwaltungsrechts erlebt, die dieses zwar nicht seines Selbstands beraubt, jedoch den (jeweiligen) verfassungsrechtlichen Anforderungen nachhaltig untergeordnet hat.[11] Kennzeichen dieser Entwicklung ist eine tendenzielle Verselbständigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und eine gewisse Konzentration auf die Durchsetzung rechtlich geschützter Interessen bzw. subjektiver öffentlicher Rechte.

b) Europäisierung

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Die in manchen Staaten schon mit der Konstitutionalisierung begonnene Entwicklung zu einer tendenziellen Verselbständigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und zu einer stärkeren Akzentuierung des Individualrechtsschutzes hat durch die Europäisierung des Verwaltungs-(prozess-)rechts weiteren Nachdruck erhalten. Insbesondere Art. 6 und 13 EMRK sowie später auch Art. 47 GRCh haben sich dabei als Motoren erwiesen.[12]

c) Funktionsverschiebungen

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Konstitutionalisierung und Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes haben die überkommenen Konzepte des Verwaltungsrechtsschutzes und seine tradierten Funktionen in allen Mitgliedstaaten verändert. Sie haben das Gewicht der Dritten Gewalt im Verhältnis zur (nationalen) Exekutive, aber auch zur (nationalen) Legislative gestärkt, wovon die Factortame-Fälle in Großbritannien ein eindrucksvolles Beispiel ablegen, die britischen Gerichten die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zum ersten Mal nicht nur gegen die Grundsätze des common law, das einstweilige Anordnungen gegen die Krone nicht kannte, ermöglicht haben, sondern ihnen auch ein De-facto-Verwerfungsrecht gegenüber dem Gesetzgeber zugestanden haben.[13] In anderen Mitgliedstaaten mag der Emanzipationsprozess der Gerichte nicht ganz so spektakulär verlaufen sein; es gab ihn aber auch dort.[14]

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In Deutschland mit seiner traditionell besonders ausgeprägten Zentrierung des Verwaltungsrechtsschutzes auf den Individualrechtsschutz gibt es hingegen gegenläufige Anzeichen dafür, dass die Durchsetzung rechtlich geschützter Interessen und damit der Individualrechtsschutz nicht verabsolutiert werden darf, sondern dass die Dritte Gewalt auch die Aufgabe hat, für die Durchsetzung des Gesetzmäßigkeitsprinzips und die demokratische Legitimation exekutivischen Handelns zu sorgen.[15]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › I. Grundzüge des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › 2. Typen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

2. Typen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

a) Konzentration auf den Verwaltungsrechtsschutz

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Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Verwaltungsrechtsschutz im europäischen Rechtsraum durch den Streit darüber geprägt, ob er im Interesse der Bürger den allgemeinen – ordentlichen – Gerichten oder einer in der Verwaltung selbst angesiedelten oder doch mit ihr verbundenen und spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit anvertraut werden soll. Ein wichtiger Ausgangspunkt für diese Kontroverse war die zu Beginn der Französischen Revolution 1789 erhobene Forderung nach einer Unterwerfung der Verwaltung unter die allgemeine (ordentliche) – von der Exekutive unabhängige (!) – Gerichtsbarkeit. Zwar ist dieser Ruf in Frankreich mit der Errichtung des Conseil d’État bald in Vergessenheit geraten, wo die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch heute als besondere Form der Verwaltung begriffen wird;[16] in anderen Ländern hat er dagegen weniger als Vor- denn als Gegenbild gedient. Das gilt allerdings weniger für Deutschland, wo mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 auch in Vergessenheit geriet, dass die Paulskirchenverfassung bestimmt hatte: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ (§ 182 RV 1849),[17] wohl aber für Großbritannien,[18] Schweden[19] und die Schweiz,[20] wo die Beibehaltung oder Etablierung einer allgemeinen (ordentlichen) Gerichtsbarkeit in einer mehr oder weniger reflektierten Abgrenzung zum französischen Modell erfolgte und typischerweise von einem Misstrauen gegen die (monarchische) Exekutive getragen war.

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Vor diesem Hintergrund haben sich in Europa im Wesentlichen drei Modelle des Verwaltungsrechtsschutzes herausgebildet:



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Ein genauerer Blick zeigt freilich, dass die Prototypen nirgends vollständig verwirklicht oder kopiert worden sind. Das gilt in besonderem Maße für die Schweiz, wo sich auf kantonaler Ebene unterschiedliche Modelle für die Ansiedlung des Verwaltungsrechtsschutzes innerhalb oder außerhalb der allgemeinen Gerichtsbarkeit durchgesetzt haben (sog. „Berner Modell“, „Basel-städtisches Modell“ sowie ein Mischmodell),[35] auf Bundesebene 2007 ein (erstinstanzliches) Bundesverwaltungsgericht eingerichtet wurde[36] und sich die Verwaltungsgerichtsbarkeiten von Bund und Kantonen unter dem gemeinsamen Dach des Bundesgerichts als Beschwerdeinstanz befinden.[37] Blickt man auf die Systeme mit Einheitsgerichtsbarkeit, so finden sich – wie in Großbritannien mit den tribunals und dem Administrative Court – in jüngerer Zeit zumindest auf unterer Ebene organisatorisch verselbständigte Verwaltungsgerichte; auch haben die allgemeinen (ordentlichen) Gerichte – wie in Großbritannien,[38] den Niederlanden[39] oder Schweden[40] – in der Regel besondere, auf verwaltungsrechtliche Streitigkeiten spezialisierte Spruchkörper eingerichtet. Hingegen gibt es selbst in Frankreich, ungeachtet der dominierenden Rolle des Conseil d’État, auch einige begrenzte Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte im Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes.[41]

b) Verwaltungsgerichtliche Zweckmäßigkeitskontrolle

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Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus der Verwaltung heraus hat in einer Reihe von Staaten nicht nur dazu geführt, dass diese wie in Frankreich (theoretisch) noch immer als Teil der Verwaltung begriffen wird.[42] In anderen Rechtsordnungen ist es insofern gar nicht zu einer vollständigen Trennung von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gekommen, als die (Verwaltungs-)Gerichte teilweise auch dafür zuständig sind, die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu kontrollieren. Diese in Deutschland (§ 68 ff. VwGO) und anderen Staaten in verwaltungsrechtliche Vorverfahren[43] ausgelagerte Aufgabe wird in Polen,[44] Schweden,[45] aber auch durch die tribunals in Großbritannien[46] (auch) von Gerichten wahrgenommen. Um Verwaltungsrechtsschutz im engeren Sinne geht es dabei allerdings nicht, sondern um eine Funktionenverschränkung zwischen Zweiter und Dritter Gewalt.

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › I. Grundzüge des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › 3. Richter als Quelle des Verwaltungsrechts

3. Richter als Quelle des Verwaltungsrechts

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Verwaltungsrecht ist in nahezu allen (Teil-)Rechtsordnungen historisch und funktional zudem vor allem Richterrecht. Das lässt sich für Deutschland an der Rolle des Preußischen Oberverwaltungsgerichts ebenso festmachen wie an jener des Bundesverwaltungsgerichts,[47] für Frankreich an der herausragenden Rolle des Conseil d’État,[48] für Griechenland an der Rolle des Staatsrats[49] und für die Europäische Union an der nicht minder prägenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Soweit es an normativen Vorgaben fehlte, waren bzw. sind die Gerichte jeweils dazu gezwungen, unter Rückgriff auf das Zivilrecht, das nationale Verfassungsrecht oder die Rechtsvergleichung allgemeine Rechtsgrundsätze zu entwickeln und weiter zu verfeinern.

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Diese Pionierfunktion hat die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit geprägt – im Verhältnis zur Exekutive wie zur Legislative. In den meisten Veraltungsrechtsordnungen Europas konnte der Gesetzgeber Kodifikationen grundlegender Bereiche oder allgemeiner Teile nur bewerkstelligen, indem er an die richterrechtliche Entfaltung allgemeiner (Verfassungs-)Grundsätze angeknüpft hat.[50] Es ist auch kein Zufall, dass er dabei äußert behutsam zu Werke geht und sich – aus nachvollziehbarem Respekt vor der Vielfältigkeit und Unüberschaubarkeit der Materie – in der Regel auf die Nachzeichnung der in der Praxis entwickelten und einigermaßen etablierten Institute beschränkt. In Frankreich ist der Respekt vor dem Richterrecht so groß, dass von einer Kodifizierung sogar eine Bedrohung der historisch gewachsenen und allgemein akzeptierten Rolle des Conseil d’État befürchtet wird.[51]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz

II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz

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Rechte sind nur und erst dann effektiv, wenn sie im Konfliktfall auch durchgesetzt werden können.[52] Das gilt insbesondere gegenüber der öffentlichen Gewalt, d.h. dem Staat und seiner Verwaltung. Aus diesem Grunde haben eine Reihe von europäischen Verfassungen ausdrückliche Rechtsschutzgarantien verankert, die jedenfalls auch den Verwaltungsrechtsschutz abdecken (1.). Teilweise ergibt sich dieser aus allgemeinen Grundsätzen (2.), wobei eigentlich jedem (Grund-)Recht die Durchsetzbarkeit schon wesensmäßig innewohnt (3.).

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz › 1. Ausdrückliche Rechtsschutzgarantien

1. Ausdrückliche Rechtsschutzgarantien

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Was Deutschland angeht, so haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes dieser Einsicht mit der ausdrücklichen Verankerung der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Rechnung getragen, wo es heißt: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes wollte man die Selbstherrlichkeit des Staates und seiner Verwaltung gegenüber dem Bürger beseitigen oder doch dämpfen[53] und ihm einen „substantiellen Anspruch auf eine auch tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“ verleihen,[54] ohne den gerichtlichen Kontrollauftrag allerdings zu verabsolutieren.[55] Diese Garantie hat eine für das Staat-Bürger-Verhältnis prägende Bedeutung,[56] weil sie eine Wehrlosigkeit des Einzelnen gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung verhindert und beide dazu anhält, auf Augenhöhe über die Reichweite von Rechten und Befugnissen zu streiten. Zu Recht ist Art. 19 Abs. 4 GG denn auch schon früh als Eck- bzw. „Schlussstein der rechtsstaatlichen Ordnung“[57], als „Motor des Ganzen“ und als „Energiesammelpunkt“ der grundgesetzlichen Ordnung beschrieben worden.[58]

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Neben ihrer primären Funktion, effektiven Individualrechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt grundrechtlich zu verbürgen, ist die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG aber auch ein wesentlicher Baustein des gewaltenteiligen Staates (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Diese staatsorganisationsrechtliche Dimension ist deutlich älter. So gesehen ist sie vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, deren Wurzeln bis in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und zu den Anfängen des Rechtsstaats im 19. Jahrhundert zurückreichen,[59] und steht hier – im Zusammenspiel mit anderen Bestimmungen der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Art. 92 f., Art. 97 und Art. 100 GG) – für ein im europäischen Vergleich herausragendes institutionelles Gewicht der Dritten Gewalt.[60]

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Ausdrückliche Rechtsschutzgarantien kennen aber auch die Verfassungen vieler anderer europäischer Staaten, so etwa Griechenland (Art. 20 Abs. 1 Verf. 1975),[61] Italien (Art. 24 Abs. 1 und 2 Cost.),[62] Polen (Art. 45 Abs. 1, Art. 77 Abs. 2 und Art. 78 Verf.),[63] die Schweiz (Art. 29a BV),[64] Spanien (Art. 24 Abs. 1, Art. 53 Abs. 2 und 3 CE)[65] oder Ungarn (Art. 25 Abs. 3 Satz 1 und Art. XXVIII. Abs. 7 GrundG),[66] und neuerdings auch die Europäische Union (Art. 47 GRCh).[67] Für manche von ihnen – Art. 24 CE oder Art. 29a BV etwa – hat Art. 19 Abs. 4 GG Pate gestanden, auch wenn die „Nachbilder“ alles andere als Kopien sind. So geht etwa Art. 24 Abs. 1 CE über Art. 19 Abs. 4 GG insoweit hinaus, als er sich nicht auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Staat-Bürger-Verhältnis beschränkt, sondern allgemeiner – d.h. auch mit Blick auf Privatrechtsverhältnisse – einen effektiven Rechtsweg verbürgt.[68]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz › 2. Rechtsstaatlichkeit und Rule of Law als Grundlage des Verwaltungsrechtsschutzes

2. Rechtsstaatlichkeit und Rule of Law als Grundlage des Verwaltungsrechtsschutzes

a) Ungeschriebene verfassungsrechtliche Grundlagen

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Das Verfassungsrecht in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich oder Schweden[69] kennt hingegen keine spezifische Rechtsschutzgarantie. Gleichwohl lässt sich hier allgemeinen Grundsätzen wie der Rechtsstaatlichkeit oder der rule of law – häufig unter Einbeziehung von Art. 6 und 13 EMRK bzw. Art. 47 GRCh – eine allgemeine Justizgewährungspflicht entnehmen, die den Staat verpflichtet, auch gegenüber Rechtsverletzungen der Verwaltung einen effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte zu gewähren. So hat in Frankreich etwa der Conseil d’État unter dem Einfluss der EMRK ein „droit des personnes intéresées d’exercer un recours effectif“ als Grundrecht anerkannt,[70] während die Gerichte in Großbritannien dem common law und der rule of law als einem wesentlichen Teil derselben auch in Verwaltungsstreitsachen einen Anspruch auf Zugang zu Gericht entnehmen.[71] In den Niederlanden,[72] Österreich[73] und Schweden[74] haben dagegen Art. 6 und 13 EMRK bzw. Art. 47 GRCh die Rolle einer auch nationalen Rechtsschutzgarantie übernommen.