Sherlock Holmes' Buch der Fälle

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»Was war denn damit?«

»Ich sag Ihnen, Mr. Holmes, dieser Mann sammelt Frauen wie andere Leute Falter oder Schmetterlinge, und er ist ebenso stolz auf seine Sammlung. In dem Buch war alles drin. Schnappschüsse, Namen, ausführliche Beschreibungen – einfach alles über sie. 'n hundsgemeines Buch war das – 'n Buch, wie's nicht mal einer aus der Gosse hätt zusammenstellen können. Und trotzdem war das Adelbert Gruners Buch. ›Seelen, von mir zugrunde gerichtet‹ – das hätt er obendrauf schreiben können, wenn er gewollt hätt. Aber das tut hier nix zur Sache, das Buch würd Ihnen nämlich nix nützen, und selbst wenn – Sie kommen doch nicht ran.«

»Wo ist es?«

»Wie soll ich das wissen, wo's jetzt ist? Es ist ja schon mehr als ein Jahr her, daß ich ihn verlassen hab. Ich weiß, wo er's damals aufbewahrt hat. Er ist ja in vielen Dingen pingelig und säuberlich wie 'ne Katze, deshalb ist es vielleicht immer noch im Brieffach von dem alten Schreibpult im hinteren Arbeitszimmer. Kennen Sie sein Haus?«

»Ich war bereits in seinem Arbeitszimmer«, sagte Holmes.

»Wirklich? Da waren Sie aber schon ganz schön fleißig, wenn Sie erst heut früh angefangen haben. Vielleicht hat der liebe Adelbert diesmal seinen Meister gefunden. Das vordere Arbeitszimmer ist das mit dem chinesischen Geschirr – in dem großen Glasschrank zwischen den Fenstern. Und hinter'm Schreibtisch ist dann die Tür, die zum hinteren Arbeitszimmer führt – 'n kleiner Raum, wo er Papiere und anderen Kram aufbewahrt.«

»Hat er denn keine Angst vor Einbrechern?«

»Adelbert ist kein Feigling. Nicht mal sein schlimmster Feind könnt das von ihm behaupten. Er kann auf sich selber aufpassen. Für die Nacht ist 'ne Alarmglocke da. Außerdem, was gibt's dort für'n Einbrecher groß zu holen? Höchstens, daß er mit dem ganzen feinen Geschirr abhaut.«

»Lohnt sich nicht«, sagte Shinwell Johnson im entschiedenen Tonfall des Experten. »Kein Hehler will Ware, die er weder einschmelzen noch verkaufen kann.«

»Ganz recht«, sagte Holmes. »Nun denn, Miss Winter, wenn Sie morgen abend um fünf hierherkommen wollen, könnte ich in der Zwischenzeit darüber nachdenken, ob sich Ihr Vorschlag, die Lady persönlich aufzusuchen, nicht doch durchführen ließe. Ich bin Ihnen für Ihre Mitarbeit außerordentlich verbunden. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß meine Klienten eine großzügige Belohnung ...«

»Kein Wort davon, Mr. Holmes«, rief die junge Frau. »Ich bin nicht auf Geld aus. Ich will diesen Mann im Dreck liegen sehen, dann hab ich alles erreicht, was ich wollte – im Dreck, und mein Fuß auf seiner verfluchten Fratze. Das ist mein Lohn. Ich bin morgen dabei oder an jedem anderen Tag – so lang, wie Sie ihm auf der Spur sind. Porky hier kann Ihnen immer sagen, wo ich zu finden bin.«

Ich sah Holmes erst am folgenden Abend wieder, als wir erneut in unserem Restaurant am Strand speisten. Als ich ihn fragte, ob er mit seiner Unterredung Glück gehabt habe, zuckte er mit den Achseln. Dann erzählte er die Geschichte, die ich wie folgt wiedergeben möchte. Sein harter, trockener Bericht bedarf allerdings einer behutsamen auflockernden Bearbeitung, um ihn in die Ausdrucksweise des wirklichen Lebens zu überführen.

»Die Verabredung zu treffen, war überhaupt nicht schwierig«, sagte Holmes; »das Mädchen macht sich ein Vergnügen daraus, in allen nebensächlichen Dingen eine unterwürfige kindliche Gehorsamkeit an den Tag zu legen, mit der sie versucht, ihre krasse Widersetzlichkeit in Sachen Verlöbnis wiedergutzumachen. Der General rief an, daß alles bereit sei, und planmäßig erschien auch die feurige Miss W., so daß uns um halb sechs eine Droschke vor den Toren von 104, Berkeley Square absetzte, wo der alte Kämpe residiert – eines von diesen scheußlichen grauen Londoner Schlössern, neben denen eine Kirche sich frivol ausnähme. Ein Lakai führte uns in ein großes Empfangszimmer mit gelben Vorhängen, und dort erwartete uns bereits die Lady: ernst, blaß, verschlossen – so unerschütterlich und entrückt wie eine Schneestatue auf einem Berg.

Ich weiß nicht recht, wie ich sie Ihnen deutlich machen soll, Watson. Vielleicht lernen Sie sie noch kennen, bevor wir mit der Sache durch sind, dann können Sie von Ihrer eigenen Formulierungsgabe Gebrauch machen. Sie ist schön; aber von jener ätherischen Schönheit einer Fanatikerin, die mit ihren Gedanken in den höchsten Gefilden schwebt. Solche Gesichter habe ich auf den Gemälden der alten Meister des Mittelalters gesehen. Wie ein Unhold seine schmutzigen Pratzen auf solch ein Wesen aus dem Jenseits legen konnte, ist mir unbegreiflich. Sie haben vielleicht schon beobachtet, daß Gegensätze einander anziehen: das Geistige das Animalische, der Höhlenmensch den Engel. Einen schlimmeren Fall als diesen haben Sie noch nicht erlebt.

Sie wußte natürlich, warum wir gekommen waren – dieser Schurke hatte keine Zeit verloren, ihr Gemüt gegen uns zu vergiften. Miss Winters Erscheinen überraschte sie ziemlich, glaube ich; aber dann winkte sie uns in unsere Sessel wie eine ehrwürdige Äbtissin, die zwei ziemlich lepröse Bettelmönche empfängt. Sollten Sie je zu Aufgeblasenheit neigen, mein lieber Watson, machen Sie eine Kur bei Miss Violet de Merville.

›Nun, Sir‹, sagte sie, mit einer Stimme wie der Wind von einem Eisberg, ›Ihr Name ist mir vertraut. Wie ich höre, sind Sie gekommen, um meinen Verlobten, Baron Gruner, zu verleumden. Es geschieht einzig auf Bitten meines Vaters, daß ich Sie überhaupt empfange, und ich mache Sie schon im voraus darauf aufmerksam, daß alles, was Sie sagen werden, mich auch nicht im leisesten beeindrucken kann.‹

Sie tat mir leid, Watson. Einen Augenblick lang empfand ich für sie so, wie ich für meine eigene Tochter empfunden hätte. Ich bin nicht oft beredsam. Ich gebrauche meinen Kopf, nicht mein Herz. Aber ich habe auf sie wahrhaftig mit aller Wärme eingeredet, die ich aufbringen konnte. Ich malte ihr die scheußliche Lage einer Frau aus, der der Charakter eines Mannes erst aufgeht, nachdem sie seine Gattin geworden ist – einer Frau, die sich den Liebkosungen blutiger Hände und wollüstiger Lippen unterwerfen muß. Ich ersparte ihr nichts – die Schande, die Furcht, die Pein, die Hoffnungslosigkeit des Ganzen. All meine glühenden Worte vermochten auf jenen Elfenbeinwangen nicht einen Hauch von Farbe und in jenen abwesenden Augen nicht einen Schimmer von Erregung hervorzurufen. Ich dachte daran, was der Halunke über posthypnotischen Einfluß gesagt hatte. Man konnte wirklich glauben, daß sie hoch über der Erde in einem ekstatischen Traum lebte. Dennoch waren ihre Antworten nichts weniger als unentschieden.

›Ich habe Ihnen geduldig zugehört, Mr. Holmes‹, sagte sie. ›Der Eindruck auf mich ist genau wie vorausgesagt. Es ist mir bekannt, daß Adelbert, daß mein Verlobter ein stürmisches Leben hinter sich hat, in dem er sich bitteren Haß und höchst ungerechte Schmähungen zuzog. Sie sind nur der letzte einer Reihe von Leuten, die mir ihre Verleumdungen vorgebracht haben. Möglicherweise meinen Sie es gut, obwohl ich höre, daß sie ein bezahlter Agent sind, der ebenso bereit gewesen wäre, für den Baron zu arbeiten wie gegen ihn. Jedenfalls möchte ich, daß Sie ein für allemal begreifen, daß ich ihn liebe und daß er mich liebt und daß die Meinung der ganzen Welt mir nicht mehr bedeutet als das Gezwitscher der Vögel draußen vor dem Fenster. Wenn sein edler Charakter jemals einen kurzen Augenblick zu Fall gekommen ist, wurde ich vielleicht eigens gesandt, um ihn zu seiner wahren und stolzen Höhe aufzurichten. Mir ist nicht klar‹, hierbei richtete sie ihren Blick auf meine Begleiterin, ›wer diese junge Lady sein mag.‹

Ich wollte eben antworten, als das Mädchen wie ein Wirbelwind dazwischenfuhr. Wenn sich jemals Flamme und Eis von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, dann in den Gestalten dieser beiden Frauen.

›Ich werd Ihnen sagen, wer ich bin‹, rief sie mit vor Leidenschaft verzerrtem Mund und fuhr aus dem Sessel hoch – ›ich war seine letzte Mätresse. Ich bin eine von hundert, die er verführt und benutzt und ruiniert und auf den Kehrichthaufen geworfen hat, so wie er's mit Ihnen auch machen wird. Ihr Kehrichthaufen ist dann wahrscheinlich schon mehr 'n Grab, und vielleicht ist das auch am besten so. Ich sag Ihnen, Sie närrisches Weib, wenn Sie diesen Mann heiraten, wird er Ihr Tod sein. Ob's dann 'n gebrochenes Herz ist oder 'n gebrochenes Genick – irgendwie packt er Sie schon. Ich red hier nicht aus Liebe zu Ihnen. Es schert mich keinen Pfifferling, ob Sie leben oder sterben. Ich red aus Haß auf ihn und um ihm eins auszuwischen und um's ihm heimzuzahlen, was er mir angetan hat. Aber das ist auch einerlei, und Sie brauchen mich gar nicht so anzugucken, meine feine Lady; Ihnen mag's nämlich noch dreckiger gehen als mir, bevor Sie's hinter sich haben.‹

›Ich zöge es vor, solche Dinge unerörtert zu lassen‹, sagte Miss de Merville kalt. ›Lassen Sie mich ein für allemal sagen, daß mir aus dem Leben meines Verlobten drei Vorfälle bekannt sind, bei denen er in Beziehungen mit intriganten Frauen verwickelt wurde, und daß ich seiner aufrichtigen Reue über etwelche Übeltaten, die er begangen haben mag, versichert bin.‹

›Drei Vorfälle!‹ schrie meine Begleiterin. ›Sie Närrin! Sie unsagbare Närrin!‹

›Mr. Holmes, ich bitte Sie, diese Unterredung zu beenden‹, sagte die eisige Stimme. ›Ich habe dem Wunsch meines Vaters, Sie zu empfangen, entsprochen; aber ich bin nicht gezwungen, mir die wahnwitzigen Reden dieser Person anzuhören.‹

Mit einem Fluch stürzte Miss Winter vorwärts, und wenn ich sie nicht am Handgelenk festgehalten hätte, dann hätte sie diese Frau vor Wut an den Haaren gepackt. Ich zerrte sie zur Tür und hatte Glück, sie ohne öffentliches Aufsehen zurück in die Droschke zu bekommen, denn sie war außer sich. Auf eine kalte Art und Weise war ich selbst ganz schön wütend, Watson, denn es lag etwas unbeschreiblich Aufreizendes in der leidenschaftslosen Reserviertheit und erhabenen Selbstgefälligkeit der Frau, die wir zu retten versuchten. Nun kennen Sie also wieder den genauen Stand der Dinge, und ich muß offensichtlich einen neuen Eröffnungszug planen, denn mit diesem Gambit klappt es wohl nicht. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung, Watson; es ist nämlich mehr als wahrscheinlich, daß auch Sie Ihren Part noch spielen müssen, obwohl es auch sein kann, daß zunächst sie und nicht wir am Zug sind.«

 

Und so war es. Ihr Streich fiel – oder vielmehr sein Streich; denn niemals könnte ich glauben, daß die Lady darin eingeweiht war. Ich glaube, ich könnte noch genau den Pflasterstein bezeichnen, auf dem ich stand, als mein Blick auf das Plakat fiel und ein Stich des Grauens mir mitten durchs Herz fuhr. Es geschah zwischen dem Grand Hotel und der Charing Cross Station, wo ein einbeiniger Zeitungsverkäufer seine Abendausgabe feilbot. Es war genau zwei Tage nach unserer letzten Unterhaltung. Dort stand es, schwarz auf gelb, auf dem schrecklichen Aushängebogen:


Ich glaube, ich blieb einige Augenblicke lang wie betäubt stehen. Dann erinnere ich mich undeutlich, daß ich mir eine Zeitung schnappte, daß der Mann mich ermahnte, weil ich nicht bezahlt hatte, und daß ich schließlich im Eingang einer Apotheke stand, während ich den verhängnisvollen Artikel aufschlug. Er lautete wie folgt:

Wir erfahren mit Bedauern, daß Mr. Sherlock Holmes, der bekannte Privatdetektiv, heute vormittag das Opfer eines Mordüberfalls wurde, der ihn in einen besorgniserregenden Gesundheitszustand versetzte. Genaue Einzelheiten liegen nicht vor, der Vorfall scheint sich jedoch gegen zwölf Uhr in der Regent Street, vor dem Café Royal, ereignet zu haben. Der Anschlag wurde von zwei mit Stöcken bewaffneten Männern verübt, und Mr. Holmes erhielt Schläge auf Kopf und Körper, wobei er Verletzungen davontrug, welche die Ärzte als äußerst ernst bezeichnen. Man überführte ihn ins Charing Cross Hospital; später bestand er darauf, zu seiner Wohnung in der Baker Street gebracht zu werden. Bei den Schurken, die ihn überfallen haben, handelt es sich offenbar um respektierlich gekleidete Männer, die den Umstehenden entkamen, indem sie durchs Café Royal hinaus auf die dahinter liegende Glasshouse Street liefen. Ohne Zweifel gehören sie zu jener verbrecherischen Vereinigung, die schon so oft Gelegenheit hatte, Tatkraft und Scharfsinn des Verletzten zu beklagen.

Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich den Artikel kaum überflogen hatte, als ich schon in eine Droschke sprang und mich auf dem Weg zur Baker Street befand. Im Hausflur traf ich Sir Leslie Oakshott an, den berühmten Wundarzt, dessen Kutsche am Bordstein wartete.

»Keine unmittelbare Gefahr«, lautete sein Rapport. »Zwei Platzwunden am Kopf und ein paar beachtliche Quetschungen. Mehrere Stiche waren erforderlich. Morphium wurde injiziert, und Hauptsache ist Ruhe; aber eine Unterredung von ein paar Minuten wäre durchaus nicht verboten.«

Mit dieser Erlaubnis stahl ich mich in das abgedunkelte Zimmer. Der Leidende war hellwach, und ich hörte meinen heiser geflüsterten Namen. Das Rouleau war zu drei Vierteln herabgelassen, aber ein Sonnenstrahl glitt schräg hindurch und traf den bandagierten Kopf des Verletzten. Ein karmesinroter Fleck hatte sich durch die weiße Leinenkompresse gesaugt. Ich setzte mich neben Holmes und senkte den Kopf.

»Schon gut, Watson. Machen Sie nicht so ein erschrockenes Gesicht«, murmelte er mit sehr schwacher Stimme. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Gott sei Dank!«

»Ich bin ja ein ziemlicher Experte im Stockfechten, wie Sie wissen. Die meisten Hiebe habe ich abgewehrt. Der zweite Gegner, der war freilich zuviel für mich.«

»Was kann ich denn tun, Holmes? Es war natürlich dieser verdammte Bursche, der sie angesetzt hat. Ein Wort von Ihnen, und ich geh los und zieh ihm das Fell über die Ohren.«

»Guter alter Watson! Nein, wir können nichts tun; es sei denn, die Polizei ergreift die Männer. Aber ihre Flucht war gut vorbereitet. Dessen können wir sicher sein. Warten Sie noch ein bißchen ab. Ich habe so meine Pläne. Zunächst heißt es, meine Verletzungen aufs grellste darzustellen. Man wird Sie um Neuigkeiten angehen. Tragen Sie dick auf, Watson. Ich hätte Glück, wenn ich die Woche noch überlebte – Gehirnerschütterung – Delirium – was Sie wollen! Sie können gar nicht genug übertreiben.«

»Aber Sir Leslie Oakshott?«

»Oh, das geht schon in Ordnung. Er wird mich im schlechtesten Zustand erleben. Dafür sorge ich schon.«

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Richten Sie Shinwell Johnson aus, er soll dieses Mädchen aus der Schußlinie bringen. Diese Prachtburschen werden nun hinter ihr her sein. Sie wissen natürlich, daß sie wegen der Sache bei mir war. Wenn sie es sich bei mir getraut haben, werden sie sie wohl kaum ungeschoren lassen. Das ist dringend. Erledigen Sie es noch heute abend.«

»Ich bin schon auf dem Sprung. Noch etwas?«

»Legen Sie meine Pfeife auf den Tisch – und den Tabakspantoffel. Gut! Schauen Sie jeden Morgen herein, dann werden wir unseren Feldzug planen.«

Am gleichen Abend verabredete ich mit Johnson, Miss Winter in eine ruhige Vorstadt zu bringen und dafür zu sorgen, daß sie sich versteckt hielt, bis die Gefahr vorüber war.

Sechs Tage lang lebte die Öffentlichkeit unter dem Eindruck, daß Holmes sich an der Schwelle des Todes befinde. Die Bulletins waren sehr ernst, und in den Zeitungen erschienen düstere Artikel. Meine fortgesetzten Visiten überzeugten mich, daß es so schlimm nicht stand. Seine drahtige Konstitution und sein entschlossener Wille wirkten Wunder. Er erholte sich schnell, und ich hatte zuzeiten den Verdacht, daß er tatsächlich schneller auf die Beine kam, als er, selbst mir gegenüber, vorgab. Er hatte eine seltsame heimlichtuerische Ader, die schon manchen dramatischen Effekt gezeitigt hatte, aber selbst seine engsten Freunde darüber im dunkeln ließ, welches seine genauen Pläne waren. Bis zum Äußersten verfolgte er den Grundsatz, daß der einzig sichere Plan der sei, den einer alleine aushecke. Ich stand ihm näher als irgend jemand sonst; dennoch war ich mir der Kluft zwischen uns immer bewußt.

Am siebten Tag wurden ihm die Fäden gezogen; trotzdem erschien in den Abendblättern ein Bericht über eine Wundrose. In denselben Abendblättern stand eine Ankündigung, die ich meinem Freund, sei er nun krank oder wohlauf, zu bringen verpflichtet war. Es handelte sich schlicht darum, daß sich unter den Passagieren eines Schiffes der Cunard-Linie, der Ruritania, die am Freitag von Liverpool aus in See stechen sollte, der Baron Adelbert Gruner befand, der in den Staaten einige wichtige Finanzgeschäfte abzuwickeln habe, und zwar noch vor seiner nahe bevorstehenden Heirat mit Miss Violet de Merville, der einzigen Tochter von usw. usw. Holmes lauschte den Neuigkeiten mit einem kalten, konzentrierten Ausdruck auf seinem blassen Gesicht, was mir verriet, daß sie ihn hart trafen.

»Freitag!« rief er. »Nur noch drei volle Tage. Ich glaube, der Halunke will sich aus der Gefahrenzone absetzen. Aber das wird ihm nicht gelingen, Watson! Beim Leibhaftigen, das wird ihm nicht gelingen! Doch nun, Watson, möchte ich, daß Sie etwas für mich tun.«

»Dazu bin ich ja hier, Holmes.«

»Gut, dann verwenden Sie die nächsten vierundzwanzig Stunden auf ein intensives Studium chinesischer Keramik.«

Er gab keine Erklärungen ab, und ich fragte auch nicht danach. Durch lange Erfahrung hatte ich die Weisheit des Gehorsams gelernt. Als ich jedoch seine Wohnung verlassen hatte, ging ich die Baker Street entlang und sann darüber nach, wie um alles in der Welt ich eine so sonderbare Anordnung ausführen sollte. Schließlich fuhr ich zur London Library am St. James Square, trug die Sache meinem Freund Lomax, dem Unterbibliothekar, vor und begab mich mit einem stattlichen Band unter dem Arm zu meiner Wohnung.

Man sagt, daß der Rechtsanwalt, der einen Fall so sorgfältig paukt, daß er einen sachverständigen Zeugen am Montag vernehmen kann, all sein gewaltsam angeeignetes Wissen schon vor Samstag wieder vergessen hat. Ich möchte mich jetzt gewiß nicht als Autorität für Keramiken ausgeben. Den ganzen damaligen Abend jedoch und, mit einer kurzen Ruhepause, die ganze damalige Nacht und den ganzen nächsten Morgen verschlang ich Wissen und prägte dem Gedächtnis Namen ein. Da erfuhr ich von den Kennzeichen der großen Dekorationskünstler, vom Geheimnis zyklischer Daten, von den Stempeln der Hung-wu-und den Schönheiten der Yung-lo-Zeit13, von den Schriften des Tang-ying und den Herrlichkeiten der primitiven Periode der Sung- und Yüan-Dynastien14. Ich war angefüllt mit all diesen Kenntnissen, als ich Holmes am nächsten Abend besuchte. Inzwischen lag er nicht mehr zu Bett – wenn auch die öffentliche Berichterstattung dies nicht vermuten ließ – und saß, den dick bandagierten Kopf auf die Hand gestützt, in der Kuhle seines Lieblingssessels.

»Nanu, Holmes«, sagte ich, »wenn man den Zeitungen Glauben schenkt, dann liegen Sie gerade im Sterben.«

»Das«, sagte er, »ist genau der Eindruck, den ich vermitteln wollte. Nun denn, Watson, haben Sie Ihre Lektionen gelernt?«

»Ich habe es zumindest versucht.«

»Gut. Sie könnten ein intelligentes Gespräch über das Thema in Gang halten?«

»Ich glaube schon.«

»Dann reichen Sie mir diese kleine Schachtel vom Kamin.«

Er öffnete den Deckel und entnahm einen kleinen Gegenstand, der überaus sorgfältig in feinen orientalischen Seidenstoff gewickelt war. Diesen faltete er auseinander und enthüllte eine zarte kleine Schale von schönster dunkelblauer Farbe.

»Sie bedarf sorgfältiger Behandlung, Watson. Das ist echtes Eierschalenporzellan15 der Ming-Dynastie16. Ein feineres Stück wanderte niemals über Christies Auktionstisch. Ein komplettes Service hiervon wäre ungeheuer wertvoll – tatsächlich ist es zweifelhaft, ob es außerhalb des Kaiserpalastes von Peking ein komplettes Service gibt. Der Anblick dieses Stückes würde einen echten Kenner rasend machen.«

»Und was soll ich damit tun?«

Holmes reichte mir eine Karte mit folgendem Aufdruck: Dr. Hill Barton, 369 Half Moon Street.

»Das ist Ihr Name für heute abend, Watson. Sie werden Baron Gruner einen Besuch abstatten. Ich kenne mich ein wenig in seinen Gewohnheiten aus; um halb neun dürfte er vermutlich frei sein. Vorher wird ihm ein Billett ankündigen, daß Sie die Absicht haben, vorzusprechen; und Sie werden dann verkünden, daß Sie ihm ein Muster eines vollkommen einzigartigen Services aus dem China der Ming-Zeit mitgebracht haben. Sie dürfen durchaus ein Arzt sein, da das eine Rolle ist, die Sie ohne Doppelzüngigkeit spielen können. Sie sind Sammler, dieses Service ist Ihnen untergekommen, Sie haben von des Barons Interesse für das Gebiet gehört, und Sie sind nicht abgeneigt, zu einem angemessenen Preis zu verkaufen.«

»Wie angemessen?«

»Gut gefragt, Watson. Sie würden freilich schlimm auf die Nase fallen, wenn Sie über den Wert Ihrer eigenen Ware nicht Bescheid wüßten. Diese Schale hat mir Sir James besorgt; sie stammt, soviel ich weiß, aus der Sammlung seines Klienten. Sie werden nicht übertreiben, wenn Sie andeuten, daß es Ebenbürtiges auf der Welt kaum geben dürfte.«

»Vielleicht könnte ich vorschlagen, das Service von einem Experten schätzen zu lassen.«

»Ausgezeichnet, Watson! Sie sprühen heute vor Geist. Schlagen Sie Christie oder Sotheby17 vor. Ihre Feinfühligkeit läßt es nicht zu, einen Preis selbst zu bestimmen.«

»Aber wenn er mich nicht empfangen will?«

»O doch, er wird Sie empfangen. Er leidet an Sammelwut in ihrer ausgeprägtesten Form – und besonders was dieses Gebiet betrifft, auf dem er eine anerkannte Autorität ist. Setzen Sie sich, Watson, dann diktiere ich Ihnen den Brief. Antwort ist nicht erforderlich. Sie teilen lediglich mit, daß Sie kommen, und weshalb.«

Es war ein bewundernswertes Dokument, kurz, höflich und die Neugier des Kenners entfachend. Ein Bote wurde rechtzeitig damit entsandt. Am selben Abend brach ich mit der kostbaren Schale in der Hand und der Karte von Dr. Hill Barton in der Tasche zu meinem Abenteuer auf. Das schöne Haus und Grundstück wies daraufhin, daß Baron Gruner, wie Sir James gesagt hatte, ein Mann von beträchtlichem Reichtum war. Eine lange, gewundene Auffahrt, mit Banketten seltener Sträucher zu beiden Seiten, mündete in einen großen, kiesbestreuten Platz, der mit Statuen geschmückt war. Das Anwesen war von einem südafrikanischen Goldkönig in den Tagen des großen Booms erbaut worden, und das langgestreckte, niedrige Haus mit den Ecktürmchen – obschon ein architektonischer Albtraum – imponierte durch seine Größe und Solidität. Ein Butler, der sich als Kirchenvertreter im House of Lords sehr gut ausgenommen hätte, ließ mich eintreten und überantwortete mich einem in Plüsch gekleideten Lakaien, der mich ins Empfangszimmer des Barons geleitete.

 

Er stand gerade vor einer großen geöffneten Vitrine, die sich zwischen den Fenstern befand und einen Teil seiner chinesischen Sammlung enthielt. Bei meinem Eintreten drehte er sich um und hielt eine kleine braune Vase in der Hand.

»Bitte nehmen Sie doch Platz, Doktor«, sagte er. »Ich habe eben meine eigenen Schätze betrachtet und mich gefragt, ob ich es mir wirklich leisten könnte, sie zu vermehren. Dieses kleine T'ang-Exemplar18 aus dem siebten Jahrhundert dürfte Sie vermutlich interessieren. Ich bin sicher, feinere Handarbeit oder eine reichere Glasur haben Sie noch nie gesehen. Haben Sie die erwähnte Ming-Schale bei sich?«

Ich packte sie sorgfältig aus und reichte sie ihm. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog, da es bereits dunkelte, die Lampe herüber und schickte sich an, die Schale zu untersuchen. Dabei fiel das gelbe Licht auch auf sein Äußeres, und ich konnte es in aller Ruhe studieren.

Er war ohne Zweifel ein bemerkenswert gut aussehender Mann. Der europäische Ruf seiner Schönheit war vollauf gerechtfertigt. Er war zwar nicht mehr als mittelgroß, jedoch von anmutiger und kräftiger Statur. Sein Gesicht war olivenfarbig, fast orientalisch, mit großen, dunklen, verträumten Augen, die auf Frauen zweifellos eine unwiderstehliche Faszination ausüben konnten. Sein Haar und der Schnurrbart waren rabenschwarz; letzteren trug er kurz, gezwirbelt und sorgfältig gewichst. Seine Züge waren regelmäßig und angenehm, mit Ausnahme des geraden, dünnlippigen Mundes. Wenn ich jemals den Mund eines Mörders gesehen habe, dann hier – eine grausame, harte Scharte im Gesicht, zusammengepreßt, unerbittlich und schrecklich. Er war schlecht beraten, den Schnurrbart so zurechtzustutzen, denn sein entblößter Mund war ein Gefahrensignal der Natur zur Warnung seiner Opfer. Seine Stimme war einnehmend, seine Manieren vollendet. Sein Alter hätte ich auf etwas über dreißig geschätzt, wiewohl später aus seinen Unterlagen hervorging, daß er zweiundvierzig war.

»Sehr fein – sehr fein, in der Tat!« sagte er schließlich. »Und Sie sagen, Sie haben ein dazu passendes sechsteiliges Service. Mich wundert nur, daß ich von so herrlichen Stücken noch nichts gehört haben soll. Ich weiß nur von einem einzigen Stück in England, das zu diesem hier paßt, und das steht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum Verkauf. Wäre es indiskret, wenn ich Sie fragte, Dr. Hill Barton, wie Sie in seinen Besitz gekommen sind?«

»Spielt das wirklich eine Rolle?« fragte ich mit der sorglosesten Miene, die ich zustande brachte. »Sie sehen ja selbst, daß das Stück echt ist, und was den Preis betrifft, so begnüge ich mich mit der Wertbestimmung durch einen Experten.«

»Sehr mysteriös«, sagte er mit einem raschen, argwöhnischen Aufblitzen seiner dunklen Augen. »Wenn man es mit Objekten von solchem Wert zu tun hat, möchte man natürlich alles über den Handel wissen. Daß das Stück echt ist, ist unbestreitbar. Daran hege ich überhaupt keinen Zweifel. Aber angenommen – ich muß jede Möglichkeit in Betracht ziehen –, es stellt sich hinterher heraus, daß Sie gar kein Recht hatten, es zu verkaufen?«

»Ich würde Ihnen Sicherheiten gegen jeden Rechtsanspruch dieser Art bieten.«

»Das würde freilich die Frage aufwerfen, was Ihre Sicherheiten wert sind.«

»Darüber könnte meine Bank Auskunft erteilen.«

»Nun schön. Dennoch kommt mir der ganze Handel ziemlich ungewöhnlich vor.«

»Es steht Ihnen frei, das Geschäft zu machen oder nicht«, sagte ich gleichgültig. »Ich habe es Ihnen zuerst angeboten, weil ich gehört habe, Sie seien ein Kenner; aber anderswo werde ich keine Schwierigkeiten haben.«

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich ein Kenner sei?«

»Mir ist bekannt, daß Sie über das Thema ein Buch geschrieben haben.«

»Haben Sie das Buch gelesen?«

»Nein.«

»Meine Güte, das wird mir immer unverständlicher! Sie sind ein Kenner und Sammler und besitzen ein sehr wertvolles Stück in Ihrer Sammlung, haben sich jedoch nie die Mühe gemacht, das einzige Buch zu konsultieren, das Sie über die wahre Bedeutung und den Wert Ihres Besitzes hätte belehren können. Wie erklären Sie das?«

»Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Ich bin praktizierender Arzt.«

»Das ist keine Antwort. Wenn jemand ein Steckenpferd hat, dann geht er ihm eifrig nach – ganz gleich, welche Tätigkeiten er sonst noch ausüben mag. In Ihrem Billett haben Sie behauptet, ein Kenner zu sein.«

»Das bin ich auch.«

»Dürfte ich Sie mit ein paar Fragen auf die Probe stellen? Ich muß Ihnen sagen, Doktor – wenn Sie denn wirklich ein Doktor sind –, daß die Sache immer verdächtiger wird. Ich möchte Sie fragen: Was wissen Sie über den Kaiser Shomu, und wie bringen Sie ihn mit dem Shosoin bei Nara19 in Verbindung? Du meine Güte, das bringt Sie wohl in Verlegenheit? Erzählen Sie mir doch ein bißchen über die Nördliche Wei-Dynastie und ihren Platz in der Geschichte der Töpferkunst20

In gespieltem Ärger sprang ich vom Stuhl hoch.

»Das ist unerträglich, Sir«, sagte ich. »Ich bin hierhergekommen, um Ihnen einen Gefallen zu tun und nicht, um von Ihnen wie ein Schuljunge examiniert zu werden. Meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind im Vergleich zu den Ihrigen vielleicht nur zweitrangig; aber ich werde gewiß keine Fragen beantworten, die in so beleidigender Weise gestellt wurden.«

Er sah mich unverwandt an. Alle Verträumtheit war aus seinen Augen gewichen. Sie funkelten plötzlich. Zwischen den grausamen Lippen schimmerten seine Zähne.

»Was wird hier gespielt? Sie sind doch als Spion hier. Sie sind ein Kundschafter von Holmes. Sie versuchen mich hereinzulegen. Wie ich höre, liegt der Kerl im Sterben; also schickt er seine Handlanger, um mich zu überwachen. Sie haben sich hier auf unerlaubte Weise Zutritt verschafft, aber bei Gott! Sie sollen merken, daß das Hinauskommen schwerer ist als das Hineinkommen.«

Er war aufgesprungen; ich wich zurück und machte mich auf einen Angriff gefaßt, denn der Mann war außer sich vor Wut. Möglicherweise war ich ihm von Anfang an verdächtig gewesen; dieses Kreuzverhör hatte ihm zweifellos die Wahrheit enthüllt; jedenfalls war klar, daß ich nicht hoffen durfte, ihn zu täuschen. Seine Hand fuhr hastig in eine Seitenschublade und durchstöberte sie wütend. Dann vernahm er wohl ein Geräusch, denn er hielt aufmerksam lauschend inne.

»Ah!« rief er. »Ah!« und stürzte in den Raum hinter ihm.

Mit zwei Schritten war ich an der offenen Tür, und die Szene dahinter werde ich immer als klares Bild im Gedächtnis bewahren. Das zum Garten hinausweisende Fenster stand weit offen. Daneben stand, einem Schreckgespenst gleich, den Kopf in blutbefleckte Bandagen gewickelt und das Gesicht erschöpft und weiß, Sherlock Holmes. Im nächsten Augenblick war er durch die Fensteröffnung, und ich hörte, wie sein Körper draußen in die Lorbeerbüsche krachte. Mit einem Wutgeheul stürmte der Hausherr hinter ihm her zum offenen Fenster.

Und dann! Es geschah im Nu, und doch nahm ich es deutlich wahr. Ein Arm – ein Frauenarm – schoß aus dem Laub hervor. Im gleichen Augenblick stieß der Baron einen gräßlichen Schrei aus – einen Aufschrei, der mir immer im Gedächtnis nachklingen wird. Er schlug beide Hände vors Gesicht, raste im Zimmer umher und rannte mit dem Kopf furchtbar gegen die Wände. Dann fiel er auf den Teppich; er wälzte und krümmte sich, während Schrei auf Schrei durch das Haus gellte.