Geschwistergeschichten

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Die vertrauten und stärkenden Worte schienen eine Art heilende Kraft zu haben. Wenn diese nichts nützten, war die «Verbindung zu Gott» unterbrochen. Wörtlichkeit war wichtig und wurde ernst genommen. Früh gab man den Kindern Sprüche mit auf den Weg, die als Lebensmotto dienten; so zum Beispiel den Konfirmationsspruch, der oft bei der Abdankung als wegweisend für dieses Leben zitiert wurde.

Selbst im spielerischen Zeitvertreib standen das Wissen und das Wort im Zentrum, so spielte man an Sonntagabenden das biblische Namenspiel.250 Sophie exerzierte ihr Wissen als Jugendliche, wenn sie sich mit ihrem Bruder Karl im Zitieren von lateinischen Klassikern duellierte.251

In der nächsten Generation führte die engagierte Lehrerin Paula in moderner Form das Aufsagen und Zitieren weiter. Sie legte auch auf das Schauspiel wert und orientierte sich an den Lebenswelten der Kinder. Die Nichten und Neffen der Tanten durften in ihren Ferien Theaterstücke aufführen, in welchen sie als Berge oder als Pflanzen kleine Gedichte aufsagten.252 Auf der Fotografie sind die Nichten und Neffen Paulas, die unter der Regie ihrer Tante zum Geburtstag ihres Vaters Walter als Bergblumen auftraten und Verse vortrugen: «Jedes als Geburtstagsgruss. Da war beispielsweise Ruedi ein Enzian und wir haben aus Creppappier Blumen gebastelt. Hanswalter war ein Pilzli.»253

BEDEUTUNG DER FAMILIÄREN GEMEINSCHAFT

Nach der Darstellung des Umfeldes, das die Lebenswelten der Geschwister Schnyder geprägt hat, möchte ich anhand von zwei Quellen die Frage nach den unterschiedlichen «Ergebnissen» einer Jugend als Pfarrerskind stellen. In den zwei Fallstudien werden Tradition, Norm und Erwartung des Herkunftshauses einmal als fördernde, das andere Mal als belastende Hypothek beleuchtet. Die Kluft zwischen den beiden unterschiedlichen Lebensdarstellungen macht die Spannweite der vorgegebenen Strukturen der gemeinsamen Herkunft sichtbar.

TRADITION, RELIGION UND BÜRGERLICHE NORMEN: MEMOIREN DES ÄLTESTEN BRUDERS

1986 hatte Martha Ruth Schnyder, die jüngste Tochter Ernsts, eine ganze Sammlung unterschiedlicher autobiografischer Dokumente ihres Vaters zusammengestellt und fotokopiert. Der Titel und das Inhaltsverzeichnis deuten darauf hin, dass diese Arbeit der Tochter nicht nur der Darstellung des Lebens des Vaters, sondern auch einer Bewusstseinsbildung innerhalb der Grossfamilie diente.254 Martha Ruth stellte die Daten für ihren Neffen zusammen und betonte so als ledige Tante ihre direkte Verknüpfung und Nähe mit den Nachkommen ihrer verheirateten Schwestern.

Keine der Selbstdarstellungen der Geschwister nimmt so vollständige Formen einer kohärenten Erzählung an wie die Dokumente des Ältesten. Damit hatte er für seine Nachkommen ein Bild gezeichnet, welches ihn überdauern konnte und ihn, so wie er sich selbst verstand und sah, repräsentierte. Ernst schrieb sich selbst eine Schlüsselrolle innerhalb der Familie zu und bildete mit seiner Erzählung die direkte Weiterführung der Lebensgeschichte des Vaters. Besonders unterstützt wurde diese Erzählung durch die Tatsache, dass der Erstgeborene am Geburtstag des Vaters zur Welt gekommen war: «Sein Ältester erschien am 28. Geburtstag des Vaters, so dass sein Mund von Lob und Dank überfloss und er den 103. Psalm betete aus übervollem Herzen.»255

Die Quellen von Ernst verhelfen dazu, Normvorstellungen aufzuspüren, die, einem Über-Ich gleich, für alle Geschwister prägend waren. Auch wenn niemand den strengen Werten entsprechen konnte, galten diese doch als Massstab. So schrieb Hedwig, bereits Gouvernante bei Herrschaften in Mailand, an ihren jüngsten Bruder Walter, der sich ebendort in der Welt der Aristokratie als junger Hauslehrer zurechtfinden musste, er müsse sich daran gewöhnen, dass nicht alles mit der Bischofszeller Messlatte gemessen werden könne: «Du kannst Studien aller Art machen und wenn auch Deine Leutlein nicht grade nach dem Bischofszeller-Model gemacht sind, so will das noch nicht heissen, dass sie ganz zu verurteilen sind. Der liebe Gott hat eben die mannigfachsten Kostgänger und es wäre entschieden langweilig in der Welt, wenn sich alle Leute gleichen würden, der Bischofszeller Massstab ist leider sehr klein und erlaubt daher ganz wenig Spielraum. [...] Wenn Mama und Lilly ganz genau wüssten, wie es hier manchmal zugeht und aussieht, das Höllenfeuer wäre noch zu mild für sie. Immer in relativ ruhigen behaglichen, geordneten Verhältnissen sein Leben zubringen, heisst eben auch leicht einen engen Horizont bekommen.»256

Nicht Ernst oder die Schnyders waren für diese Werte- und Normenskala zuständig, sondern das provinzielle Bischofszell. Die Vertreterinnen dieser engen Werte waren die Mutter und die älteste Schwester, die von Hedwig als kontrollierende Instanzen wahrgenommen wurden. Die Geschwister mussten Strategien entwickeln, sich zwischen ihrer Lebenswelt, ihren Bedürfnissen und dem verinnerlichten Wertemassstab zu bewegen. So empfahl die Schwester dem Bruder im selben Brief, nur das zu schreiben, was die in Bischofszell Gebliebenen aus ihrer beschränkten Warte verstehen konnten.257 Die von Hedwig angesprochene Zensur betraf Verstösse gegen die christliche Praxis, die für eine Pfarrfamilie verbindlich war: «Keine Flüche, keine ‹hässlichen Worte›, kein Sich-gehen-Lassen, pünktliche Beherrschung bürgerlicher Formen, gehorchen ‹aufs Wort›. Die Pfarrfamilie repräsentierte christlich-bürgerliches Leben und setzte Massstäbe dafür.»258

Diese Massstäbe werden in den Dokumenten Ernsts vielfach gespiegelt. Dazu gehörte auch Selbstkritik als Bestandteil eines ehrlichen Geständnisses vor Gott. Das Leben des folgsamen Pfarrerssohns wurde in der Selbstdarstellung nicht narzisstisch gefeiert. An einigen Stellen besann sich der alte Memoiren-Schreiber, dass er wohl ungnädig oder zu wenig aufmerksam war gegen seine Schwester oder Launen an seiner Frau oder seinen Schülern ausgelassen hatte. Jedoch wird durch die Beschreibung seines enormen Arbeitspensums klar,259 dass der nimmermüde Diener Gottes sich nicht durch Herrschsucht oder als Patriarch so verhielt, sondern aus Unwissenheit und Diensteifer.

Die Entscheidung, was erwähnt und was ausgelassen wurde, ist von grosser Bedeutung. Der Schreibende kannte sich in den Formen des Erzählens aus und wusste, welche Geschichten in den Vordergrund gerückt werden sollten. Er wog bei heiklen Themen sorgfältig ab, was er ansprach und was er nur andeutete. Schliesslich war er mehr als 35 Jahre ein einflussreicher Pfarrer in Schaffhausen, es war ihm sicher ein Anliegen, sein Leben in würdevoller Weise darzustellen.

Die Selbstzeugnisse von Ernst Schnyder präsentieren sich im Inhaltsverzeichnis der sauber gebundenen Familiensaga folgendermassen: «Mein Dank. Von Vater am 28. März 1959 geschrieben. 2 Seiten.», «Die Daten meines Lebens. Von Vater Ende der 50er Jahre aufgestellt. 2 Seiten.», «Mein Leben. Autobiographischer Bericht, im Oktober 1958 beendet. 68 Seiten.», «25 Jahre Pfarrer in Schaffhausen. Von Vater vermutlich 1935 verfasst.» Darauf folgen Nachrufe, die anlässlich der Abdankung 1961 erschienen.260 Die vier autobiografischen Quellen wurden von Ernst Schnyder mit Schreibmaschine geschrieben. Es handelt sich um rückblickende Texte, die durch eine zusammenfassende Erzählung aus den einzelnen Episoden des Lebens eine in sich geschlossene Geschichte machen und dem Leben so einen Sinn und eine Richtung geben.261

Das erste Dokument «Mein Dank!» beinhaltet eine zwei Seiten lange Aufreihung von Personen, denen sich der 83-Jährige verpflichtet fühlte. An erster Stelle kommt der Dank an Gott, «meinen Schöpfer», danach an die Eltern, an die Geschwister, im Besonderen an die Schwester Hanni, die ihm den Haushalt während sieben Jahren machte, dann an die Frau und an seine fünf Töchter, von welchen ihn zwei bis in seinen Ruhestand begleiteten und ihn betreuten. Danach folgen Verwandte, dann Lehrer und Kollegen. Anhand der Reihenfolge der Danksagung wird sichtbar, welchen Stellenwert die Personen in der Geschichtsschreibung und in der Werteordnung des Autors hatten. Bedeutend ist, dass die Herkunftsfamilie mit weit mehr Text und vor der eigenen Familie erwähnt wird. Wichtig ist auch, dass alle Lehrkräfte erwähnt werden, die Sonntagsschullehrerinnen, die dem Pfarrer die biblischen Geschichten erzählten, inbegriffen. Sie gehörten zum System, das dieses Leben gestaltete. Wenn sie auch namenlos blieben, so mussten sie doch im Dank eingeschlossen werden.

Im Gegensatz zu diesem Dokument, welches das aufwändige Personal bei der Mitgestaltung dieses erfolgreichen Lebens aufzählt, stellen die drei folgenden autobiografischen Texte den Werdegang des Pfarrerssohns zum Pfarrer dar. Eine explizite Begründung, für wen oder weshalb die Autobiografie geschrieben wurde, findet sich nicht.

DER SOHN ALS REINKARNATION DES VATERS

Entscheidend in den Memoiren Ernsts ist die Figur des Vaters, der als Führer und später als Freund dargestellt wird. Durch seine Position als Ältester von zwölf Geschwistern kommt ihm eine besondere Stellung zu, die sich durch den frühen Tod des Vaters verstärkt. Die familiären Verhältnisse präsentiert der Memoiren-Schreiber als harmonisch, obwohl der Tod der Mutter als einschneidendes Erlebnis geschildert wird. Unmut und Kritik an den Eltern können nur erahnt werden, so zum Beispiel die jährlich hinzukommenden kleinen Geschwister, die dem kleinen Ernst nicht immer Freude bereiten mochten: «Meine ‹Ferien› fielen gewöhnlich zusammen mit der Ankunft eines neuen Geschwisters in Fehraltorf».262 Der kritische Unterton – wenn überhaupt – kann höchstens an den Anführungsstrichen erkannt werden. Die Beschreibung des Durchbruchs des Gotthardtunnels während des festlichen Akts der Installation des Vaters in Zofingen, der Besuch der 500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach sowie Wanderungen mit dem Vater zeigen auf den ersten Seiten einen vaterlandsbegeisterten strebsamen Pfarrerssohn, der auf den Spuren des Vaters bereits mit 14 Jahren ins «Rebhaus» in Basel zog, «das christliche Herren für ein Internat für Gymnasiasten, die einmal Pfarrer zu werden hofften, gekauft und eingerichtet hatten».263 Der Vater begleitete den Sohn auf diesem Weg und schien grundsätzlich für dessen Wohl und Bildung zuständig gewesen zu sein: «Als ich mein Prope bestanden hatte, überraschte mich Vater mit dem Vorschlag, ich dürfe nach Berlin gehen für 2 Semester. Die meisten Theologen gingen damals nach Marburg zu Ritschl oder Halle zu Kähler. Aber kurz vorher war unser St. Galler Landsmann Prof. Adolf Schlatter von Greifswald nach Berlin berufen worden von Kaiser Wilhelm II. Die grösste Berühmtheit unter den Theologen war Harnack, aber auch Kaftan und Pfleiderer und der Philosoph Paulsen und der Historiker Treitsch waren grosse Anziehungspunkte.»264

 

Adolf Schlatter galt als einer der selbständigsten Neutestamentler und Systematiker und war Schüler von Tobias Beck. Er bestand auf der Einbeziehung historischer Arbeit in die Bibelauslegung und verschaffte so den pietistischen Theologen den Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs.265

Was die Memoiren Ernsts in aussergewöhnlicher Weise ergänzt, ist sein Bericht über das Leben seines Vaters, den er 1916 zum Geburtstag seiner Mutter verfasste.266 Dieses in einem unpersönlichen Erzählstil verfasste Lebensbild, in welchem der allwissende Autor sich nur im Titel als Sohn zu erkennen gibt, weist bestechende Parallelen zur Autobiografie Ernsts auf, die etwa 30 Jahre später verfasst wurde. So wählte der Sohn für die Beschreibung und für die Schlüsselmomente in seinem Leben exakt die gleichen Worte wie in der Lebensbeschreibung seines Vaters. Es scheint, er schrieb schon 1916 an seiner eigenen Geschichte, indem er eine Biografie seines Vaters verfasste. Nicht nur das übereinstimmende Geburtsdatum, wie es weiter oben zitiert wird, lädt zu parallelen Lebensdarstellungen geradezu ein. Auch der gleiche Beruf, der vom Moment des Gymnasiums an in allen Ausbildungsstationen mit dem des Vaters übereinstimmt, lässt den Lebensweg des Sohnes als Kopie und Fortführung erscheinen: «Der älteste Sohn hatte zur grossen Freude des Vaters das Studium der Theologie ergriffen. Vater und Sohn traten immer mehr in ein rechtes Freundschaftsverhältnis.»267

Das Freundschaftsverhältnis hatte auch pragmatische Gründe, denn die Pfarrstelle des Vaters war gleichzeitig die zukünftige Vikariatsstelle des Sohnes. Dies bedeutete für den Vater eine grosse Entlastung in seinem alltäglichen Pensum. Das Nachziehen von Pfarrerssöhnen bildete eine Art Hinterbliebenenversicherung im Falle eines frühen Todes des Pfarrers. Dies wird aus Ernsts Beschreibung des Todes des Vaters, als er bereits als Pfarrer in Nesslau arbeitete, deutlich: «Am 13. Februar, seinem und meinem Geburtstag, sahen wir uns zum letzten Mal, machten noch einen kleinen Spaziergang. Im Studierzimmer versammelte er uns anwesende Geschwister und legte uns seine bescheidene Vermögenslage dar. Das war mir unheimlich, er dachte offenbar an sein baldiges Sterben. Am 26. März kam am morgen ein Telephon, wir, Hanny und ich, sollten sofort heimkommen, Vater sei krank. Wir machten uns rasch bereit. Ich musste noch meine Konfirmanden entlassen, die auf den Unterricht warteten. Mit einer Kutsche fuhren wir nach Ebnat und von dort nach Bischofszell. Wir trafen leider den Vater schon im Koma diabeticum, konnten nicht mehr mit ihm reden, immerhin öffnete er noch die Augen, wenn ich ihn rief und ihm Bibelsprüche und den 23. Psalm vorsagte. Ich wachte die ganze Nacht bei ihm, am Vormittag des 27. März 1901 gab er den Geist auf. Es war Mittwoch vor Palmsonntag! Ich eilte zu Notar Müller, dem Präsidenten des Kirchenstandes, und wir wurden einig, dass die Beerdigung am Freitag stattfinden sollte. Ich schrieb die Personalien, so schön ich konnte, aber der Dekan las sie doch sehr mangelhaft. Auch die Predigt des alten Reformers befriedigte nicht. Ich musste so schnell als möglich wieder zu meiner Gemeinde. Auf dem Bahnhof Bischofszell sagte mir ein Kirchenvorsteher: jetzt müssen sie zu uns kommen, um Ihrer Familie willen. [...] Mit schweren Gedanken reiste ich heim nach Nesslau. Die Gemeinde war mir sehr an’s Herz gewachsen, es wäre mich sehr hart angekommen, sie zu verlassen und doch musste ich immer wieder denken, ob ich der Familie schuldig sei nach Bischofszell zu kommen. Es wäre ja so einfach gewesen, wenn die grosse Familie im Pfarrhaus hätte bleiben können.»268

Der Tod des Vaters wurde von Ernst Schnyder detailliert dargestellt. Ausser Hanny wird niemand von der Familie erwähnt. Ernst stand ganz im Zentrum des Interesses: Nun war er als ältester Sohn Vaterersatz für die noch unerwachsenen Kinder. Das Aufrechterhalten sowohl des gemeinsamen Wohnsitzes als auch des sozialen Prestiges hing von der Entscheidung des Sohnes ab, die Gemeinde zu übernehmen. Interessant ist, dass sich der junge Pfarrer nicht für die Übernahme der väterlichen Stelle entschied. Dieser Entscheid wurde auch von der Mutter und den Geschwistern unterstützt, die andernfalls die Heiratschancen Ernsts schwinden sahen: «Zu meinem Trost waren auch meine Mutter und die Geschwister nicht dafür, dass ich nach Bischofszell komme, weil sie wussten, wie glücklich ich in Nesslau war und wie glücklich die jüngern Geschwister waren, einen so idealen Ferienort zu haben. Andererseits dachte meine Mutter wohl auch, wenn wir im Pfarrhaus Bischofszell zusammenwohnen würden, könnte ich nicht heiraten.»269

Während man die Verunmöglichung einer Heirat des Bruders als ein unangemessenes Opfer zu Gunsten der Herkunftsfamilie verstanden hätte, entsprach die Rolle der Schwester, die für die Herkunftsfamilie ledig blieb, einer gängigen Norm.270

In der Autobiografie Ernsts wird kein Konflikt mit dem Vater erwähnt, wie überhaupt Konflikte nur sehr knapp zur Darstellung kommen: «Die Ablösung vom Vater war für Pfarrerskinder, die Theologie studierten, besonders schwer. Von klein auf waren sie so von seinem Glauben, seiner Amtsauffassung, seiner theologischen Denkweise geprägt, dass ein Emanzipationsprozess fast notwendigerweise krisenhaft verlaufen musste.»271 Aus der Selbstdarstellung Ernst Schnyders wird kein krisenhafter Emanzipationsprozess sichtbar. Es zeigt sich vielmehr der gerade Weg vom Pfarrerssohn zum Pfarrer, auf welchem die Tradition übernommen und die Werte verinnerlicht wurden. «Sei getrost und sei ein Mann und warte der Hut des Herrn, deines Gottes, dass du wandelst in seinen Wegen.»272 So lautete der Konfirmationsspruch, den der Sohn vom Vater auf den Weg erhielt und der ihn ein Leben lang begleitete und bis in die mächtigsten Positionen führte, die ein Pfarrer im Kanton Schaffhausen bekleiden konnte.

Es ist schwer zu sagen, wie weit eine bewusste Absicht bestand, die Nähe zum Vater in der Selbstdarstellung herzustellen. Es ist jedoch offensichtlich, wie erfolgreich dieses Rezept in der Praxis war. So schien Ernst mit wenigen Hindernissen gekämpft zu haben, bis er in der Position des Gemeindepfarrers stand. Erst als Pfarrer in Schaffhausen sah er sich in der Auseinandersetzung mit seinen Kollegen Kritik und Angriffen ausgesetzt, während er in der kleinen Berggemeinde in Nesslau der beliebte junge Dorfpfarrer war, wohl einer der wenigen Akademiker in der Gegend und eine Respektsperson.

Der kurz nach der Autobiografie verfasste Text «Mein Dank!» von Ernst Schnyder endet mit den Bibelworten: «Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, die er an seinem unwürdigen Knecht getan hat. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.»273 Der aufrichtige Glaube an diese Gnade stand im Weltverständnis von Ernst Schnyder in direktem Zusammenhang mit der Gnade, die schon seinen Eltern zuteil wurde. So legte er seinem Vater und seiner Mutter dieselben Worte bereits in der Biografie des Vaters 1916 in den Mund: «Beim Abschied von Zofingen erfuhren die Pfarrersleute noch viel Zuwendung und beim Rückblick auf alles Gute, das ihnen der Herr trotz allem Schweren auch hier erwiesen, drängten sich ihnen die Worte Jakobs auf die Lippen: Herr ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte getan hast.»274

Wie viel gestaltende erzählerische Arbeit hinter einer solch geschlossenen Darstellung liegt, wird aus den Auslassungen sichtbar, die im Weiteren betrachtet werden sollen.

BEREDTES SCHWEIGEN

Die emotionale und detaillierte Schilderung des Todes des Vaters hebt sich deutlich von der Beschreibung des Todes der Gattin ab, die früh an einem Herzinfarkt starb. Diese Ähnlichkeit im Leben von Sohn und Vater, die beide ihre erste Frau früh verloren, wurde nicht als Parallele dargestellt.

Die ausführliche Beschreibung des Todes des Vaters und das emotionale Engagement des Sohnes mögen Hinweise auf ein eigentliches Abweichen des Sohnes vom vorgegebenen Weg sein. Ich möchte dies im Zusammenhang mit Ernsts Entscheidung betrachten, nicht des Vaters Stelle zu übernehmen und also nicht Stellvertreter des Vaters zu werden. Im autobiografischen Dokument «Mein Leben», scheint es, dass der Autor seine Entscheidung, in Nesslau zu bleiben, gut begründen musste. Durch die emotionale Erzählung und die Schilderung der persönlichen Situation Ernsts können die Nachkommen verstehen, weshalb Ernst sich hier für sich selbst und nicht für die Mutter und die Geschwister entschieden hat. Insbesondere die Erwähnung, dass die Familie diesen Entscheid unterstützte, hinterlässt das Bild eines harmonischen Entscheides. Die Schilderung der Bemühungen von Ernst, die Verhältnisse in der vaterlosen Grossfamilie zu klären, zieht sich über eine ganze weitere Seite des Lebensberichts weiter und weist den Ältesten als besorgt um seine Familie aus.

Dagegen nimmt sich die Beschreibung des plötzlichen Todes der eigenen Gattin Luise seltsam nüchtern und fragmentarisch aus. Zwar erhält sie im Zusammenhang mit ihrem Tod – erstmals! – in rührender Weise ein Profil als höchst tätige und hilfreiche Pfarrersfrau.275 Diese Beschreibung dient sozusagen als narrative Einleitung zum detaillierten Bericht des Tages, an welchem sie starb. Der Tod selbst und die Trauer darüber werden kaum berührt. «Der Sonntag, 3. März 1929 war für sie ein strenger Tag und sie erklärte schon am morgen, sie sei sehr müde. Aber sie ging am Vorm. zur Kirche, am Nachm. machten wir einen kleinen Spaziergang nach Feuerthalen und einen Besuch bei den jungen Pfarrersleuten daselbst, um 5 Uhr hielt Pfr. Hoch von Riehen einen Vortrag mit Lichtbildern in der Münsterkapelle, den sie doch auch miterleben wollte. Am Abend hatten wir die Konfirmandinnen, die Klasse, zu der unser Vroni gehörte, eingeladen, es wurde ein sehr lebhafter, lustiger Abend mit vielen Spielen, wir kamen spät zur Ruhe. Am Montag war ich den ganzen Vormittag in der Gemeinde zu Kranken- und Konfirmandenbesuchen. Als ich um 12 Uhr heimkehrte, teilte sie mir mit, dass eine Frau auf dem Emmersberg gestorben sei und mahnte mich, es doch ja nicht zu vergessen. Beim Mittagstisch am vollbesetzten Tisch sank sie plötzlich um ‹Jetzt wird’s mir schlecht!› waren ihre letzten Worte. Wir legten sie auf die Chaiselongue im Schlafzimmer, aber der Arzt, der augenblicklich kam, sah schon unter der Türe, dass nichts mehr zu helfen war, sie war an einem Herzschlag gestorben. Wie ein gewaltiger Donnerschlag traf uns alle dieser plötzliche Hinschied. Es war das einschneidendste Ereignis in meinem Leben, aber wohl auch im Leben meiner Kinder.»276

Keine Beschreibung der Abdankungsfeier, kein Bibelspruch und kein Lied wurden an dieser wichtigen Lebensstelle angefügt. Nicht einmal der sonst viel zitierte Gang zum Grab und der Gesang am Grab wurden erwähnt. Die Erschütterung des Gatten durch den plötzlichen Tod der Frau musste im Lebenslauf nicht weiter begründet werden. Daher folgten im Weiteren organisatorische Details, wie die Kinder versorgt wurden, wie der Vater «unter Tränen» die sechzehnjährige Vroni in Montmirail abgab, wie Marthy, eine der Schwestern von Ernst, die älteste Tochter Margrit in die Haushaltsführung einarbeitete und diese ihre ursprüngliche Bestimmung als Lehrerin aufgab. Für den zu diesem Ereignis parallel stehenden Tod der Mutter von Ernst, Sophie Schnyder, verwendete der Autor 30 Jahre vorher im Lebensbild des Vaters eine ganz andere Sprache: «Da kam das Leid und pochte mit hartem Finger an die Türe. Er kam und riss aus dem lieblichen Familienkreis die treue Mutter. Das 6. Kindlein hatte ihr das Leben gekostet. Mutter und Kind wurden unter Blumen miteinander in den Sarg gebettet. So ernst redete der Herr mit seinem Knechte; aber er beugte sich unter die Hand seines Gottes und versuchte mit Hiob zu sagen: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobet.»277

 

Ist es die Veränderung der Sprache, die 1958 eine ähnliche Beschreibung nicht mehr möglich machte? Weshalb dann wurden andere Stellen fast wörtlich zitiert? Sicher war für Ernst die Form der Erzählung «Lebensbild eines lieben Entschlafenen», die in schwärmerischem Ton geschrieben ist, entschieden anders als die Form seiner Memoiren, wo eher ein abgeklärter Stil vorherrscht. Und natürlich ist die Stimme des zu diesem Zeitpunkt fast 80-Jährigen eine andere als die des Pfarrers in den besten Jahren. Vor allem aber scheint bei der Beschreibung des Verlustes der Gattin die Entscheidung des Autors im Vordergrund gestanden zu haben, das ganz Private für sich zu behalten. So bleibt die Tatsache, dass das «einschneidendste Ereignis» zugleich in Schweigen gehüllt wurde, gewichtiges Zeichen der Strategie des Erzählers. Auch dass die Floskeln des pietistischen Umgangs mit dem Tod hier fehlen, mag Zeichen der direkten Betroffenheit sein.

Auffallend ist, dass Ernst Schnyder in seiner Autobiografie kaum über die Beziehung zu seiner Ehefrau und ihr gemeinsames Pfarrleben schreibt. Während die Brautbesuche, die Hochzeit und die Hochzeitsreise in fröhlichen und schillernden Tönen beschrieben werden, schien Ernst im Alltag im Pfarrhaus wenig mit seiner Frau zu tun gehabt zu haben. Immer wieder erscheint in Briefen und in den Autobiografien der Selbsttadel, dass er sich kaum Zeit genommen habe für seine Gattin.278 Der Tod des ersten Kindes und Luises Krankheit während des Wochenbetts und eine darauf folgende Kropfoperation lassen in der Erzählung eine gewisse Intimität aufkommen. Über Luise, die junge Pfarrfrau, wird nach diesen ersten vier Seiten über 18 Seiten nichts mehr berichtet. Dann, in kurzer Folge, die Geburten der Töchter, ein Dank an die Mutter, die vor allem für die Kinder gut gesorgt habe, und ein halbseitiges Bild der überaus tätigen Pfarrfrau, bevor ihr letzter Tag beschrieben wird.

Die Randexistenz der Ehefrau in dieser männlichen Autobiografie entsprach wahrscheinlich der Wahrnehmung des Pfarrers. So musste Ernst wohl zu Beginn der Ehe mit Luise erstmals Energie für diese neue Lebenssituation aufbringen. Ebenso, als sich sein Leben wiederum veränderte und die Gattin starb. Das alltägliche Zusammenleben war nicht wichtig oder beschreibenswert, ausser es wurde in Frage gestellt. Welche Teile des Lebens also besonders lang und ausführlich beschrieben wurden, hängt nicht von deren Häufigkeit oder deren existenzieller Bedeutung ab, sondern von der Farbe, die sie dem gesamten Selbstportrait verliehen. So sind es eher die repräsentativen, öffentlichen Auftritte, oftmals nur einmalige Momente, die ausführlich berichtet werden. Das Schweigen braucht nicht Strategie zu sein, sondern ist der Gattung der Autobiografie selbst immanent. So ist es auch weiter nicht erstaunlich, dass die Beziehung Ernsts zu seiner Stiefmutter Caroline Schnyder kaum und ihr Einfluss gerade während der Studienzeit mit keinem Wort erwähnt wird. Aus den Briefen der Mutter wird sichtbar, dass sie mit konkreten Ratschlägen für Lernstrategien am Leben ihres Sohnes interessiert war und für seine eigenen Wertvorstellungen und Ideen wohl ebenso wichtig war wie der Vater. Dies wurde von ihr als guter Mutter auch erwartet: «Für die Kindererziehung bedeutete die ‹neue Häuslichkeit› vermehrte Nestwärme und verstärkte Mutterbindungen. Ein äusserliches Zeichen für diese veränderten Bindungen scheint zu sein, dass die Pfarrmütter (und nicht nur sie) immer mehr zu den Briefpartnern ihrer (im Internat und Pensionen) auswärtigen Söhne werden. Die Mutter hielt die Familie zusammen.»279 Dass sie in Ernsts Darstellung in dieser Hinsicht nicht speziell erwähnt wurde, hat mit einem weiteren Muster beim Schreiben einer Autobiografie zu tun. So erscheint Johannes Schnyder als einzige Instanz, die Ernst ganz direkt beeinflusst und geprägt hat. Zur Zeichnung einer kohärenten Geschichte gehört hier die ungebrochene Linie vom Vater zum Sohn. Die Beziehung der Mutter hätte die Geschichte unnötig komplizierter gemacht und die Position des Vaters relativiert.

So wurden bedeutende Frauen in Ernst Schnyders Autobiografie durch die Erzählung an den Rand gedrängt, während der Vater in die Mitte der Geschichte rückte. Vor allem Ernsts Gattin nimmt sozusagen keinen Raum ein. Hanny, die den Pfarrer in seiner ersten Stelle begleitete, wird liebevoll beschrieben und dafür bewundert, dass sie ganz selbstverständlich die Aufgabe der Pfarrfrau an der Seite des Bruders erfüllte, ohne von ihm Aufmerksamkeit zu verlangen. Durch den frühen Tod der Pfarrfrau rückten die Töchter wiederum stärker in den Vordergrund als die Gattin. Der Vater war für das Wohlergehen der Mädchen zuständig, von denen das jüngste zu diesem Zeitpunkt erst achtjährig war. Auffallend ist, dass die Schwiegersöhne relativ viel Platz einnehmen: Sie bekleideten öffentliche Positionen, gingen in die Mission oder waren Pfarrer, also wichtige Männer und gute Partien für die Töchter. Die zweitälteste und die jüngste Tochter blieben ledig. Durch den Tod der Mutter rückte die Zweitgeborene direkt an die Stelle der Mutter und wurde Ersatzmutter der Jüngsten und Organisatorin im Pfarrhaus. Diese enorm wichtige Position wird aus der Autobiografie nicht ersichtlich. Ernst Schnyder musste ein ambivalentes Verhältnis zu seinen unterschiedlichen «Haus-Frauen» haben. Die Linie führte von der Schwester zur Gattin zur Tochter. Sie füllten Stellen aus, die in der Autobiografie eines bedeutenden öffentlichen Mannes wenig narrativen Wert aufweisen, jedoch Voraussetzung waren, damit die Position gewahrt werden konnte.

Zu einem totalen Schweigen hat sich der Erzähler hinsichtlich des Sterbens seiner Geschwister (mit Ausnahme der Beschreibung des Todes des zweijährigen Pauls) entschieden. So beklagt er den Tod verschiedener naher Kollegen oder Onkel, jedoch keinen Tod seiner Geschwister, obwohl er sieben von ihnen überlebte. Ob dies mit dem Selbstmord der Schwester Sophie zusammenhängt, der in den schriftlichen Dokumenten der ganzen Familie weitgehend verschwiegen wurde? Der einzige Hinweis, der auf dieses Unglück deutet, findet sich ganz zu Beginn der Lebensgeschichte: «Überhaupt hatte ich alle diese Geschwister aus 2. Ehe sehr lieb und war fast verliebt in sie, die kräftige, eigenwillige, hochbegabte Sophie, die später eine so treffliche, aber unglückliche Lehrerin wurde und in Schwermut endete.»280

Ernst Schnyders Memoiren, ehrlich und spannend geschrieben, weisen im Gegensatz zu den Nachrufen, in welchen fast ausschliesslich seine beruflichen Verdienste beschrieben werden, erstaunlich viele Details zur Familie auf. Ernst schrieb seine Lebensgeschichte, um seinen Nachkommen ein Bild von sich und seinem Umfeld zu hinterlassen. Das Geschwisternetzwerk, die Ehebeziehung oder die Beziehung zu den Kindern wird in dieser Darstellung dennoch wenig sichtbar. Diese den Pfarrer täglich umgebenden Menschen scheinen vielmehr der Hintergrund zu sein, vor dem das Leben Ernsts stattfinden konnte. Die Prägung durch den Vater und durch die Herkunftsfamilie der Mutter nimmt dagegen mehr Platz ein. Das weit grösste Gewicht liegt in der Beschreibung des eigenen Werdegangs im Studium und im Berufsleben unter Ausschluss des privaten Lebens.

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