Geschwistergeschichten

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Als historische Quellen, gesammelt und aufbewahrt, sei es als Korrespondenz oder als eine Sammlung eines Briefschreibers, entfalten die Briefe ein Eigenleben. Liest man sie hintereinander, erhalten sie einen anderen Rhythmus als zu der Zeit, da die Empfänger sie sehnlich erwarteten. Dadurch verselbständigen sich die Briefe unabhängig von ihren Autoren und Autorinnen, werden zu Texten, die selbst Geschichte machen und eine Geschichte haben.81 Die schillernde Grenze zwischen Authentizität und Fiktionalität in Briefen wie auch die Eigenart von Briefsammlungen, eine von ihrer historischen Zeit unabhängige Eigendynamik zu entwickeln, müssen mitgedacht und reflektiert werden.82

EGO-DOKUMENTE: WEIBLICHE TAGEBÜCHER – MÄNNLICHE MEMOIREN?

Nebst der Fülle von Briefen liegen Quellen vor, die allgemein als Ego-Dokumente bezeichnet werden können. Unter Ego-Dokumenten versteht die neuere, vorwiegend westeuropäische Forschung «solche Quellen, die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben».83 Texte also, in denen sich ein Ich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt, in denen sichtbar wird, was die schreibende Person beschäftigte, erregte oder betroffen machte.84 Briefe können ebenso zu Ego-Dokumenten gezählt werden wie Autobiografien. Ich vereine hier die beiden Gattungen Memoiren und Tagebuch unter diesem Begriff, da sie beide eine absichtliche Darstellung des Ichs in unterschiedlichen Formen zum Ziel haben. Während ich die Memoiren zu den Texten zähle, in denen sich die Autoren mit einer bestimmten Absicht für ein bestimmtes Publikum in einer einheitlichen Erzählung darstellten, rechne ich die Tagebücher zu den Texten, in welchen sich das Ich in fragmentarischen Momentaufnahmen an sich selbst wendete. Memoiren haben, im Hinblick auf ein zukünftiges Publikum und als rückblickende Erzählform, die Tendenz, eine Lebensgeschichte in einem Strang zu erzählen. Tagebücher hingegen werden in stillen Momenten geschrieben, in welchen sich das schreibende Ich über sein Tagewerk, bestimmte Erlebnisse und Gedanken beugt und seine Beziehung zur Welt, und im pietistischen Tagebuch im Speziellen zu Gott, reflektiert. Tagebücher wurden zwar als ganz persönliche Dokumente geschrieben, deren Einsicht, wenn überhaupt, nur intimen und vertrauten Personen erlaubt wurde. So sind Tagebücher zunächst intime Partner, in welchen offen gesprochen werden soll, wo das Selbst kritisch befragt und «ins Gebet genommen» wird. Es handelt sich also um eine Art Beichte. Diese unterliegt allerdings einer Zensur – dem Wissen um die Möglichkeit eines plötzlichen Gelesenwerdens. Diese Möglichkeit der Aufdeckung der innersten Gedanken und der privatesten Handlungen macht vieles selbst im Tagebuch kaum benennbar.

Tagebücher

Die Tagebücher, die mir zur Verfügung stehen, stammen von drei der acht Schwestern. Sie unterscheiden sich in ihrer Art, da ihre Verfasserinnen sie in gänzlich verschiedenen Lebensphasen schrieben. So gleicht das Tagebuch der jungen Haushaltlehrerin Martha, das sie als Gouvernante in London und während ihrer ersten Stelle als Kochlehrerin und Hausvorsteherin eines Kurhauses schrieb, einer Aufzählung von Tätigkeiten. Es spiegelt eine junge Frau, die sich über ihr Schreiben in ihrer Welt zurechtzufinden versucht. Das daran anschliessende Tagebuch hatte Martha im Nachhinein überarbeitet. Der Text, eine eigentliche Liebesgeschichte, erzählt von der Freundschaft zwischen einem deutschen internierten Offizier und Martha 1919. Im Schreiben versuchte Martha, die Bedeutung ihrer Begegnung mit dem Mann, den sie liebte, aber nicht heiraten konnte, zu ergründen und die schmerzhafte Erfahrung zu verarbeiten.

Das Tagebuch der krebskranken Primarschullehrerin Paula, das diese in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren während Klinikaufenthalten schrieb, lässt die kranke Person sichtbar werden, die von ihrer Arbeit und ihrem sozialen Umfeld getrennt wird. Sie spricht ganz andere Themen an. Auch hat sich die Zeit geändert, was sich in ihrer Schrift, in der Sprache und in den gewählten Themen niederschlägt.

Fragmente des Tagebuches der Lehrerin und späteren Sekretärin Sophie zeigen eine besondere Form der Selbstreflexion: Durchsetzt mit Gedichten, sind die Tage zusammengefasst als kurze Berichterstattungen von kulturellen Programmbewältigungen, Auflistungen von Büchern, die gelesen, Gedichten, die auswendig gelernt, oder Konzerten, die besucht wurden. Diese protokollähnlichen Dokumente lassen die Freizeitgestaltung und die Disziplinierung durch Kultur sichtbar werden und machen diese besondere Form eines Tagebuchs zum Beweisstück erbrachter Leistungen.

Leider stehen mir nur von den Schwestern Tagebücher zur Verfügung. Soweit dies bekannt ist, schrieben die Brüder kein Tagebuch. Wie stark Vorstellungen einer weiblichen introvertierten Stimme für das Schreiben der Schwestern prägend waren, kann hier nur in Erwägung gezogen werden. Es ist möglich, dass die Tradition des Tagebuchschreibens als ein expliziter weiblicher Handlungsspielraum, in dem die innersten Gedanken einem stummen und geduldigen leeren Buch anvertraut werden dürfen, der Vorstellung des Schreibens von Männern widersprach.85 Selbsterfahrung, Selbstfindung, Sinnstiftung und Erbauung in geschriebener Reflexion stellten im 19. Jahrhundert und bei den in dieser Tradition stehenden schreibenden Schichten im beginnenden 20. Jahrhundert spezifische Orte weiblicher Handlungsspielräume dar.86 Im reflektierten Schreibstil, der das Ich in seinen Gefühlen befragt und in ein Verhältnis zu seiner Umwelt setzt, werden Brüche zwischen dem allgemeingültigen Konzept einer natürlichen Weiblichkeit und dem realen Leben benennbar.87

Memoiren

Die vorliegenden Memoiren stammen aus der Feder der Brüder. So die vielfältigen Lebensdarstellungen des Ältesten, Ernst Schnyder,88 und die Erinnerungen des jungen Assistenzarztes Karl Schnyder an seine Studienzeit.89 Diese autobiografischen Dokumente rekonstruieren aus der Rückschau die eigene Vergangenheit. Die Autoren beugen sich – wie die Tagebuchschreiberinnen über eine kleine Sequenz ihres Lebens – über einen grossen Lebensabschnitt und zeichnen einen fortschreitenden, abgeschlossenen Prozess ihrer Identitätsbildung. Wieweit das Bedürfnis nach einer einheitlichen Historisierung der persönlichen Lebensgeschichte vor allem den männlichen Familienmitgliedern eigen war, kann hier nicht beantwortet werden. Jedoch ist die literarische Form, für die sich die historischen Akteure entschieden, wenn sie über sich schrieben, ebenso aussagekräftig wie der Inhalt des Geschriebenen. Die unterschiedlichen Formen der Ego-Dokumente geben Einblick in das Bedeutungssystem, das den beschriebenen Erlebnissen und Handlungen zugemessen wurde. «Die Bedeutung autobiographischen Erzählens liegt nicht in der Abbildung der Wirklichkeit, in der Rekonstruktion vergangenen Lebens, sondern in der Konstitution von Sinn.»90

Es geht mir dabei nicht darum, besondere literarische Gattungen dem «Weiblichen» beziehungsweise dem «Männlichen» zuzuweisen, sondern die Spielarten der schriftlichen Inszenierung auch in Bezug auf die Kategorie Geschlecht genau zu beobachten.

DAS LAIENGEDICHT ALS HISTORISCHE QUELLE

Laiengedichte wurden oft in intimen Momenten geschrieben, konnten später aber an andere verschenkt werden. Frauen und Männer dichteten für Familienfeste, zur Unterhaltung oder als Geschenke zu Geburtstagen, Hochzeiten oder Weihnachten in der Familiengemeinschaft.91 Im Gegensatz zum Tagebuch fand beim Gedicht bereits in der Anlage eine Verschiebung des intimen Moments hin zum öffentlichen statt. Gedichte wurden in unterschiedlichen Formen weitergegeben. So kann ein und dasselbe Gedicht in handschriftlichen Geschenksammlungen, Schreibmaschinenfassungen und korrigierten Originalversionen gefunden werden. Die Personen, die die Gedichtbändchen und Sammlungen erhielten, bewahrten diese sorgfältig auf. Dichterische Begabungen wurden hoch geschätzt. Der «Dichter» und die beschenkte Person wurden durch ein solches Geschenk besonders ausgezeichnet. Der Austausch von Gedichten kann als Treuezeichen, als Symbol der seelischen Verbindung, verstanden werden.92 Das Papier, auf welches die Gedichte geschrieben, der Anlass, an welchem ein Gedicht vorgetragen wurde, und der Akt des Schenkens der Gedichte sind wichtige Komponenten in der Analyse von Laiengedichten als historischen Quellen.

Auch die lyrische Versform des Gedichts birgt historisch relevante Informationen. So verwandte die Haushaltslehrerin Martha klassische Metren wie beispielsweise das Distichon.93 Die Verwendung dieser Versform, deren Tradition über die grossen Dichter der Klassik zurück in die Kunst der römischen Metrik verweist, kommt einem Statement gleich. Martha sagte damit, dass sie erstens überhaupt dichten kann, zweitens, dass sie eine gewisse Technik kennt. Das Wissen dieser Technik bewies, dass sie zu einer gewissen Schicht, zu einer gewissen Gruppe innerhalb dieser Schicht gehörte. Wer hatte das Wissen um römische Metrik? Vor allem Männer. Martha zeigte, dass sie sich in den erwarteten Formen auskannte, also nicht nur gemütvoll ihr Inneres zusammenreimte, sondern sich selbstbewusst in eine Tradition stellte.

Die überlieferten Gedichte stammen von zwei Schwestern, Sophie und Martha. Auch die Brüder dichteten. Vor allem bei Familienanlässen dürften ihre dichterischen Beiträge kaum gefehlt haben. Die beiden Schwestern aber schufen sich auf diesem Feld einen ebenso wichtigen Platz,94 ja, sie verteidigten ihn strategisch so geschickt, dass ihre Dichtung bis heute erhalten blieb.

Nebst Laudatio oder Festgedichten schien sich die poetische Form vor allem dafür zu eignen, schwierige Themen zur Sprache zu bringen, die in Briefen oder Tagebüchern kaum berührt wurden. Die kleine sprachliche Einheit des Gedichts, das Kondensieren und Verhüllen von Sinn in wenigen kunstreichen Worten, die Verwendung von mehrdeutigen Metaphern erlaubt inhaltliche Freiheiten wie sonst kaum eine schriftliche Form.

 

In der Analyse des Inhalts der Gedichte interessiert mich vor allem die Begegnung der «realen» schreibenden Person mit dem lyrischen Ich, das im Gedicht dargestellt wird. Die zwei Subjekte repräsentieren verschiedene Welten – eine reale und eine virtuelle. Wir haben nur Zugang zum lyrischen Ich, zur virtuellen Welt der schreibenden Person.

Die Autorinnen verstehe ich besonders in den Gedichten als durch Schreiben handelnde Frauen, die persönliche Aporien sichtbar machen und mit der Gestaltung eines lyrischen Ichs ihr eigenes Bild der Welt, die eigene Interpretation ihres Erlebens übernahmen. So dienten mir die Gedichte oft als Wegweiser in verschwiegenen Gebieten, als Tiefengrabungen einzelner Stimmen.

ZEITLICHE UND ÖRTLICHE HINTERGRÜNDE


3 1.-August-Feier der Familie Walter Schnyder-Stäheli, 1941.

Der soziale Raum, in dessen Rahmen eine alltagsgeschichtliche Fallstudie stattfindet, muss innerhalb bestimmter nationaler, politischer und regionaler Bühnen verankert werden, damit die Handlungsspielräume und die Aneignungsprozesse der Akteure in ihrer Bedeutung in einem Kontext bestimmt werden können.1

Die grossen strukturellen Geschehnisse, die die Schweiz zwischen 1910 und 1950 bewegten, sind kaum in einem kurzen Abriss zu fassen. Wenn ich trotzdem mit einer Auswahl von Schlaglichtern die historische Bühne zu beleuchten versuche, so hat dies zwei Gründe: Zum einen bedeutet die Benennung bestimmter Ereignisse immer eine Auswahl aus dem Geschehen der Vergangenheit und gibt damit einer Perspektive besonderes Gewicht. Zum anderen ist mir beim Lesen der Quellen bewusst geworden, in welchem Mass die Briefe, Tagebücher und Gedichte in ihrem Ton in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verhaftet sind. Die Sprache der Geschwister trug mich immerzu in eine unversehrte bürgerliche Welt, die sich an den grossen Idealen des 19. Jahrhunderts orientierte. Dieses Phänomen einer gebrochenen Zeit wurde in den 1930er-Jahren von Ernst Bloch mit dem Konzept der «Ungleichzeitigkeit» umschrieben.2 Bloch prägte damit ein Geschichtsverständnis, welches Ungleichmässigkeiten der Entwicklung in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Sphären berücksichtigt und auf die «regionale Verteilung der Geschichtsmaterie, der Zeitdichte und -beschleunigung des historischen Prozesses an verschiedenen Orten»3 eingeht. Die Ungleichmässigkeiten historischer Entwicklungen, das Nebeneinander unterschiedlicher Epochen zur gleichen Zeit werden in den Geschichten der einzelnen Menschen sichtbar. «Ungleichzeitigkeit würde dann nicht mehr Verspätung und Überbleibsel bedeuten, sondern hinweisen auf die Pluralität und Heterogenität von Mikrohistorien in der Makrohistorie.»4

DIE NATIONALE BÜHNE – HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ 1910–1950

Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz als eine Zeit konstanten Fortschritts und Aufschwungs erlebt. «Als Parameter des Fortschritts galten der Grad der industriellen Durchdringung, der Verkehrserschliessung, des Ausbaus von Bildungsangeboten, das Zurückdrängen des Einflusses der Kirche und der Trend zur Stärkung der Zentren zu Lasten der Peripherie.»5 Als eine Periode grosser Transformationen umfasst die Zeit zwischen 1885 und 1914 beinahe alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. Der Aufschwung neuer Industrien und eine generelle Tendenz zur Massenproduktion als Zeichen der wirtschaftlichen Prosperität vollzogen sich im Gleichschritt mit einem beschleunigten sozialen Wandel. «Eine vermehrte räumliche Mobilität der Menschen führte zu einem bisher nicht gekannten Urbanisierungsschub. Industriell geprägte Städte und Hauptorte verzeichneten ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum.»6 Nicht nur räumlich, sondern auch sozial geriet die bürgerliche Gesellschaft in Bewegung: «Ein Prozess des sozialen Auf- und Abstieges setzt ein. Berufsqualifikationen wie Erwerbs- und Mobilitätschancen werden geschlechtsspezifisch neu verteilt. Neben einer immer noch vorwiegend männlich-ländlich geprägten Industriearbeiterschaft entsteht eine neue städtische Unterschicht mit prekären Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen. [...] Auf politischer Ebene versuchen die bürgerlichen Eliten, aus der Schweiz einen zwar kleinen, aber vollwertigen und damit kriegsfähigen Nationalstaat zu machen.»7

Die vielfältigen Veränderungen führten in ihrer rasanten Entwicklung zu einer gewissen Überforderung und Orientierungslosigkeit, die sich an literarischen Werken dieser Zeit nachvollziehen lassen.8 Die Unübersichtlichkeit der Zeit mag einer der Gründe dafür sein, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs die Bevölkerung nicht nur beängstigte, sondern zugleich eine unglaubliche und aufregende Veränderung bedeutete. Er wurde auch in der neutralen Schweiz von vielen begeistert als Beginn einer neuen Zeit und Erlösung aus dem Unbedeutenden empfunden.9 Am 3. August 1914 erteilte die ausserordentliche Bundesversammlung dem Bundesrat weit reichende Vollmachten, dies ebenfalls in einer Haltung von peinlich euphorischem Heroismus.10 Das tödliche Gesicht des Kriegs zeigte sich erst im Verlauf des ersten Kriegswinters und in den folgenden Jahren, welche zu einem Europa in Trümmern führten.

Die Kluft, die sich zwischen Deutschen und Franzosen während des Kriegs verstärkte, wirkte sich auch in der mehrsprachigen Schweiz spürbar aus. Die in der deutschsprachigen Schweiz vorherrschenden Sympathien für das Kaiserreich und die Sorgen der französischen Schweiz um die Stellung Frankreichs bedeuteten für den noch relativ jungen Bundesstaat eine Zerreissprobe. Die Wahl des geistig ganz auf der Seite Deutschlands stehenden Generals Ulrich Wille verschärfte diese Situation.11

Mit der Massenmobilisierung der Männer zu Beginn des Ersten Weltkriegs stieg auch in der Schweiz die wirtschaftliche Bedeutung der Frauen. «Sie wussten sich in ihrer angestammten Domäne durch gezieltes Sparen und Einteilen an die veränderte Marktlage anzupassen, die gezeichnet war durch Mangel an grundlegenden Importwaren, angefangen von Lebensmitteln über Textilien bis hin zur Kohle, sowie durch extreme Verteuerung auch der inländischen Agrarerzeugnisse.»12 Die wirtschaftlich prekäre Situation wirkte sich durch den Lohnausfall der Militärdienst leistenden Männer vor allem für städtische Arbeiterfamilien katastrophal aus. Die Soldaten der schweizerischen Milizarmee leisteten 1914 bis 1918 durchschnittlich 500 Diensttage. Es gab aber weder Verdienstausfallentschädigungen noch verbindliche Hilfen für allein gelassene Familien.13 Da der Bund keine Vorkehrungen getroffen hatte, um die sozialen Folgen des Kriegs aufzufangen, übernahmen Frauen der verschiedensten Vereinigungen die fehlenden Infrastrukturaufgaben.14 Das allgemeine Lob für diesen Einsatz bestärkte die Frauen in ihrer öffentlichen Arbeit und ermutigte sie in ihrer Forderung, den Schweizer Männern auch in ihren politischen Rechten gleichgestellt zu werden.

Durch den anhaltenden Krieg und die gestoppte Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln erfolgte eine starke Teuerung sowie eine Lebensmittelknappheit, die im Winter 1917/18 zu dramatischen Zuständen führte und vor allem in den Städten die Arbeiterschaft radikalisierte.15 Der vom Oltener Komitee und von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik im November 1918 wurde mit massivem Militäreinsatz niedergeschlagen.16 Die meisten Todesopfer forderte in der vom Krieg nur wirtschaftlich betroffenen Schweiz die so genannte Spanische Grippe, die vom Sommer 1918 bis im Winter 1918/19 etwa 20 000 Menschen, die meisten zwischen 20- und 40-jährig, dahingerafft hatte.17

Nach dem niedergeschlagenen Generalstreik wurden die Forderungen für eine sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage des Proporzes, für die Einführung des Frauenstimmrechts, einer Alters- und Hinterlassenenfürsorge sowie der 48-Stunden-Woche auf Eis gelegt. 1919 konnte – dank einer Revision des Arbeitsgesetzes – lediglich die Herabsetzung der maximalen Arbeitszeit in Industriebetrieben auf 48 Stunden pro Woche durchgesetzt werden.18

Der Zusammenbruch des europäischen Machtgefüges und die erschütternden. Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten eine grundlegende Desillusionierung zur Folge, von der auch die Schweiz nicht verschont blieb. Damit einher gingen «Nationalismus und Angst vor Fremden, tief greifende soziale Gegensätze, Furcht und Hass des Bürgertums angesichts einer sich radikalisierenden Arbeiterbewegung, dazu ein aggressiver werdender Antisemitismus, der die Juden für sämtliche Übel der Gesellschaft verantwortlich machte».19

Während die Frauen in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg das Stimmrecht erhielten, wurden sie in der Schweiz nach ihrem Einsatz in der Öffentlichkeit zurück an den Herd geschickt.20 Die verschiedenen Vorstösse zum politischen Stimm- und Wahlrecht der Frauen wurden während über 50 Jahren regelmässig abgelehnt.21 Zwar anerkannte man die Berufstätigkeit unverheirateter Frauen, Ausdruck dafür war die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1928.22 Gleichzeitig fand aber ein Rückzug der Frauen der Oberschicht in die private Häuslichkeit statt. Ihr Verhältnis zur Frauenöffentlichkeit blieb in der Regel eher distanziert.23

Die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre wirkte sich – wenn auch weniger als im Ausland – so doch spürbar aus. Am stärksten machte sich der Verlust von Arbeit und Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten bemerkbar: Hohe Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen von bis zu 10 Prozent kennzeichneten den Arbeitsmarkt der 1930er-Jahre in der Schweiz.24 Dabei waren bei den Lohnabbau-Plänen vor allem Ledige und Frauen betroffen.25

Die Frontstellung zwischen Bürgerblock und Sozialdemokratie, die das politische Klima der Schweiz in der Nachkriegszeit prägte, baute sich erst unter dem Eindruck der faschistischen Bedrohung etwas ab. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen faschistischen Bewegungen, auch Frontistenbewegung genannt, die einen Anschluss an den deutschen Nationalsozialismus forderten, erfassten Anfang der 1930er-Jahre – dank der Weltwirtschaftskrise – selbst traditionelle Parteien und die Elite des politischen Systems.26 Dies bedeutete für Bürgerliche und Linke der verschiedensten Richtungen eine Bedrohung. Als Abwehr der faschistischen Strömungen und oft in Übereinstimmung mit einem konservativen Kultur- und Gesellschaftsverständnis entstand um 1932 die «Kultur der Geistigen Landesverteidigung».27 Die 1938 entworfene Kulturbotschaft des katholisch-konservativen Bundesrats Philipp Etter vermochte praktisch alle politischen Lager unter der Idee der «Geistigen Landesverteidigung» zu vereinen.28 So unklar der Begriff auch definiert war, so einig war man sich, dass dank dieser Bewegung die Schweiz in ihrer Eigenart erhalten und beschützt werden sollte.29 Ausdruck dieser Bewegung ist die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache. Die Schweizerische Landesausstellung, die ganz im Sinn der «Geistigen Landesverteidigung» stand, fiel mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 zusammen.

Lange nicht alle der hier erwähnten strukturellen Bewegungen werden in den Quellen direkt genannt. Jedoch waren sie den Geschwistern bekannt, oft wirkten sie sich bis in ihren Alltag aus.