Zwischen Spirit und Stress

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Eine genauere Analyse mit Hilfe des Arbeitsbeschreibungsbogens (ABB) kommt nicht nur zum gleichen Ergebnis (Tab. 3.2), sondern zeigt auch weitere Übereinstimmungen unter den Gruppen und die Quellen der Unzufriedenheit bei den Gemeindereferentinnen und -referenten, wenn es um die spezifischen Details geht (Tab. 3.2).

Die höchste Zufriedenheit besteht bei allen Gruppen in der Tätigkeit der Seelsorge selbst, gefolgt von der Bezahlung bei den Priestern und Pastoralreferenten. Am unzufriedensten mit ihren Kollegen sind die Priester, am zufriedensten die Pastoralreferentinnen und -referenten. Am zufriedensten mit den Arbeitsbedingungen sind in dieser Gruppe die Diakone. Bei allen Gruppen ist die Unzufriedenheit mit Organisation und Leitung am höchsten. Auffällig sind die ausgesprochen niedrigen Werte der Zufriedenheit mit den Entwicklungsmöglichkeiten und der Bezahlung bei der Gruppe der Gemeindereferentinnen und -referenten.

Tab. 3.2: Arbeitszufriedenheit der Seelsorgenden: differenziert nach Bereichen der Arbeitszufriedenheit


Diese Werte sind für den problematischen Zufriedenheitsstand der Gruppe im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen verantwortlich (Tab. 3.2).

3.3.2. Arbeitszufriedenheit der Seelsorgenden: Beziehungen und Wechselwirkungen

Von zentraler Bedeutung bei der Arbeitszufriedenheit ist die Zufriedenheit mit der Tätigkeit selbst. Die Frage ist daher: Wie steht Zufriedenheit mit der Tätigkeit in Beziehung mit der Zufriedenheit in den anderen Dimensionen, die für die Arbeitszufriedenheit von Bedeutung sind?

Bei der Höhe der Korrelationen ist auffällig, dass die Zufriedenheit mit der Tätigkeit sowohl in der Gesamtgruppe als auch bei Priestern und Gemeindereferent/-innen am stärksten (moderater Zusammenhang) mit den wahrgenommenen Arbeitsbedingungen und den wahrgenommenen Entwicklungsmöglichkeiten und schwächer mit der Organisation und Leitung korreliert (r zwischen 0,35 und 0,46). Die Zufriedenheit mit Kollegen und Vorgesetzten zeigt einen schwachen bis leicht moderaten Zusammenhang mit der wahrgenommenen Zufriedenheit mit der Seelsorgetätigkeit (r zwischen 0,27 und 0,31). Die Bezahlung hingegen ist hier nicht das entscheidende Kriterium und zeigt nur einen marginalen bis schwachen Zusammenhang (r zwischen 0,13 und 0,26). Die Zufriedenheit mit der Tätigkeit in der Seelsorge korreliert moderat (r = –0,43 bei Priestern) bis stark (r = –0,50 bei Gemeindereferent/-innen) negativ mit der Auseinandersetzung mit der Frage, die eigene Tätigkeit zur Disposition zu stellen. Anders formuliert heißt das: Das Nachdenken über die Aufgabe des Dienstes steht in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Verlust der Freude an der Tätigkeit in der Seelsorge. Von besonderem Interesse dürfte dabei ein weiteres Ergebnis speziell für die Gruppe der Priester sein: Die Korrelationen der allgemeinen Arbeitszufriedenheit mit der Intention zur Amtsaufgabe sind mit r = –0,43 moderat und stärker ausgeprägt als in Bezug auf die Zufriedenheit mit der zölibatären Lebensform (r = 0,33). Vorsichtig interpretiert: Nicht nur die zölibatäre Lebensform hat eine Bedeutung für ein Nachdenken über die Amtsaufgabe, sondern auch die Freude an der Tätigkeit. Vermutlich gibt es dort Wechselwirkungen, die viel stärker bedacht werden müssen.

Angesichts der Tatsache, dass bei den Gemeindereferentinnen und -referenten die negative Einschätzung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und Bezahlung so auffällig ist, ist die schwache negative Korrelation von r = –0,13 mit dem Nachdenken über die Aufgabe der Tätigkeit überraschend. Entscheidender als die Bezahlung sind auch bei dieser Gruppe die Zufriedenheit mit der Tätigkeit (r = –0,51), mit den Arbeitsbedingungen (r = –0,34), mit Organisation/Leitung (r = –0,35) und den Entwicklungsmöglichkeiten (r = –0,35).

Der Blick auf die „Amtsaufgabe“ bzw. die „Aufgabe der Tätigkeit“ ist überhaupt sehr aufschlussreich mit Blick auf die Unterschiede bei den Berufsgruppen. Die Frage lautet: „Ich spiele in letzter Zeit mit dem Gedanken, das Priesteramt (meinen Beruf als Seelsorger oder Seelsorgerin) aufzugeben.“ Wie erwartet, korreliert bei den Priestern der Antwortwert zur Aufgabe des Dienstes mit der Aussage „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich


Abb. 3.4: Prozentverteilung der Berufsgruppen in der Antwort auf die Aussage: „Ich spiele in letzter Zeit mit dem Gedanken, das Priesteramt (meinen Beruf als Seelsorger oder Seelsorgerin) aufzugeben.“ mich wieder für dieselbe Lebensform entscheiden“ (→ Kap. 5) moderat negativ (r = –0,38). Dieser Wert ist plausibel.

Viel erstaunlicher sind aber die sehr hohen Werte zur „Amtsaufgabe“ als Seelsorgerin oder Seelsorger bei den Laienberufen in der Kirche (Abb. 3.4). Im Gegensatz zu den Priestern, die zu 80% nie oder fast nie darüber nachdenken (ähnlich hoch liegt der Wert bei den Diakonen), sind es bei den Laien nur 50% bzw. 55%; der Anteil bei den Priestern, die sehr häufig (0,8%) und häufig (1,4%) darüber nachdenken, liegt insgesamt bei 2,2%. Bei den Gemeindereferentinnen und -referenten liegt die entsprechende Gruppe viermal so hoch wie bei den Priestern, bei den Pastoralreferentinnen und -referenten dreimal so hoch.

3.3.3. Die Beziehung von Arbeitszufriedenheit und Lebenszufriedenheit: höher bei den Priestern

Ein abschließender Blick gilt der Beziehung von Arbeitszufriedenheit mit der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Grundsätzlich gilt für den Zusammenhang eine moderate Korrelation: Lebenszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit sind miteinander assoziiert, jedoch nicht deckungsgleich. Während die Korrelation für Lebenszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit bei den Laien und Diakonen in der Seelsorge etwas schwächer ist (r = 0,38) als das in Metaanalysen beschriebene Zusammenhangsmaß (r = 0,44), ist sie für die Priester deutlich höher (r = 0,59). Lebenszufriedenheit und Berufszufriedenheit der Priester stehen offensichtlich in einem viel stärkeren Zusammenhang als bei den anderen Berufsgruppen im seelsorglichen Dienst. Bei den jüngeren Altersgruppen („Alterskohorten“) wird der Zusammenhang bei den Laien schwächer, bei den Priestern noch stärker. Es scheint so, dass bei Priestern „Leben und Arbeiten“ eine vergleichsweise große Einheit bilden. Priestersein ist kein Beruf, sondern eine Lebensform. Priestersein ist kein Beruf wie jeder andere, schon gar kein „Job“, der auf das „private“ Leben wenig Einfluss hat.

3.3.4. Ergebnisse zur Zufriedenheit mit der Organisation

In einem Drittel der deutschen Diözesen kam auch die FEO-Skala zum Einsatz, mit der wir die Zufriedenheit mit dem Organisationsklima abgebildet haben. Die Gruppe der Seelsorger(innen) erreicht insgesamt ein niedriges Niveau der Zufriedenheit. Sie liegt in der Regel im Bereich des Zustimmungswertes „weder/noch“ (Abb. 3.5). Weil diese niedrigen Werte angesichts der recht hohen Lebenszufriedenheit und der Arbeitszufriedenheit zunächst auffällig sind und für diesen Fragebogen keine normierten Werte eingesetzt werden konnten, wurde zum Vergleich eine Stichprobe aus Angehörigen sozialer Berufe generiert (Führungskräfte und Angestellte).13

In der Vergleichsgruppe fanden sich signifikant höhere (bessere) Werte. Diese Diskrepanz ist auffällig. Im Vergleich zu Angehörigen der sozialen Berufe vertrauen die Seelsorger(innen) ihren Leitungsverantwortlichen und Diözesen mit Blick auf die Zukunftsstrategien (Effektstärke Cohens d=0,69) und die Prioritätensetzung (Effektstärke d=0,54) deutlich weniger. Sie haben auch weniger Vertrauen, dass die eigene Organisation (Diözese) die Aufgaben der Zukunft meistern wird (Effektstärke: 0,54). Auch bei der Sorge der Leitung (Diözese) um ihre Mitarbeiter zeigt sich ein beachtliches Defizit (Effektstärke: 0,46). Hier ergibt sich weiterer Forschungsbedarf, um abzuklären, inwieweit diese Differenzen verallgemeinerbar bzw. auch dauerhaft sind.


Abb. 3.5: Zufriedenheit mit dem Organisationsklima: Statusbestimmung und Vergleich der Seelsorgenden mit einer Gruppe aus sozialen Berufen

3.3.5. Zufriedenheit mit dem Organisationsklima: Zusammenhänge mit Engagement und Wertschätzung

Zusätzlich erscheint es sinnvoll, die möglichen Ursache-Wir-kungs-Beziehungen und Wechselwirkungen zu überprüfen. Aus der Forschung ist bekannt, dass sich das Organisationsklima auf das Engagement der Mitarbeitenden auswirkt und in Beziehung zur empfundenen Wertschätzung steht.14 Dazu gehören auch Analysen, welche die Beziehungen unter diesen Indikatoren untersuchen (Regressionsanalysen). Hierbei wird nach dem Erklärungspotential entsprechender Variablen („Prädiktoren“) in Bezug auf die abhängige Variable gefragt. Die Fragestellung zur Tab. 3.3 lautet zum Beispiel: Welche Voraussagekraft haben die Indikatoren von Selbstwirksamkeit, Kohärenzgefühl, Organisationsklima usw. für die Stärke des Arbeitsengagements?

Tab. 3.3: Prädiktoren des Engagements (schrittweise Regression)


Hier zeigen sich zwei Phänomene (Tab. 3.3): Das Klima in der Organisation hat einen eigenen Effekt auf das Engagement (zusammen mit den Persönlichkeitseigenschaften und dem empfundenen Stress). Je mehr das Organisationsklima beeinträchtigt ist, umso niedriger wird daher das Engagement ausfallen. Das Organisationsklima steht auch in Beziehung zur Wertschätzung (r = 0,37). Das heißt, je schlechter das Organisationsklima beurteilt wird, umso schlechter fällt auch die empfundene Wertschätzung aus (oder umgekehrt). Man könnte diesen Zusammenhang so interpretieren: Aufgrund ihrer Identifikation mit der kirchlichen Organisation nehmen die Seelsorger(innen) den problematischen Zustand ihrer Organisation in gewisser Weise „persönlich“. Insgesamt ist die Beziehung zwischen der Organisationszufriedenheit bzw. dem wahrgenommenen Organisationsklima und den wichtigen abhängigen Variablen (Stress, Burnout, Arbeitszufriedenheit, Gesundheit, Wertschätzung) bei der Gruppe der Priester eher stärker ausgeprägt als bei ihren Kolleginnen und Kollegen (→ Tab. 3.4). Hier zeigt sich eine „Schattenseite“ der hohen Identifikation der Priester mit ihrem Leben als Priester, das für sie mehr Existenzform als „Job“ ist: Wenn Priester mit dem Zustand ihrer Organisation, für die sie leben, Probleme haben, wird dies in intensiverer Form als Dämpfung ihrer Zufriedenheit mit der Seelsorge und als fehlende Wertschätzung wahrgenommen. Dies gilt natürlich auch umgekehrt: Je geringer die wahrgenommene Wertschätzung und die Arbeitszufriedenheit sind, umso niedriger ist die Zufriedenheit mit dem Klima der kirchlichen Organisation.

 

Tab. 3.4: Korrelation der Variable „Organisationsklima“ mit Stress, Burnout, Arbeitszufriedenheit, Gesundheit, Wertschätzung bei den Berufsgruppen


3.4. Die Zufriedenheit der Seelsorgenden: Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

1. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Dimensionen der Zufriedenheit (Lebenszufriedenheit, Arbeitszufriedenheit, Organisationszufriedenheit) zu differenzieren, weil sie in unterschiedlicher Weise bewertet werden und unterschiedliche Beziehungen hinsichtlich „Lebensqualität“ (Lebenszufriedenheit, Arbeitszufriedenheit, Gesundheit, Belastungsfreiheit) und Motivation haben.

2. Die Gesamtgruppe der Seelsorgenden liegt in ihrer allgemeinen Lebenszufriedenheit auf einem Niveau, das deutlich über dem der sogenannten Normalbevölkerung angesiedelt ist. Sie liegt jedoch auf ähnlichem Niveau mit sozioökonomisch vergleichbaren Gruppen. Alle Berufsgruppen sind in der Zufriedenheit auf gleichem Niveau, wenn man die jeweilige Gesamtgruppe zugrunde legt. Die Gruppe der alten Priester ist besonders zufrieden. Die Gruppe der Priester im aktiven Dienst ist im Vergleich weniger zufrieden als die anderen Berufsgruppen; dies liegt an der geringeren Zufriedenheit der Priester in der Territorialseelsorge.

3. Die Zufriedenheit mit der Tätigkeit in der Seelsorge ist der Indikator, der alle Berufsgruppen auf ähnlichem Niveau miteinander verbindet. Die Gruppe der Gemeindereferen-tinnen und -referenten weicht in der Zufriedenheit mit den Entwicklungsmöglichkeiten und der Bezahlung jedoch nach unten ab. Das Nachdenken über die Aufgabe der Tätigkeit steht in deutlichem Zusammenhang mit höherer Unzufriedenheit mit der Tätigkeit. Bei Priestern gibt es einen stärkeren positiven Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit als bei den anderen Berufsgruppen.

4. Die Zufriedenheit mit dem Organisationsklima ist sowohl im Vergleich zur Lebenszufriedenheit als auch zur Arbeitszufriedenheit auf einem niedrigen Niveau. Der skeptische Blick auf die eigene Organisation verbindet alle Berufsgruppen ohne Unterschied. Es existieren negative Beziehungen zu Engagement und wahrgenommener Wertschätzung. Möglicherweise erklärt dieses Ergebnis die manchmal wahrzunehmende Skepsis gegenüber der hohen allgemeinen Lebenszufriedenheit. Es könnte sein, dass in der allgemeinen schwierigen seelsorglichen Situation eine große Fixierung auf die Unzufriedenheit mit der Organisation aufgetreten ist. Ob dabei die Ansprüche der Seelsorger/-innen an die eigene Organisation möglicherweise zu ideal sind, mag zu diskutieren sein. Auf jeden Fall gilt: Der Blick auf die Unzufriedenheit mit der Organisation „verschattet“ vermutlich den Blick auf die eigene Zufriedenheit.

3.5. Das Kohärenzgefühl bei Seelsorgenden: Herzstück der Salutogenese

Die Seelsorgestudie basiert mit ihrem Anforderungs-Ressourcen-Modell auf einem salutogenetischen Konzept (siehe Einleitung).15 Eine persönliche Ressource von besonderer Wichtigkeit – vielleicht sogar die zentrale Ressource – stellt das Kohärenzgefühl (SOC), ein Kernkonzept der Salutogenese, dar.

Folgende zwei Hauptfragen zum Kohärenzgefühl sollen im Folgenden beantwortet werden:

1. Welchen Status hat das Kohärenzgefühl bei Seelsorgenden in den verschiedenen pastoralen Arbeitsfeldern?

2. Welches Profil zeigen Personengruppen mit hohem und niedrigem Kohärenzgefühl in Bezug auf die Indikatoren von Lebensqualität, Gesundheit und Arbeitsfeld?

3.5.1. Das Konzept des Kohärenzgefühls im Modell der Salutogenese

Das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, abgekürzt: SOC) gehört zu den gesundheitsrelevanten Persönlichkeitsdispositionen. Das Kernstück des Konzeptes ist eine globale Lebensorientierung, welche Individuen und soziale Systeme in die Lage versetzt, das Leben als verstehbar, gestaltbar und motivational sinnvoll zu begreifen. Gesetzt den Fall, dass die äußeren Lebensbedingungen vergleichbar sind, ist das Kohärenzgefühl einer Art „Weltanschauung“ vergleichbar (so meinte Antonovsky selbst)16, die das Verhalten des Menschen gegenüber seinem eigenen Leben und seiner ihn umgebenden Welt grundlegend bestimmt. Antonovskys klassische Definition lautet : Der SOC ist „… eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen“17.

Der englische Terminus „sense of coherence“, der im Deutschen meist mit „Kohärenzgefühl“ wiedergegeben wird, hat ein weites Bedeutungsspektrum. Gemeint ist nicht ein „Gefühl“ im engen Sinn der deutschen Sprache, sondern eine globale affektiv-kognitive und motivationale Orientierung mit Funktion der Handlungssteuerung. Es wirkt wie ein Dirigent, der Bewältigungsmuster aktiviert und dem Alltag Sinn und Richtung verleiht. Allerdings ist das Kohärenzgefühl kein Belastungsbewältigungsstil im engeren Sinne, sondern im Modell der Salutogenese viel grundsätzlicher konzipiert. Antonovsky veranschaulicht das Kohärenzgefühl am Beispiel der Figur des Moses von Michelangelo in San Pietro in Vincoli (Rom). Moses ist im Begriff, die Gesetzestafeln dem Volk Gottes – einer Gruppe freigelassener Sklaven – als Basis für einen „sense of coherence“ zu überbringen. Er ist selber dargestellt voller Kraft, Stärke und der Kraft zum Konflikt. Er blickt auf das Treiben des Volkes Gottes und wird – gemäß dem biblischen Szenario – alsbald die Tafeln zerschmettern. Trotzdem oder gerade deswegen ist für Moses wie für das Gottesvolk die Verankerung in JHWH das Fundament und die Kraftquelle für eine lange Wüstenwanderung und die Kämpfe um das Gelobte Land.18 Das Kohärenzgefühl ist daher so etwas wie ein fundamental erlebter Zusammenhalt der Welt und des Lebens. Es ist das „Gefühl des Verankertseins“ im Leben und in der Welt.19 Ganz allgemein könnte man das Kohärenzgefühl auch als „Lebenssicherheit“ bezeichnen, die sich konstruktiv auf die Alltagsgestaltung auswirkt.

In theologischer Interpretation legt sich daher die Analogie und Nähe zur Grundbedeutung des theologischen Begriffs der religio nahe. Religion vermittelt eine generelle Weltsicht aus der Perspektive einer Welt mit Gott. Religion verbindet den Menschen mit der Transzendenz. Sie verankert den Menschen in Gott und bietet ihm ein tragfähiges Fundament für das alltägliche Erleben und Verhalten.20 Das Kohärenzgefühl könnte man als die anthropologische Parallele zur religio verstehen. Daher gibt es auch zwischen diesen beiden Grundgegebenheiten empirische Parallelen, wenn man Kohärenzgefühl und Transzendenzbezug zueinander in Beziehung setzt (→ Kap. 7).

Psychologisch hat das Kohärenzgefühl in seiner oben zitierten Definition eine kognitiv-affektive, eine instrumentell-hand-lungsbezogene und eine motivationale Komponente. Diese sind zwar als Dimensionen theoretisch zu unterscheiden, aber im psychischen Prozess und in der Forschung nur schwer voneinander zu trennen.

Die kognitiv-affektive Komponente (sense of comprehensibility) ermöglicht die Strukturierung des Informationsflusses aus der „inneren“ und der „äußeren“ Umwelt und lässt diese als konsistent und mit den Ordnungsstrukturen des eigenen Lebens kompatibel und zukunftsträchtig erscheinen.

Die instrumentell-handlungsbezogene Komponente (sense of manageability) greift auf die Ressourcen zu, welche zur Lebensbewältigung zur Verfügung stehen und zum Einsatz gebracht werden können. Diese Ressourcen können aus dem Ressourcenreservoir der eigenen Person oder mit Hilfe signifikanter Anderer oder auch der Gottesbeziehung generiert werden.

Die motivationale Komponente (sense of meaningfulness) ist entscheidend dafür, dass eine Person das Leben als motivational sinnvoll empfindet und dass es sich lohnt, in die Gestaltung des Lebens zu investieren und Engagement zu zeigen.

Die Bedeutsamkeit des SOC für die Entwicklung von Lebensqualität, Gesundheit und Ressourcen ist in der Zwischenzeit sehr breit nachgewiesen worden. Hohes und niedriges Kohärenzgefühl haben Einfluss auf Gesundheit und Krankheit, auf Lebenszufriedenheit und Lebensqualität, auf Stress und Belastung.21 Das Kohärenzgefühl steht im Zusammenhang mit der Persönlichkeit und mit der Arbeitswelt, dort besonders im Kontext von Motivation, Führungsfähigkeit und Position am Arbeitsplatz.22

Gemessen haben wir das Kohärenzgefühl in der Seelsorgestudie mit der Kurzversion des Fragebogens von A. Antonovsky (SOC-13). Dieser Fragebogen kombiniert verschiedenartige Aussagen aus unvollendeten Sätzen und Fragen und lässt sie auf einer Bandbreite von sieben Punkten bewerten. Folgende Beispiele gehörten dazu:

– Die Dinge, die Sie täglich tun, sind für Sie: eine Quelle von tiefer Freude und Zufriedenheit … von Schmerz und Langeweile: sehr oft … selten oder nie.

– Wie oft haben Sie das Gefühl, dass die Dinge, die Sie im täglichen Leben tun, eigentlich wenig Sinn haben?: sehr oft … selten oder nie.

– Viele Leute – auch solche mit einem starken Charakter – fühlen sich in bestimmten Situationen wie traurige Verlierer. Wie oft haben Sie sich in der Vergangenheit so gefühlt?: sehr oft … selten oder nie.

3.5.2. Das Kohärenzgefühl der Seelsorgenden: Statusbestimmung und Interpretation

Zuerst wurde nach dem Status des Kohärenzgefühls bei Seelsorgerlinnen) in den verschiedenen pastoralen Berufsgruppen in den verschiedenen pastoralen Arbeitsfeldern gefragt.23 Hier zeigt sich, dass der Mittelwert der Gesamtgruppe knapp unter dem Mittelwert der Normalbevölkerung in Deutschland liegt (→ Tab. 3.5).

Tab. 3.5: SOC-Werte der Seelsorgestudie und vergleichbarer Gruppen


Für die Veranschaulichung mit Hilfe der Abb. 3.6 wurde die Tabelle der T-Werte der Deutschen Norm-Population zugrunde gelegt.24 Entscheidend für die Positionierung der Gesamtgruppe unter dem Mittelwert ist die Gruppe der Priester, die beim Kohärenzgefühl in der T-Werte-Tabelle nur einen Wert von 48,6 erreichen. Wählt man als Altersobergrenze für alle Gruppen das Pensionierungsalter für die Gruppe der Laien, erreicht der Wert für die Priester nur noch einen Mittelwert von 47,8. Die Diakone erreichen exakt den Mittelwert der Normstichprobe, die Gruppe der Laien liegt knapp darüber. Die im aktiven Dienst stehenden Priester haben deutlich niedrigere Werte als die pensionierten Priester. Ein Grund dafür dürfte in der Altersabhängigkeit des Kohärenzgefühls liegen. Ob ein weiterer Grund auch in problematischen Arbeitsbedingungen der Priester im aktiven Dienst liegen kann, wird weiter unten noch zu diskutieren sein.

 

Abb. 3.6: SOC-Werte der Berufsgruppen in der Seelsorgestudie

Für die Einordnung und Deutung der gefundenen Werte ist wichtig, dass die Normpopulation in Deutschland nur einen Anteil von 8,3% von Personen mit akademischem Abschluss enthält. Die soziodemographisch vergleichbare Gruppe von Beamten ist in der Normstichprobe mit einem noch geringeren Anteil vertreten. Wenn man jetzt berücksichtigt, dass Personen mit höherem Bildungsgrad und höherqualifiziertem Berufsprofil mit generell höheren SOC-Werten in die Normalpopulationen eingehen, dann wird man in der Interpretation feststellen müssen, dass die Seelsorger/-innen mit Blick auf ihr Kohärenzgefühl nicht das Niveau der entsprechenden Vergleichsgruppen erreichen, die zu ihnen passen würden. Das gilt insbesondere für die Pfarrer bzw. für alle anderen Führungspersonen aus dem Bereich der anderen Berufsgruppen, für die der „Erwartungswert“ im Kohärenzgefühl auf jeden Fall auf über 52 hätte angesetzt werden müssen (vgl. Tab. 3.5: Ein Mittelwert von 5,3 bei Akademikern entspricht einem T-Wert von 53; ein Mittelwert von 5,8 von Ärzten entspricht einem T-Wert von 5 8 25). Die beiden Berufsgruppen der Laien (jeweils T = 50,6) kommen dem Wert auf jeden Fall näher als die Priester und Diakone.

Für Priester ist aufgrund der Möglichkeit zur Differenzierung der Positionen ein vergleichender Blick für das Niveau des Kohärenzgefühls in den jeweiligen Tätigkeitsfeldern möglich (dies ist leider bei den Laien auf Grund hochdifferenzierter Berufsfelder ohne eindeutige Positionsdifferenzierung nicht möglich).

– Das höchste Kohärenzgefühl haben die Priester in den diözesanen bzw. den besonderen Diensten.

– Das auffällig geringste Kohärenzgefühl ist bei der Gruppe der Kooperatoren vorhanden: Für die dort zählenden 387 Personen liegt es auf dem sehr niedrigen Mittelwert von 46,1.

– Auch das Kohärenzgefühl aller „Leitenden Pfarrer“ liegt im Mittel nur bei 47,9. Selektiert man nur diejenigen Pfarrer unter 66 Jahren mit einer Größe der Seelsorgeeinheit über 15.000 Katholiken, liegt der Wert numerisch, aber nicht signifikant höher bei 48,8 – höher als im Mittel der leitenden Priester, aber immer noch deutlich unter dem Kohärenzgefühl der Priester in der kategorialen Seelsorge (Tab. 3.6).

Kohärenzgefühl bei den Priestern nach Tätigkeitsfeld


Abb. 3.7: Das Kohärenzgefühl der Priester in den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern

3.5.3. Das Kohärenzgefühl bei Priestern und Laien in der Seelsorge: Zusammenhänge mit Lebensqualität, Gesundheit und Engagement

Nach dieser ersten Übersicht zum Kohärenzgefühl geht der Blick zur Beantwortung der grundsätzlichen Frage: Zeigt das Kohärenzgefühl in der Gruppe der Seelsorger/-innen (trotz der relativ niedrigen Werte) die erwarteten positiven Zusammenhänge mit Lebensqualität, psychosomatischer Gesundheit, Belastung und Engagement in der Seelsorge?

Die Antwort lautet: ja. Je höher das Kohärenzgefühl ist, desto höher liegen die Indikatoren für Lebensqualität, Engagement, Zölibatszustimmung usw. Die Mittelwertunterschiede für das Kohärenzgefühl sind für alle Variablen mit moderater bis sehr hoher Effektstärke ausgestattet (Cohens d = 0,52 für somatische Gesundheitsprobleme [BSI] bzw. d = –0,96 für Burnout [MBI]). Die Gruppen unterscheiden sich in Bezug auf die folgenden Variablen:

a) Lebenszufriedenheit, Arbeitszeit, Organisationszufriedenheit,

b) alle Belastungsindikatoren (Arbeitslast, Stress, Burnout usw.),

c) den Gesamtgesundheitsstatus (und die zugrundeliegenden Einzel-Indikatoren der seelischen und körperlichen Gesundheit),

d) Engagement, Leistungsfähigkeit, Identifikation mit der Seelsorge, Amtsaufgabe,

e) Identifikation mit der Lebensform (die gewählte Lebensform bei Laien; Zölibat bei Priestern).

Die Stärke des Kohärenzgefühls ist ein differenzierender Indikator für fast alle abhängigen Messgrößen. Eine Ausnahme stellen tendenziell diejenigen Variablen dar, die im Bereich der Spiritualität durch „Gestaltungspläne“ oder Konventionen der Organisation oder durch andere eher subkulturell bestimmte Muster geregelt sind, wie z. B. die Häufigkeit der Eucharistiefeier, die Häufigkeit der Beichte oder des Kontakts mit einem geistlichen Begleiter.

Kurz zusammengefasst könnte man sagen : Priester und Laien in der Seelsorge mit einem höheren Kohärenzgefühl (also mit höheren Werten in Lebensorientierung, Gestaltungskraft und Sinnhaftigkeit):

– erleben sich als gesünder;

– erleben mehr Engagement und eine größere Leistungsfähigkeit;

– identifizieren sich mehr mit ihrem Beruf und ihrer Lebensform.

3.5.4. Das Kohärenzgefühl als differenzierende und klassifizierende Gesundheitsressource

Das Kohärenzgefühl scheint in der Seelsorgestudie die Variable mit dem größten Differenzierungspotenzial unter allen Personen darzustellen. Anschaulich wird dies durch eine Einteilung aller Seelsorgenden gemäß der Stärke des Kohärenzgefühls als unterscheidende und klassifizierende Gesundheitsressource. Unterscheidungskriterium für Lebensqualität und seelsorglichen Einsatz ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, sondern die Ausprägung des Kohärenzgefühls.

Wir haben dazu die Seelsorgerinnen und Seelsorger, ausgehend von der üblichen Trennung von vier Stufen auf einer 100er Skala (T-Werte-Skala) der Ausprägung (1. <40; 2. 40– 50; 3. 50–60; 4.> 60) in vier Stufen des Kohärenzgefühls eingeteilt. In Abhängigkeit davon haben wir die Ausprägung der Lebensqualität, der Ressourcen und Anforderungen bestimmt. Tab. 3.6 zeigt, dass die beiden Extremgruppen (SOC-Scores <40 bzw. Scores> 60) geradezu zwei Ressourcen-Welten repräsentieren: Personen mit sehr hohem Kohärenzgefühl haben eine sehr starke Gesundheitsressource; ihnen geht es sehr gut. Personen mit sehr niedrigem Kohärenzgefühl haben eine eher schwache Gesundheitsressource; ihnen geht es eher schlecht. Da hier deutliche (korrelative) Zusammenhänge bestehen, ist das Ergebnis sehr plausibel. In der Literatur wird die Wirkrichtung in der Regel als vom Kohärenzgefühl ausgehend interpretiert. Denn das Kohärenzgefühl ist als gesundheits- und motivationswirksame Persönlichkeitsdisposition definiert. Aufgrund der Theorie und der Literaturlage aus Längsschnittstudien wird man also auch hier annehmen können, dass das Kohärenzgefühl die genannten positiven Auswirkungen zur Folge hat. Grundsätzlich gilt aber auch die umgekehrte Richtung: Ein größeres Arbeitsengagement und eine höhere Lebenszufriedenheit sowie eine geringere psychosomatische Belastung können ebenso mit einer größeren Lebensstimmigkeit im Sinne des SOC assoziiert sein, also das Kohärenzgefühl positiv beeinflussen (Tab. 3.6).

Tab. 3.6: Variablen des Anforderungs-Ressourcen-Modells bei allen Seelsorgenden unter 66 Jahren in Beziehung zu den Niveaus des Kohärenzgefühls (z-Werte: zu Vergleichszwecken standardisierte Mittelwerte der Indikatoren)


Wichtig ist hier auch folgende Beobachtung: Beschreibt eine Person ihr Kohärenzgefühl als vergleichsweise tragfähig (Stufe 3: über dem Mittelwert liegend), so besteht bereits für diese Person eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie vergleichsweise zufrieden, gesund, unbelastet, engagiert und mit ihrer gewählten Lebensform im Reinen ist.

3.5.5. Das Kohärenzgefühl als Ressource mit starken Effekten und hoher Erklärungskraft

Wie groß die Auswirkung des Kohärenzgefühls in Bezug auf die gefühlte Lebensqualität des Alltags ist, soll am Beispiel der Lebenszufriedenheit illustriert werden. Das Beispiel ist dann auf die anderen Indikatorvariablen (z. B. Gesundheit, Belastung, Engagement usw.) übertragbar:

Tab. 3.7: Die Niveaus des Kohärenzgefühls und die allgemeine Lebenszufriedenheit


Angesichts der Tatsache des hohen Gesamtmittelwertes der Allgemeinen Lebenszufriedenheit von 7,6 ist es sehr aufschlussreich, dass sich die vier Gruppen aus den Niveaus des Kohärenzgefühls in ausgesprochen deutlicher Form unterscheiden. Das ganz untere und das ganz obere Niveau des Kohärenzgefühls unterscheiden die Seelsorger und Seelsorgerinnen in zwei verschiedene „Lebenszufriedenheits-Welten“.

Die vorliegenden Forschungen zum Kohärenzgefühl interpretieren die Lebenszufriedenheit in der Regel als abhängige Größe. Dies würde bedeuten: Personen, die ihr Leben als verstehbar, gestaltbar und sinnvoll erfahren, erleben eine hohe Lebenszufriedenheit. Personen mit geringem Kohärenzgefühl sind wenig(er) mit ihrem Leben zufrieden.

Dies wirft ein Licht auf die Erfahrung, die wir als Forschergruppe bei Rückmeldeveranstaltungen zur Seelsorgestudie gemacht haben: Es gibt eine Gruppe von Seelsorger/-innen, denen der insgesamt hohe Mittelwert der Allgemeinen Lebenszufriedenheit nicht plausibel erscheint. Zwar haben wir bereits gesehen, dass diese Gruppe nur halb so groß ist wie in der Normalbevölkerung, aber ihre Stimme ist nicht zu vernachlässigen. Wie Tab. 3.7 illustriert, ist dies auch verstehbar und „begründbar“: Die Gruppe mit dem unteren Niveau des Kohärenzgefühls (immerhin ungefähr 15% der Gesamtgruppe) hat den recht niedrigen Mittelwert der Lebenszufriedenheit von 6,2. Diese Gruppe kommt durch die Selektion von Personen mit der niedrigsten Ausprägung des Kohärenzgefühls zustande. Dieser Gruppe (und ihren Freunden oder Begleiter/-innen) dürfte es existentiell nicht plausibel sein, dass eine statistische Mehrheit der Seelsorger/-innen eine stabile Lebensperspektive hat, während sie dies für sich eher nicht sehen. Dies entspricht dem oft zu beobachtenden Effekt von betroffen machenden und als solchen stets auch ernstzunehmenden Einzelfällen gegenüber der statistischen Evidenz, welche die Mehrzahl der Fälle zuverlässig beschreibt.