Fünf Apfelsinenkerne

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»Das ist möglich.«

»Mehr als das – es ist wahrscheinlich. Und nun begreifst du die Dringlichkeit dieses neuen Falles und weshalb ich den jungen Openshaw zur Vorsicht ermahnte. Der Schlag fiel stets, wenn die Zeit um war, deren der Absender bedurfte, um selbst die Entfernung zurückzulegen. Der letzte Brief kommt aus London, und so ist nicht auf Aufschub zurechnen.«

»Großer Gott!« rief ich aus, »was mag diese erbarmungslose Verfolgung bedeuten?«

»Sichtlich sind die Papiere, welche Openshaw besaß, der Person oder den Personen auf dem Segler von größter Wichtigkeit. Offenbar sind es ihrer mehrere. Ein Mann allein hätte schwerlich zwei derartige Mordthaten auszuführen vermocht. Es müssen entschlossene, verwegene Leute sein. Sie wollen ihre Papiere – mag sie haben, wer da will. Wie mir scheint, sind diese drei K nicht sowohl die Anfangsbuchstaben eines Einzelnen, als das Kennzeichen einer Verbindung – aber welcher Verbindung? – Hast du nie,« fragte Sherlock Holmes, sich vorbeugend und leiser sprechend, »vom Ku-Klux-Klan reden hören?«

»Niemals.«

Holmes blätterte in dem Buche auf seinem Knie. »Da ist's,« sagte er.:

Ku-Klux-Klan. Das Wort kommt von der sonderbaren Aehnlichkeit seines Klanges mit dem Spannen einer Feuerwaffe. Dieser schreckliche Geheimbund wurde von einigen exkonföderierten Soldaten in den Südstaaten nach dem Bürgerkrieg geschlossen, und schnell verzweigte er sich in verschiedenen Gegenden, besonders in Tennessee, in Louisiana, Carolina, Georgia und Florida. Seine Macht diente politischen Zwecken, hauptsächlich dazu, die Neger-Wähler, welche für die Stimmberechtigung der Neger eintraten, zu terrorisieren und diejenigen zu morden oder aus dem Lande zu treiben, die sich den Prinzipien der geheimen Gesellschaft widersetzten. Ihren Gewaltthaten ging meist eine Warnung an das ausersehene Opfer voraus, ein phantastisches, leicht zu erkennendes Zeichen – ein Büschel Eichenlaub in manchen Gegenden, in anderen Melonen- oder Apfelsinenkerne. Nach Empfang solcher Warnung mußte der Betreffende entweder seine Gesinnung ändern oder die Gegend schleunigst verlassen. Bot er Trotz, so war er unrettbar verloren, und der Tod ereilte ihn meist auf sonderbare, unerwartete Weise. Die Organisation der Verbindung war so vollendet, ihre Methode so systematisch, daß sich kaum von einem Fall berichten läßt, wo es einem Menschen gelungen wäre, sich ihr ungestraft zu widersetzen oder die Urheber zu ermitteln. Viele Jahre hindurch nahm der Bund einen immer größeren Aufschwung trotz aller Anstrengungen der Regierung wie der angesehensten Bürger im Süden. Im Jahr 1869 geriet er aber ganz plötzlich in Verfall, und nur vereinzelt kamen von jener Zeit an noch durch ihn verübte Gewaltthätigkeiten vor.

»Beachte wohl,« sagte Holmes, das Buch beiseite legend, »daß das plötzliche Aufhören dieses Geheimbundes mit der Zeit zusammenfällt, wo Openshaw mit jenen Papieren Amerika verließ. Wer weiß, ob nicht Ursache und Wirkung hier nahe bei einander liegen. Da wäre es kein Wunder, wenn einzelne der Unversöhnlichsten es auf ihn und seine Familie abgesehen hätten. Du begreifst, was von diesen Registern und Notizen für manche hochgestellte Persönlichkeit in den Südstaaten abhängen kann, und daß da mancher nicht ruhig schläft, ehe die Papiere wieder herbeigeschafft sind.«

»Demnach enthielte das Blatt, das wir gesehen haben ...«

›Was zu erwarten stand. Irre ich nicht, so hieß es dort: ›Die Kerne wurden zugestellt an A, B und C,‹ – das bedeutet so viel wie: die Warnung der Verbindung wurde ihnen zugeschickt. Dann folgten Angaben, wonach sich A und B rechtfertigten oder auswanderten, C aber nahm, wie ich fürchte, ein schlimmes Ende. Ich hoffe, Doktor, es wird uns gelingen, den Schleier dieser dunkeln Geschichte zu lüften; einstweilen aber kann der junge Openshaw nichts thun, als was ich ihm riet. Heute ist alles weitere Reden und Handeln überflüssig – darum reiche mir meine Geige! Wir wollen versuchen, auf eine halbe Stunde das garstige Wetter und das noch garstigere Gebaren unserer Mitmenschen zu vergessen.«

*

Der Himmel hatte sich am nächsten Morgen aufgehellt, und in gedämpfter Klarheit schien die Sonne durch den grauen Schleier, der gewöhnlich über der Großstadt schwebt.


Sherlock Holmes frühstückte bereits, als ich herabkam.

»Entschuldige, daß ich nicht gewartet habe,« sagte er, »voraussichtlich bekomme ich heute für den jungen Openshaw tüchtig zu thun.«

»Was sind deine ersten Schritte?«

»Die hängen vom Ergebnis meiner ersten Erkundigung ab. Vielleicht muß ich doch nach Horsham.«

»So fängst du nicht damit an?«

»Nein, mein erster Weg ist nach der City. – Klingle gefälligst. Das Mädchen bringt dir den Kaffee.«

Während ich wartete, warf ich einen Blick in die noch ungelesene Zeitung; er fiel auf einen Bericht, bei dem es mich kalt überlief.

»Holmes!« rief ich aus, »du kommst zu spät.«

»Was?« sagte er und stellte die Tasse hin. »Ich befürchtete es schon! Wie ist's geschehen?« Er sprach gelassen, doch sah ich, daß er tief erschüttert war.

Ich hatte den Namen Openshaw gelesen und darüber stand: »Tragödie an der Waterloo-Brücke« Da ist der Bericht.

Gestern abend zwischen neun und zehn Uhr vernahm der Schutzmann Cook von der Division H., bei der Waterloo-Brücke stationiert, einen Hilferuf und einen Fall ins Wasser. Die Nacht war so stürmisch und finster, daß trotz der Hilfe mehrerer Vorübergehenden jegliche Rettung unmöglich blieb. Die Stadtpolizei wurde alarmiert, und es gelang, den Körper herauszuziehen. Der Ertrunkene ist ein junger Mann, Namens John Openshaw, wohnhaft zu Horsham, wie sich aus einem Briefumschlag erwies, den er in seiner Tasche trug. Es ist anzunehmen, daß er zum letzten Zug an die Waterloo-Station wollte: bei seiner Hast und der außerordentlichen Dunkelheit hat er wohl den Weg verfehlt und ist auf einen der schmalen Stege geraten, die den Flußdampfern zur Landung dienen. Der Leichnam trug keine Zeichen der Gewaltthat, und so war der Verstorbene also offenbar das Opfer eines Unglücksfalles, durch den sich die Behörden veranlaßt sehen sollten, ihre Aufmerksamkeit auf den Zustand der Landungsstellen am Fluß zu lenken.«

Stumm saßen wir beisammen, Holmes war niedergedrückter, als ich ihn je gesehen.

»Das verletzt meinen Stolz, Watson,« sagte er endlich. »Es mag ein kleinliches Gefühl sein – aber es verletzt meinen Stolz. Jetzt betrachte ich die Sache als meine persönliche Angelegenheit, und erhält mich Gott gesund, so soll mir diese Bande nicht entgehen. – Bei mir suchte er Hilfe, und ich – ich schicke ihn in den Tod!« Er sprang auf und rannte erregt im Zimmer hin und her; seine fahlen Wangen waren gerötet, und mit nervösem Zucken öffneten und schlossen sich seine langen, schmalen Hände.

»Das müssen verschmitzte Teufel sein!« rief er endlich aus. »Wie vermochten sie ihn dort hinunter zu locken? Der Landungsplatz liegt nicht auf dem direkten Wege nach der Station. Gewiß war die Brücke, selbst in solcher Nacht, zu belebt für ihr Vorhaben. Aber, Watson, wir wollen sehen, wer von uns den kürzeren zieht. Ich gehe jetzt aus.«

»Auf die Polizei?«

»Nein. Ich will selbst meine Polizei sein. Die mag die Fliegen fangen, wenn ich das Netz gesponnen habe. Vorher nicht.«

Den ganzen Tag hatte ich in meinem Beruf zu thun, und erst am späten Abend kam ich nach der Bakerstraße zurück. Sherlock Holmes war noch nicht heimgekehrt. Kurz vor zehn trat er blaß und müde ein. Er ging nach dem Büffet, brach ein Stück Brot ab, verschlang es gierig und spülte es mit einem Trunk Wasser hinunter.

»Du bist hungrig,« bemerkte ich.

»Ganz ausgehungert. Ich habe noch gar nicht daran gedacht. Seit dem Frühstück habe ich nichts zu mir genommen.«

»Nichts?«

»Keinen Bissen. Mir fehlte die Zeit, daran zu denken.«

»Und was hast du erreicht?«

»Viel.«

»Bist du den Spitzbuben auf der Spur?«

»Ich halte die Kerle fest. Lange soll John Openshaw nicht auf Rache warten. Ihr eigenes Teufelszeichen wollen wir ihnen aufdrücken, Watson. Es ist gut ausgedacht!«

»Was meinst du?«

Er nahm eine Apfelsine aus dem Schrank, brach sie auseinander und drückte die Kerne heraus auf den Tisch. Fünf davon steckte er in einen Umschlag. Auf die Innenseite des Verschlusses schrieb er: ›S. H. für J. O.‹ dann siegelte er und adressierte an: »Kapitän James Calhoun, Barke ›Lone Star‹, Savannah. Georgia.« »Das soll ihn bei der Einfahrt in den Hafen erwarten,« sagte er höhnisch. »Es mag ihm eine schlaflose Nacht bringen und wird ihm ein so sicherer Vorbote seines Geschickes sein, wie sein Brief für Openshaw gewesen ist.«

»Wer ist dieser Kapitän Calhoun?«

»Der Anführer der Rotte. Die anderen kriege ich nachher. Erst muß er dran.«

»Wie kamst du ihm auf die Spur?«

Holmes zog einen großen Bogen aus der Tasche, der mit Namen und Daten bedeckt war.

»Den ganzen Tag durchsuchte ich Akten und Register des Lloyd und folgte dem Kurs aller Schiffe, die im Januar und Februar 1883 Ponditscherri berührten. 36 Schiffe guter Löschung liefen während dieser Monate dort ein; unter diesen fesselte eines, der ›Lone Star‹, sofort meine Aufmerksamkeit. Nach dem Bericht wäre es nämlich von London ausgelaufen, während es in Wirklichkeit von einem amerikanischen Staate kommt.«

»Wahrscheinlich aus Texas.«

»Ich bin dessen nicht sicher, so viel aber steht fest, daß das Schiff amerikanischer Herkunft sein muß.«

 

»Was weiter?«

»Ich forschte dann in den Berichten von Dundee nach, und als ich fand, daß der ›Lone Star‹ im Januar 1885 dort lag, wurde mein Verdacht zur Gewißheit. Ich erkundigte mich nach den Schiffen, die jetzt im Hafen von London find. Der ›Lone Star‹ war vorige Woche hier angekommen. – Ich ging nach dem Albert-Dock und erfuhr, das Schiff sei mit der Morgenflut ausgelaufen und auf dem Heimweg nach Savannah begriffen. Ich telegraphierte nach Gravesend. Es war bereits vorüber gesegelt; der Wind weht von Ost, also muß es unbedingt über die Sandbank von Godwin hinaus sein und nicht weit von der Insel Wight.«

»Und nun?«

»Nun halte ich ihn unter dem Daumen. Nur er und zwei Matrosen an Bord sind geborene Amerikaner; die übrigen sind Deutsche und Finnländer. Auch erfuhr ich, daß sie vorige Nacht alle drei nicht auf dem Schiff waren. Der Stauer, der die Ladung löschte, hat es mir gesagt. Bei der Einfahrt des Schiffes in Savannah wird der Postdampfer bereits diesen Brief abgeliefert haben, und die Polizei von Savannah hat durch das Kabel schon erfahren, daß auf die drei Herren von hier aus eines Mordes wegen gefahndet wird.« –

Wie schlau der Mensch aber auch seine Pläne ersinnen mag, sie werden doch oft vereitelt. John Openshaws Mörder sollten nie und nimmer die fünf Kerne erhalten, die ihnen bewiesen hätten, daß ein anderer, der nicht minder verschmitzt und entschlossen war wie sie selbst, ihnen auf die Spur gekommen sei.

Die Aequinoktalstürme waren in diesem Jahr besonders heftig und unheilvoll. Vergeblich warteten wir lange Zeit auf Nachrichten über den ›Lone Star‹ aus Savannah.

Endlich hörten wir, daß irgendwo, weit draußen im Atlantischen Ozean, ein zerbrochener Hintersteven mit den Buchstaben L. S. gezeichnet, den die Wogen umhertrieben, aufgefunden wurde, – Das ist alles, was je vom Schicksal des ›Lone Star‹ zu uns gedrungen ist.

Der Katechismus der Familie Musgrave.

Unter den mancherlei Widersprüchen im Charakter meines Freundes Sherlock Holmes war mir einer immer besonders auffallend. Es gab wohl in geistiger Beziehung keinen methodischeren Menschen auf Erden als ihn, und auch was den Anzug betraf, trug er stets eine gewisse Genauigkeit und Pünktlichkeit zur Schau. Trotzdem war er aber im täglichen Leben so unordentlich, daß es seinen Stubengefährten zur Verzweiflung treiben konnte.

Ich selbst hänge durchaus nicht zu sehr an Aeußerlichkeiten. Das rauhe, harte Leben in Afghanistan, vereint mit meinem natürlichen Hang zur Ungebundenheit, hat mich in manchen Dingen weit nachlässiger gemacht, als es sich eigentlich für einen Mediziner schickt. Aber immerhin beobachte ich gewisse Grenzen, und wenn ich mit jemand zusammenwohne, der seine Zigarren im Kohlenkasten und den Tabak in einem persischen Pantoffel aufbewahrt und der seine unbeantworteten Briefe mit dem Jagdmesser einfach an dem hölzernen Kaminsims aufspießt, dann komme ich mir, im Vergleich zu ihm, musterhaft ordentlich vor. Auch bin ich stets der Meinung gewesen, daß, wer sich im Pistolenschießen üben will, es draußen im Freien thun sollte; wenn sich daher Holmes in einer seiner wunderlichen Stimmungen mit der Schießwaffe und hundert Stück Patronen in den Lehnstuhl setzte und auf die Wand gegenüber, als Verzierung, seinen Namenszug mit Kugelnarben einschrieb, so wurde dadurch, meiner Ueberzeugung nach, weder die Luft noch das Aussehen unseres Zimmers verbessert.

Unsere Wohnung war voller Chemikalien und allerlei Andenken an Kriminalfälle, die sich überall herumtrieben und oft in der Butterdose oder an noch unpassenderen Orten auftauchten. Mein größtes Kreuz waren aber seine Papiere. Ein Schriftstück zu vernichten widerstand ihm im höchsten Grade, besonders wenn es sich auf einen seiner interessanten Fälle bezog, und doch brachte er es höchstens einmal alle Jahre zu dem Entschluß, die Sachen durchzusehen und zu ordnen. Wie ich schon öfters erwähnt habe, folgten bei ihm auf die Tage leidenschaftlicher Erregung, in denen er die merkwürdigen Thaten vollbrachte, die seinen Namen berühmt gemacht haben, Zeiten völliger Erschlaffung. Er lag dann meist mit der Geige und seinen Büchern auf dem Sofa und rührte sich kaum vom Fleck, außer um sich zur Mahlzeit an den Tisch zu setzen. So häuften sich also seine Papiere von einem Monat zum andern auf, bis es keinen Winkel des Zimmers mehr gab, in dem nicht Bündel von Manuskripten umherlagen, die unter keiner Bedingung verbrannt werden durften und über die, außer ihrem Eigentümer, niemand verfügen konnte.

Als wir einmal an einem Winterabend miteinander beim Kamin saßen, erlaubte ich mir die Bemerkung, er werde nun wohl genug Auszüge von Kriminalakten in sein Sammelbuch geklebt haben und solle die nächsten zwei Stunden dazu verwenden, unser Wohnzimmer nur einigermaßen aufzuräumen und einen menschlichen Zustand herzustellen. Daß mein Verlangen vollständig gerechtfertigt war, ließ sich nicht leugnen; so begab sich denn Holmes mit einem sehr langen Gesicht in seine Schlafstube, und als er gleich darauf wiederkam, schleifte er einen großen Blechkoffer hinter sich drein. Er stellte ihn mitten ins Zimmer, kauerte sich auf einen Schemel daneben und schlug den Deckel zurück. Der Koffer war etwa zu einem Drittel mit vielen einzelnen rotverschnürten Papierbündeln angefüllt.

»Hier giebt's Fälle im Ueberfluß, Watson,« sagte mein Freund mit schlauem Lächeln. »Wenn du wüßtest, was ich alles in diesem Koffer habe, du bätest mich vielleicht, ein paar Pakete herauszunehmen, statt noch mehr hineinzulegen.«

»Das find wohl die Akten über deine älteren Sachen?« fragte ich. »Schon oft habe ich mir gewünscht, Auszüge davon zu besitzen.«

»Jawohl, mein Junge, das sind lauter Arbeiten, die ich allzu früh unternommen habe, ehe noch mein Biograph erschien, um meinen Ruhm zu verkünden.«

Er nahm ein Bündel nach dem andern heraus und betrachtete es mit fast zärtlichen Blicken. »Nicht alles ist mir gelungen, Watson,« sagte er, »aber es sind einige ganz hübsche kleine Probleme darunter. Hier sind die Aufzeichnungen über den Mord in Tarleton, die Geschichte des Weinhändlers Bamberry, das Abenteuer der alten Russin, das sonderbare Vorkommnis mit der Aluminium-Krücke, ferner ein langer Bericht über Ricoletti mit dem Klumpfuß und sein abscheuliches Weib. Und hier – ja, das ist wirklich etwas ganz Auserlesenes.«

Er holte aus der Tiefe des Koffers ein kleines hölzernes Kistchen mit einem Schiebedeckel hervor, das wie eine Spielzeugschachtel aussah. Darin lag ein zerknittertes Stück Papier, ein altmodischer bronzener Schlüssel, ein Holzpflock, um den ein Knäuel Bindfaden gewickelt war, und drei verrostete Metallplättchen.

Holmes lächelte über mein verwundertes Gesicht.

»Nun, mein Junge, was sagst du zu diesem Kram?«

»Es ist eine merkwürdige Sammlung.«

»Ja, sehr merkwürdig, und die Geschichte, die damit zusammenhängt, würde dir noch absonderlicher vorkommen.«

»Also es knüpft sich eine Geschichte daran?«

»Ja, sogar ein Stück Weltgeschichte.«

»Wie ist das möglich?«

Holmes nahm die Gegenstände nacheinander heraus und legte sie in einer Reihe auf den Tisch. Tann zog er einen Stuhl heran, setzte sich und betrachtete sie mit befriedigten Blicken.

»Dies,« sagte er, »ist alles, was mir zum Andenken an die merkwürdige Begebenheit übrig geblieben ist, die sich auf den Katechismus der Familie Musgrave bezieht.«

Ich hatte ihn schon öfters von dem Fall reden hören, doch war es mir nie gelungen, etwas Näheres darüber zu erfahren. »Du thätest mir einen großen Gefallen,« sagte ich, »wenn du mir die Sache einmal erzählen wolltest.«

»Dann bliebe ja all der Krimskrams hier doch wieder liegen. Wie verträgt sich denn das mit deiner Ordnungsliebe, Watson?« erwiderte er, mich schalkhaft anblinzelnd. »Aber, es wäre mir wirklich lieb, wenn du den Fall unter deine Berichte aufnehmen wolltest, weil Dinge dabei vorkommen, wie sie weder in der Verbrecherchronik unseres Landes, noch in irgend einer anderen verzeichnet sind, soviel ich weiß. Deine Schilderung meiner geringen Thaten würde höchst unvollständig sein, wenn dieser sonderbare Vorgang dabei fehlte.

»Alle Welt kennt jetzt meinen Namen, und nicht nur das Publikum, sondern auch die Polizei betrachtet mich als die letzte Berufungsinstanz bei zweifelhaften Fällen. Schon damals, als wir beide zuerst miteinander bekannt wurden, hatte ich eine Menge Beziehungen angeknüpft, die freilich nicht gerade sehr einträglich waren. Aber du machst dir keinen Begriff davon, mit welchen Schwierigkeiten ich anfänglich zu kämpfen hatte und wie lange ich warten mußte, bis ich nur einigermaßen vorwärts kam.

»Meine erste Wohnung in London war in der Montague-Straße, ganz nahe beim Britischen Museum. Dort saß ich, wartete auf Klienten und benützte zugleich meine überreichliche Muße zum Studium von mancherlei Wissenschaften, die in mein Fach schlugen. Dann und wann wurden mir, hauptsächlich durch Vermittlung früherer Universitätsfreunde, allerlei Probleme vorgelegt; denn während meiner letzten Studienjahre war unter den Studenten viel von mir und meiner Methode die Rede gewesen. Von diesen ersten Fällen hat keiner ein so allgemeines Interesse erregt und ist mir dadurch auch für mein späteres Fortkommen so nützlich gewesen, wie die Geschichte vom Katechismus der Familie Musgrave mit ihrer sonderbaren Verkettung der Umstände, die zu einem höchst denkwürdigen Ergebnis führten.

»Reginald Musgrave war zugleich mit mir auf der Universität gewesen, doch wurden wir damals nur flüchtig bekannt. Er galt für hochmütig bei den jüngeren Studenten, vielleicht mit Unrecht, denn mir schien, daß er die stolze Miene nur zur Schau trug, um seinen großen Mangel an Selbstvertrauen zu verbergen. Sein Aeußeres machte einen hochadligen Eindruck; der schmale Nasenrücken, die großen Augen, die schlanke Gestalt mit den schlaffen Bewegungen und den höfischen Manieren, alles verriet den geborenen Aristokraten. Er war auch wirklich der Abkömmling einer der ältesten Familien des Königreichs, das heißt er stammte aus der jüngeren Linie, die sich im 16. Jahrhundert von den im Norden ansässigen Musgraves getrennt und im westlichen Sussex niedergelassen hatte, wo ihr Schloß in Hurlstone vielleicht das älteste noch bewohnte Gebäude der ganzen Grafschaft ist. Wenn ich die stolze Haltung des Mannes und sein bleiches, scharfgeschnittenes Gesicht betrachtete, mußte ich unwillkürlich an graue Thorgewölbe, steinerne Bogenfenster und den ganzen ehrwürdigen Bau einer mittelalterlichen Burg denken. Hier und da unterhielten wir uns miteinander, und ich erinnere mich, daß er mehrmals ein großes Interesse für meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen äußerte.


»Seit vier Jahren hatte ich nichts von ihm gesehen, als er eines Tages in der Montague-Straße bei mir eintrat. Er war wenig verändert, ging sehr modisch gekleidet – er legte von jeher großen Wert auf seinen Anzug – und sein Wesen war noch ebenso gemessen und verbindlich wie damals.

»›Wie ist es Ihnen die Zeit über ergangen, Musgrave?‹ fragte ich, nachdem wir uns freundlich die Hand geschüttelt.

»›Sie werden wohl gehört haben, daß mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist,‹ versetzte er. ›Seitdem mußte ich natürlich das Gut in Hurlstone verwalten, und da ich zugleich Abgeordneter des Bezirks bin, führe ich ein vielbeschäftigtes Leben. – Ist es wahr, was man mir sagt, Holmes, daß Sie Ihr Talent, mit dem Sie uns so oft in Erstaunen gesetzt haben, nunmehr zu praktischen Zwecken verwerten?‹

»›Jawohl, ich will mir dadurch meinen Lebensunterhalt erwerben.‹

»›Das freut mich außerordentlich, denn Ihr Rat wäre mir jetzt von ungeheuerm Wert. Bei uns in Hurlstone sind wunderliche Dinge geschehen, und die Polizei ist außer stande, Licht in das Dunkel zu bringen. Es ist wirklich ein höchst seltsames und unerklärliches Vorkommnis.‹

»Du kannst dir denken, Watson, mit welcher Begierde ich seinen Worten lauschte; endlich schien sich mir die günstige Gelegenheit bieten zu wollen, nach der ich während all der langen unthätigen Monate geschmachtet hatte. Was andern mißglückte, würde mir gelingen, davon war ich fest überzeugt; es galt nur noch eine Probe meiner Befähigung abzulegen.

»›Bitte, Musgrave, erzählen Sie mir alles Nähere,‹ rief ich.

»Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich eine Zigarette an, die ich ihm hingeschoben hatte.

»›Vor allem muß ich Ihnen sagen,‹ begann er, ›daß ich zwar unverheiratet bin, aber doch in Hurlstone eine zahlreiche Dienerschaft habe, denn das Schloß ist ein weitläufiger alter Bau und schwer in Ordnung zu halten. Auch ein Wildpark gehört dazu, und um die Zeit der Fasanenjagd sind alljährlich viele Gäste im Hause, so daß für genügende Bedienung gesorgt sein muß. Alles in allem hatte ich acht Dienstmädchen, den Koch, den Hausmeister, zwei Diener und einen Laufburschen. Für den Garten und die Ställe sind natürlich noch besondere Leute da.

 

»›Von allen Dienern hatten wir Brunton, den Hausmeister, am längsten bei uns. Als er zuerst bei meinem Vater eintrat, war er eigentlich Schullehrer, aber ohne Stelle; durch große Umsicht und Thatkraft machte er sich bald in der Haushaltung vollständig unentbehrlich. Er ist ein schöner Mann von hohem Wuchs, mit prächtiger Stirne, und wird jetzt kaum vierzig Jahre alt sein, obgleich er bereits seit zwanzig Jahren in unserem Dienste steht. Bei seinen äußeren Vorzügen und seiner ungewöhnlichen Begabung – er spricht mehrere Sprachen, ist sehr musikalisch und spielt fast alle Instrumente – ist es schwer begreiflich, wie ihm die Stellung in unserem Hause so lange genügen konnte. Er muß sich wohl zu behaglich gefühlt haben, um den Gedanken an einen Wechsel überhaupt aufkommen zu lassen. Der Hausmeister von Hurlstone machte auf meine Gäste stets einen unvergeßlichen Eindruck.

»›Allein dieser Ausbund von Vortrefflichkeit hatte einen Fehler. Er war eine Art Don Juan, und Sie können sich vorstellen, daß ein Mann wie er diese Rolle in einem kleinen stillen Landbezirk ohne Schwierigkeit durchführte.

»›Solange er verheiratet war, ging alles gut; aber seit er Witwer ist, kommen wir aus der Not mit ihm gar nicht heraus. Vor einigen Monaten schmeichelten wir uns mit der Hoffnung, er werde nun Frieden halten, denn er verlobte sich mit dem zweiten Hausmädchen, Rahel Howells; seitdem hat er ihr aber den Laufpaß gegeben und sich Janet Tregellis zugewandt, der Tochter des obersten Wildhüters. Rahel ist Walliserin von Geburt, ein treffliches Mädchen, aber von sehr leidenschaftlicher Gemütsart; sie verfiel in ein Nervenfieber und geht jetzt – oder ging vielmehr bis gestern, nur noch wie der Schatten von ihrem früheren Selbst im Hause umher. Das war unser erstes Trauerspiel in Hurlstone, aber bald darauf folgte ein zweites, dem die schimpfliche Entlassung des Hausmeisters Brunton voranging.

»›Die Sache hat sich folgendermaßen zugetragen: Ich erwähnte bereits, daß der Mann ungewöhnlich begabt war, aber gerade seine Klugheit hat ihn ins Verderben gestürzt, denn sie scheint in ihm eine unersättliche Neugier nach Dingen erzeugt zu haben, die ihn nicht im geringsten angehen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ihn das führen würde, bis der reinste Zufall mir endlich die Augen öffnete.

»›Letzte Woche – es war am Donnerstag, wenn Sie es ganz genau wissen wollen – konnte ich einmal nachts durchaus nicht einschlafen, weil ich thörichterweise eine Tasse starken schwarzen Kaffees nach Tische getrunken hatte. Bis zwei Uhr versuchte ich es auf alle Art, da aber der Schlaf durchaus nicht kommen wollte, stand ich endlich auf und zündete mir ein Licht an, um einen angefangenen Roman weiter zu lesen. Das Buch war jedoch im Billardzimmer liegen geblieben, und so zog ich denn meinen Schlafrock an und ging, es mir zu holen.

»›Um ins Billardzimmer zu gelangen, mußte ich in dem weitläufigen Gebäude erst eine Treppe hinunter und über den Gang gehen, der nach der Bibliothek und der Gewehrkammer führt. Nun denken Sie sich mein Erstaunen, als ich diesen Gang betrat und am Ende desselben einen Lichtschimmer gewahrte, der aus der offenen Thür der Bibliothek kam. Ehe ich zu Bette ging, hatte ich dort mit eigener Hand die Lampe gelöscht und die Thür geschlossen. Natürlich dachte ich zuerst an Einbrecher. Die Wände in den Korridoren von Hurlstone sind reich mit alten Waffen verziert; ich nahm eine Streitaxt vom Nagel, ließ mein Licht zurück, schlich auf den Zehen den Gang hinunter und blickte verstohlen durch die offene Thür hinein.


»›Brunton, der Hausmeister, war in der Bibliothek. Er saß ganz angezogen in einem Lehnstuhl, hatte ein Blatt Papier wie eine Karte auf seinem Knie ausgebreitet und den Kopf in die Hand gestützt, als wäre er tief in Gedanken; eine dünne Kerze, die auf dem Tisch brannte, verbreitete nur einen schwachen Schein. Ich stand stumm vor Staunen im Dunkeln da, meinen Diener beobachtend. Plötzlich erhob er sich, ging nach dem Schreibtisch an der Wand, schloß ihn auf, nahm aus einer Schublade ein Blatt Papier, kehrte damit zu seinem Sitz zurück, legte es auf den Tisch neben die Kerze und begann es mit der größten Aufmerksamkeit zu lesen. In meiner Entrüstung über sein freches Durchstöbern unserer Familienurkunden that ich einen Schritt vorwärts. Brunton blickte auf. Als er mich in der Thüröffnung stehen sah, wurde sein Gesicht aschfahl vor Schrecken, und blitzschnell steckte er das kartenähnliche Papier, das er zuerst besichtigt hatte, in seine Brusttasche.

»›– Das also‹ rief ich, ›ist Ihr Dank für das Vertrauen, welches wir in Sie gesetzt haben! – Gleich morgen verlassen Sie meinen Dienst!‹

»›Er war wie vernichtet und schritt mit gesenktem Kopf an mir vorüber, ohne ein Wort zu erwidern. Die Kerze brannte noch auf dem Tisch und ich warf einen Blick auf das Papier, welches Brunton aus dem Schreibtisch genommen hatte. Zu meiner Ueberraschung enthielt es gar nichts Wichtiges, sondern war nur eine Abschrift des sogenannten ›Katechismus der Musgraves‹ mit seinen sonderbaren Fragen und Antworten, an die sich ein alter Brauch in unserer Familie knüpft, den seit Jahrhunderten jeder Musgrave bei seiner Großjährigkeit durchmachen muß. Er hat weder ein allgemeines Interesse noch irgend welchen praktischen Nutzen außer vielleicht für den Altertumsforscher, ähnlich wie unsere Adelsschilde und Wappenbilder.‹«

»›Auf das Papier wollen wir lieber später zurückkommen,‹ sagte ich.

»›Wenn Sie es für nötig halten,‹ antwortete er zögernd. – ›Ich fahre also in meinem Bericht fort: Nachdem ich den Schreibtisch, in welchem noch der Schlüssel steckte, wieder zugeschlossen hatte, wollte ich eben das Zimmer verlassen, als ich zu meiner Ueberraschung den Hausmeister wieder vor mir stehen sah.

»›– Herr Musgrave‹ sagte er, und seine Stimme klang heiser vor innerer Bewegung, ›ich kann die Schande nicht ertragen. Von jeher bin ich stolz auf meinen Stand gewesen, und die Schmach überlebe ich nicht. Sie jagen mich in den Tod, Herr, glauben Sie es mir, wenn Sie mich zur Verzweiflung treiben. Können Sie mich, nach dem, was vorgefallen ist, nicht länger im Dienst behalten, so geben Sie mir eine Kündigungsfrist und lassen Sie mich nächsten Monat fortgehen, als ob ich es freiwillig thäte. Vor allen Leuten, die ich so gut kenne, fortgejagt zu werden, das könnte ich nicht ertragen.‹

»›– Sie verdienen durchaus keine Schonung, Brunton‹ entgegnete ich; ›ganz ehrlos haben Sie gehandelt! Doch will ich Sie nicht der öffentlichen Schande preisgeben, weil Sie so lange in unserer Familie waren. Von einem Monat kann aber keine Rede sein. Machen Sie, daß Sie in einer Woche fortkommen; welche Gründe Sie dafür angeben wollen, ist mir gleich.‹

»›– Nicht mehr als eine Woche, Herr?‹ rief er verzweiflungsvoll. ›Wenigstens vierzehn Tage – gewähren Sie mir vierzehn Tage!‹

»›– Eine Woche,‹ wiederholte ich. ›Sie sind dann noch viel zu glimpflich fortgekommen.‹

»›Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und schlich wie gebrochen hinaus; ich aber löschte das Licht und kehrte in mein Zimmer zurück.

»›Während der nächsten zwei Tage war Brunton sehr eifrig in seinem Dienst. Ich erwähnte das Vorgefallene mit keiner Silbe und wartete nicht ohne Spannung, wie er es anstellen würde, seine Schmach zu verheimlichen. Am dritten Morgen erschien er nicht wie gewöhnlich nach dem Frühstück, um meine Befehle für den Tag entgegenzunehmen. Als ich das Eßzimmer verließ, traf ich zufällig das Dienstmädchen Rahel Howells. Sie war, wie gesagt, erst kürzlich von einer schweren Krankheit genesen und sah so entsetzlich bleich aus, daß ich sie schalt, weil sie sich zu früh an die Arbeit begeben hatte.

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