Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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Unmittelbar nach seiner Flucht aus Deutschland schrieb Rosenberg in Zürich unter dem Pseudonym „Historikus“ die Broschüre Der Faschismus als Massenbewegung, die 1934 in der Tschechoslowakei, erschien. Er sah darin drei Varianten deutscher Faschisten: die Nazis, die traditionellen deutschen Nationalisten und, überraschenderweise, die um Reichskanzler Brüning gescharten Volkskonservativen. Er bezeichnete sogar die Regierung unter Wilhelm Cuno aus dem Jahr 1923 als den „Sieg des legalen Faschismus.“ Für Rosenberg war der Faschist „der gegenrevolutionäre Kapitalist, der geborene Feind der klassenbewußten Arbeiterschaft. Der Faschismus ist weiter nichts als eine moderne, volkstümlich maskierte Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution.“54 In Italien trete der Faschismus offen kapitalistisch auf; als „Partei des Kapitalismus, der noch zum Aufstieg fähig ist“, könne er „sich unzweideutig zum Privateigentum bekennen.“ Der Nationalsozialismus müsse hingegen als „Partei des absterbenden Kapitalismus“ seinen Klassencharakter verschleiern.55

„Reichskanzler Brüning“, heißt es auch in der 1934 anonym erschienenen Broschüre Nazis, Nazism, Nazidom, „war 1930 der erste in einer Reihe deutscher Diktatoren. Er regierte mit Notverordnungen und zwang den Reichstag, diese ohne jede Veränderung anzunehmen. Der nächste Diktator war 1932 von Papen, der dritte war ebenfalls 1932 General Schleicher und der vierte war im Januar 1933 Hitler.“ Von den ins Exil gezwungenen Antifaschisten schlug nur Arthur Rosenberg derart umstandslos den Bogen von Brüning zu Hitler, ohne den qualitativen Bruch zwischen der Republik und dem Naziregime zu benennen.56 Hitlers Staat verkörpere den Triumph des Monopolkapitals, die Freiheit werde „nur durch die Zerstörung des Kapitalismus wiederhergestellt.“57 Als Autoren wurden „two Germans, a historian and a lawyer“, angegeben. Dass einer Arthur Rosenberg war, ist mehr als wahrscheinlich, dass der andere Franz L. Neumann gewesen sei, ist anzunehmen, doch nicht sicher nachweisbar.58

In seiner kritischen Würdigung Arthur Rosenbergs schrieb Helmut Berding 1972: „Rosenberg hat an seinem Ideal vom demokratischen Sozialismus festgehalten, daran die historischen Erscheinungen gemessen und sie einer unerbittlichen Ideologiekritik unterzogen, wenn er glaubte, zwischen ihrem Anspruch und den realen Verhältnissen eine Kluft zu sehen. Er stand wie viele kritische Marxisten und oppositionelle Sozialisten, die sich ein unabhängiges Urteil bewahrten, zwischen den großen politischen und ideologischen Fronten, zwischen denen die politische Praxis kaum Spielraum und die politische Theorie nur ein schwaches Echo findet.“ Mit seiner Kapitalismus-Kritik hat Rosenberg in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft „nie mehr als eine provozierende Außenseiterrolle einnehmen können.“59

Doch gerade deshalb erfuhr er nach seinem Tod eine starke Resonanz unter Linkssozialisten: Schon in seinem Todesjahr 1943 wurden seine beiden Bücher zur Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik von einem linken Verlag in Palästina verlegt. Übersetzungen in zahlreichen Ländern der Erde, bis nach Japan, folgten. Die italienische – kommunistische und nichtkommunistische – Linke las ihn besonders aufmerksam.60 Seine Nachwirkung reicht jedoch über die marxistische Linke hinaus. Rosenbergs Einfluss gründet sich nach Hans-Ulrich Wehler darauf, dass er „Politik- und Gesellschaftsgeschichte in Anlehnung an die Marxsche Theorie zu schreiben versucht“ hatte und „in diesem Sinn die Marxsche Gesellschaftsanalyse, verbunden mit einem ausgeprägten Verständnis für die Rolle der Ideologien, namentlich des modernen Nationalismus, vor allem auf die neuere deutsche Geschichte angewandt hat.“ Ein solch moderner Ansatz habe ihm Einsichten in den Wirkungszusammenhang der historischen Entwicklung eröffnet, die den traditionell politik- und diplomatiegeschichtlich orientierten Historikern versperrt blieben.61 Somit fordern Arthur Rosenbergs Werke – gegen den Strich gelesen – noch heute zum kritischen Nachdenken wie auch zur Neubefragung heraus.

1 Sebastian Haffner, Über Geschichtsschreibung, in: Ders., Zur Zeitgeschichte, München 1982, S. 12f.

2 Für biographische Einzelheiten vgl. bes. Helmut Schachenmeyer, Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen Materialismus, Wiesbaden 1964; Rudolf Wolfgang Müller/Gert Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg zwischen Alter Geschichte und Zeitgeschichte, Politik und politischer Bildung, Göttingen/Zürich 1986; Lorenzo Riberi, Arthur Rosenberg. Democrazia e socialismo tra storia e politica, Milano 2001; Mario Keßler, Arthur Rosenberg, Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen, Köln/Weimar/Wien 2003 (jeweils mit Bibliographie). Die letztgenannte Arbeit enthält (auf S. 268–274) erstmals den deutschen Text des Epilogs.

3 Arthur Rosenberg, Untersuchungen zur römischen Zenturienverfassung, Berlin 1911, Nachdruck New York 1975.

4 Über Rosenberg als Althistoriker vgl. Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977; Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972, S. 177–186; Luciano Canfora, Il communista senza partito. Seguito da „Democrazia e lotta di classe nell’antichità“ di Arthur Rosenberg, Palermo 1984; ders., Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologien, Stuttgart 1995, bes. S. 179–195.

5 Arthur Rosenberg, Der Staat der alten Italiker. Verfassung der Latiner, Osker und Etrusker, Berlin 1913.

6 Arthur Rosenberg, Geschichte der römischen Republik, Leipzig 1921; ders., Einleitung und Quellenkunde zur römischen Geschichte, Berlin 1921.

7 Johann Gustav Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Einleitung von Dr. Arthur Rosenberg, mit einem Vorwort von Sven Hedin, Berlin 1917.

8 Vgl. Francis L. Carsten, Arthur Rosenberg als Politiker, in: Gerhard Botz u. a. (Hg.), Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, S. 268.

9 Vgl. Andreas Wirsching, Politik und Zeitgeschichte. Arthur Rosenberg und die Berliner Philosophische Fakultät 1914–1933, in: Historische Zeitschrift, Bd. 269 (1999/3), S. 561–602.

10 Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitages der USPD (Linke) und der KPD (Spartakusbund), abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, Leipzig/Berlin 1921, S. 143f.

11 Vgl. Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf im Altertum, Bielefeld 1921, zuletzt Freiburg 2007.

12 Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der KPD, 22. –26. August 1921, Berlin 1921, S. 346.

13 Rosa Meyer-Leviné, Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland 1920–1933, hg. von Hermann Weber, Köln 1979, S. 122.

14 Abdruck der Erklärung in: Keßler, Arthur Rosenberg, S. 258–260.

15 Arthur Rosenberg, „Einige Bemerkungen zur Parteidiskussion“, in: Die Internationale, 6 (1925), Nr. 11, S. 693f.

16 Die Austrittserklärung ist abgedruckt in: Vorwärts, 27. April 1927, und in: Die Rote Fahne, 28. April 1927, sowie in: Keßler, Arthur Rosenberg, S. 263f.

17 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 3. Wahlperiode, Bd. 392, Berlin 1924–1928, Sp. 11.181.

18 Vgl. Theodor Bergmann, Im Jahrhundert der Katastrophen. Autobiographie eines kritischen Kommunisten, 2. Aufl., Hamburg 2016, S. 14.

19 Vgl. Walter Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Dokumentiert von Thomas Grimm, Berlin/Weimar 1989, S. 35f.; ders., Wie viele Leben lebt der Mensch. Eine Autobiographie aus dem Nachlass, Leipzig 2009, S. 143f.

20 Arthur Rosenberg, The New British Imperialism, in: Jewish Frontier, 6 (1939), Nr. 6, S. 26.

21 Zit. nach Keßler, Arthur Rosenberg, S. 239f.

22 In diesem Buch wie im Nachfolge-Band wurde in allen Ausgaben nach dem Zweiten Weltkrieg im Titel von der Weimarer Republik gesprochen.

23 Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, neu hg. und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt a. M. 1975, S. 46f.

24 Doch hätte die Revolution jene Säulen zum Einsturz bringen können, auf denen die Macht von Kapital und Junkertum beruhten: „Das Unvermögen des deutschen Sozialismus, mit der Armee fertig zu werden, wiederholte sich an der Jahreswende von 1918 und 1919 auf den Gebieten der Polizei und der Verwaltung, der Justiz, Kirche und Schule und nicht am wenigsten der Außenpolitik.“ Arthur Rosenberg, Zum 9. November 1918, in: Zeitschrift für Sozialismus, 1 (1933), Nr. 2, hier zit. nach: Ders., Demokratie und Klassenkampf, Zitat S. 212.

25 Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, Amsterdam 1938, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1988, Zitat hier S. 249f.

26 Ebenda, S. 251.

27 Für Rosenbergs Bemühungen, marxistisches Gedankengut der Allgemeinheit zu vermitteln, vgl. auch die kurzgefasste Einführung: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ausgewählt und mit Angaben aus dem Leben des Verfassers sowie mit Anmerkungen versehen von Arthur Rosenberg, Breslau o. J. [1932].

Das 61-seitige Heft erschien in einer Einführungsreihe zur historischen und staatspolitischen Bildung.

28 Hans Herzfeld, Deutsche Geschichte von 1914–1918 (Literaturbericht), in: Jahresberichte für Deutsche Geschichte, 4 (1928), S. 241.

29 Hermann Wendel, Vom Sozialistengesetz zur Republik, in: Die Gesellschaft, 6 (1929/1), S. 194f.

30 Franz Schnabel, Literaturbericht: Zur Vorgeschichte und zur Geschichte des Weltkrieges, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 6 (1939), S. 464–473, bes. S. 464f.

 

31 Alfred Meusel, Das Vorhandensein und die Bedeutung konservativer Tendenzen in der Sozialdemokratie, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 1 (1930), S. 496.

32 Unter dem Banner des Marxismus, 3 (1929), S. 782 (die Rezension von Kurt Sauerland erschien anonym; die russische Übersetzung in: Istorik marksist, 3 (1929), S. 238–241, nennt den Verfasser).

33 Walter Frank, Der Goldglanz. Zu Arthur Rosenbergs „Entstehung der deutschen Republik“, in: Ders., Geist und Macht. Historisch-politische Aufsätze, Hamburg 1938, S. 87f. (zuerst unter dem Pseudonym „Peregrinus“ in: Der akademische Beobachter, 1 (1929), S. 218–222, erschienen).

34 Durch einen Formfehler war Rosenberg bei seiner Geburt weder die deutsche noch die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkannt, was erst bei seiner Musterung 1915 auffiel. Am 8. Januar 1917 wurde er deutscher Staatsbürger. Für seine Reise nach Italien zur Erarbeitung der Habilitationsschrift hatte er vor dem Ersten Weltkrieg nicht einmal Personalpapiere benötigt; eine Visitenkarte genügte.

35 Arthur Rosenberg, Die Marneschlacht der deutschen Republik, in: Pariser Tageblatt, 30. April 1935.

36 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, R 6343: Ausbürgerungen, Arthur Rosenberg (Preußische Geheime Staatspolizei, Der stellvertretende Chef und Inspekteur Flesch an den Reichsinnenminister, 15. November 1935.

37 Ebenda: Max Müller, Deutsches Konsulat an die Deutsche Gesandtschaft London, 6. Januar 1936.

38 Vgl. Michael Hepp (Hg.), Die Ausbürgerungen deutscher Staatsangehöriger 1933–45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, Bd. 1, München 1985, S. 11.

39 Brief Jenny Rosenbergs an Hermann Weber, 17. März 1961.

40 Vgl. Peter Thomas Walther, Von Meinecke zu Beard? Die nach 1933 in die USA emigrierten deutschen Neuhistoriker. Ph.D. Thesis, State University of New York at Buffalo 1989, S. 312.

41 William Halperin, Germany Tried Democracy. A Political History of the Reich from 1918 to 1933, New York 1946, Neuausgabe 1965, S. 129. Ähnlich urteilte Rudolf Coper, Failure of a Revolution. Germany 1918–1919, London 1955. Historiker der Bundesrepublik nahmen die Bücher von Halperin und Coper kaum, DDR-Historiker überhaupt nicht zur Kenntnis. Doch bis heute beurteilen britische und nordamerikanische Historiker den Anpassungskurs der SPD-Spitze an die nur demokratisch maskierten Führungen der Bourgeoisie generell kritischer als bundesdeutsche Forscherinnen und Forscher.

42 Peter von Oertzen, Arthur Rosenberg als Propagandist einer revolutionären Realpolitik, in: Müller/Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg, S. 108.

43 Ähnlich argumentierte bereits John Wheeler-Bennett, Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in der Politik 1918–1945, Düsseldorf 1954, S. 48.

44 Vgl. Christian Graf von Krockow, Hitler und seine Deutschen, München 2002, S. 44f.

45 Vgl. Sebastian Haffner, Der Verrat. 1918/1919 – als Deutschland wurde, was es ist, Berlin 1994 (das Buch erschien zuerst 1968).

46 August Thalheimer, 1923 – eine verpasste Revolution?, Berlin 1931; Franz Borkenau, World Communism. A History of the Communist Inrernational, London/New York 1938, Neuausgabe 1962; Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, Neuausgaben Frankfurt a. M. 1969, 1975, Hamburg 1986.

47 Vgl. Flechtheim, Die KPD [Ausgabe 1975], S. 188f.; Borkenau, World Communism [Ausgabe 1962], S. 247; Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD 1921–1923, Düsseldorf 1973, S. 394f.

48 Vgl. Karl-Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3 (1955), Nr. 1, S. 1–19; ders., Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. IV, Stuttgart 1959; Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart/Düsseldorf 1955. Vgl. hingegen Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919, Düsseldorf 1962; Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, Düsseldorf 1963.

49 Adelheid von Saldern, Arthur Rosenbergs „Geschichte der Weimarer Republik“ – noch immer aktuell?, in: Müller/Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg, S. 145f.

50 Dieter Engelmann, Rätedemokratische Vorstellungen während der deutschen Novemberrevolution, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 25 (1983), Nr. 6, S. 797–809; Jakow Drabkin, Die Entstehung der Weimarer Republik, Köln 1983.

51 So Joachim Petzold, Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militarismus, Berlin [DDR] 1963, S. 95, und Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin [DDR] 1975, S. 29.

52 Gerd Voigt, Russland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843-1945. Phil. Diss. B, Berlin (Akademie der Wissenschaften der DDR) 1986; textidentische Buchausgabe: Berlin 1994, dort S. 187; Ja. S. Drabkin, Problemy i legendy v istoriografii Germanskoj revoljucii 1918–1919gg., Moskau 1990, S. 98f., 180f.

53 Francis L. Carsten, Arthur Rosenberg als Politiker, in: Gerhard Botz u. a. (Hg.), Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, S. 277.

54 Hier zit. nach der leicht gekürzten Wiederveröffentlichung der Schrift in: Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Studien, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. 1974, S. 275.

55 Ebenda, S. 289.

56 Nazis, Nazism, Nazidom. Published by the Labour Party, London 1934, S. 2f.

57 Ebenda, S. 32.

58 Dies vermuten auch Beate Hagenauer im bibliographischen Anhang zu: Müller/Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg, S. 156, und Riberi, Arthur Rosenberg, S. 336.

59 Helmut Berding, Arthur Rosenberg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. IV, Göttingen 1972, S. 94.

60 Vgl. sehr früh Giuseppe Motta, Gli eretici del Bolscevismo, Siracusa 1946, S. 19–29.

61 Hans-Ulrich Wehler, Einleitung zu: Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf, S. 12; auch in: Hans-Ulrich Wehler, Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Göttingen 1980, S. 265.

I

Vorwort zur Erstausgabe

Die Anregung zu dem vorliegenden Buche empfing ich als Mitglied des Untersuchungsausschusses des Reichstags für die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs. Ich gehörte dem Untersuchungsausschuß von 1925-28 an und war Referent für die sog. Dolchstoßfrage. Es war eine Gelegenheit, Material aus erster Hand kennenzulernen, wie sie sich dem Historiker nur selten bietet. Die Mitglieder des Ausschusses gehörten den verschiedensten politischen Parteien an. Aber sie waren doch alle bemüht, ungeachtet aller Differenzen in der Weltanschauung, zur geschichtlichen Wahrheit vorzudringen. Von meinen ehemaligen Kollegen im Ausschuß verdanke ich zweien besonders viel: Professor Bredt hat durch sein Gutachten „Der Reichstag im Weltkrieg“ eine Fülle neuer Probleme und Zusammenhänge aufgedeckt, und Professor Bergsträsser hat in seinen Beiträgen zum Werk des Untersuchungsausschusses vor allem die so wichtigen volkspsychologischen Gesichtspunkte betont.

Zum Abschluß meines Buches habe ich den 10. November 1918 gewählt, obwohl es sachlich besser gewesen wäre, bis zur Annahme der Weimarer Verfassung in der Nationalversammlung herabzugehen; aber für die Forschung liegt heute der Einschnitt beim 10. November: Für die Zeit vorher sind die Akten der wissenschaftlichen Untersuchung wenigstens zum größten Teil zugänglich, für die Zeit danach aber nicht. Eine kritische Geschichte Deutschlands nach dem 10. November 1918 zu schreiben, ist heute noch unmöglich. Die Arbeiten des Untersuchungsausschusses bezogen sich nur auf die Zeit nach Ausbruch des Weltkrieges. Ich mußte jedoch, um die Gesamtentwicklung verständlich zu machen, bis 1871 zurückgreifen.

Ich habe in der Zeit bis zum 10. November 1918 keiner politischen Partei oder Organisation angehört. Meine persönlichen Erlebnisse in jener Zeit waren so unbedeutend, daß sie mich zu keiner nachwirkenden Voreingenommenheit veranlassen konnten. Ich habe dieses Buch ohne Rücksicht auf irgendeine Parteimeinung oder irgendein Parteiprestige geschrieben. Ich glaube auch nicht, daß meine politische Wirksamkeit im letzten Jahrzehnt mich zu ungerechten Urteilen veranlaßt hat. Ich habe bei der Niederschrift des Buches immer nur einen Feind vor mir gesehen: die historische Legende, ganz gleich ob sei von „rechts“ oder von „links“ kam. Selbstverständlich ist mein Buch auch keine Publikation des Untersuchungsausschusses. Sondern die gesamte Verantwortung für meine Darstellung trage ich allein.

Die Eigenart der politischen Entwicklung Deutschlands hat es mit sich gebracht, daß bei uns das leere politische Schlagwort, die Illusion und die politische Lebenslüge eine viel größere Rolle spielt als bei anderen Völkern. Wenn ich meinen Lesern im Kampf mit diesen Gespenstern ein wenig helfen könnte, hätte ich alles erreicht, was ich mit meinem Buch beabsichtige.

Berlin-Zehlendorf, im August 1928.

Arthur Rosenberg

Der Text der zweiten Auflage (5.–7. Tausend) ist der alte, bis auf einige kleine Berichtigungen, besonders von Druckfehlern.

Berlin-Zehlendorf, im Dezember 1929.

Arthur Rosenberg

Von Dr. Arthur Rosenberg

Privatdozent an der Universität Berlin

Referent des Untersuchungsausschusses des Reichstags

für die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs

1930 Ernst Rowohlt Verlag, Berlin

I. KAPITEL
Die gesellschaftlichen Kräfte unter Bismarck

Das Reich Bismarcks, 1871 in Versailles gegründet, ist 1919 im gleichen Versailles zerstört worden. Die in Weimar geschaffene Republik, die darauf folgte, knüpft zwar in vielen bedeutsamen Einzelheiten an das alte System an. Aber sie ist doch etwas im Wesen Neues: die entscheidende Neuerung liegt nicht in der Absetzung des Hohenzollernhauses und der anderen Dynastien. Das Reich Bismarcks wäre mit einem gewählten Reichspräsidenten durchaus denkbar. Das Neue liegt auch nicht darin, daß in der Republik Sozialdemokraten Minister werden können, denn sie wurden es bereits in der letzten Periode des Kaisertums. Ebensowenig machen die Grenzen des Versailler Friedens die entscheidende Veränderung aus: Bismarck hätte sein Reich auch ohne Elsaß-Lothringen gründen und Deutschlands Beziehungen zu den Polen und zu Österreich anders gestalten können. Sondern die entscheidende Neuerung liegt in der Zertrümmerung der alten preußischen Armee durch die militärische Niederlage im Westen, durch die Revolution und durch die Versailler Friedensbedingungen.

Bismarcks Reich und das preußische Heer gehören untrennbar zusammen. Bismarck hat es immer als seine wichtigste Leistung betrachtet, daß er den König von Preußen und die preußische Armee für die nationale Einheitsidee Deutschlands gewann. Er sah den Fehler von 1848 darin, daß das Bürgertum aus eigener Kraft, ohne Rücksicht auf die deutschen Dynastien und vor allem ohne Rücksicht auf das historisch gewordene Preußen, die Reichsgründung vollziehen wollte. Bismarck ging anders vor: Er hat die militärische Aristokratie Preußens mit dem deutschen Bürgertum vereinigt, an die Spitze des Ganzen das Hohenzollernhaus gesetzt und so das Reich seiner Prägung gegründet1. Die Geschichte des neudeutschen Kaisertums besteht aus der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung dieser beiden von Bismarck zusammengefügten Kräfte. Das Ende war da, als der preußische Militäradel 1918 zusammenbrach und das Bürgertum die Herrschaft antrat.

War der Gedanke Bismarcks, das historische Preußen in den Dienst der deutschen Einheitsidee zu stellen, an sich falsch? War 1871 die Situation so, daß das Deutsche Reich lebensfähig nur als ein rein bürgerlicher Staat auf liberal-parlamentarischer Grundlage hätte gegründet werden können und nicht anders? Standen »Junkertum« und Bürgertum zueinander wie Feuer und Wasser, zwischen denen ein Kompromiß unmöglich war? Ist Bismarck einem romantischen und dynastischen Phantom nachgejagt und hat er ihm seine bessere Überzeugung zum Opfer gebracht? Diese Fragen bejahen wäre sehr einfach, aber auch sehr falsch. Die Revolution von 1848/49 hatte bewiesen, daß das deutsche Bürgertum nicht imstande war, aus eigenen Kräften zu siegen. Die agrarischen und militärischen, die dynastischen und bürokratischen, und selbst die kirchlichen Gewalten der alten Ordnung waren doch in Deutschland viel stärker, als es im Jubel der Märztage erschien. Und hinter dem Bürgertum tauchte als neue politische Klasse das städtische Proletariat auf. Es war bereit, zusammen mit dem Bürgertum gegen die herrschenden feudalen Gewalten zu kämpfen. Aber es hatte daneben seine eigenen Ziele, die nicht die Ziele der bürgerlichen Liberalen waren. Die Explosivkräfte, die in der Arbeiterbewegung steckten, sind damals von außenstehenden Beobachtern vielfach klarer erkannt worden als von den Arbeitern selbst.

 

Unter diesen Umständen lag für einen sozial-konservativen Realpolitiker wie Bismarck der Gedanke nah, das Bürgertum durch ein vernünftiges Kompromiß mit den alten Gewalten zu versöhnen, durch das gemeinsame Wirken beider Kräfte die nationale Einigung zu schaffen, und so zugleich dem »roten« Umsturz ein festes Bollwerk entgegenzusetzen. Wer so 1871 in Bismarcks Position kalkulierte, schätzte die vorhandenen Kräfte Deutschlands gar nicht so falsch ein. Die deutsche Arbeiterklasse hat selbst unter den für sie beispiellos günstigen Voraussetzungen vom November 1918 die Staatsmacht nicht übernehmen können. Ebensowenig hätte sie es früher in anderen Situationen tun können. Und im deutschen Bürgertum war von einem die Kronen und Adelsprivilegien wegfegenden Jakobinergeist bis zum Vorabend der Revolution 1918 nicht viel zu merken. Bismarcks Idee brauchte also weder am Widerstand der Arbeiter noch des Bürgertums zu scheitern. Trotzdem war das Bismarcksche Reich von Anfang an todkrank. Der Glanz der militärischen Siege und der wirtschaftliche Aufschwung konnten nur notdürftig über die politische Dauerkrise hinwegtäuschen, die vom Kulturkampf bis zur Regierung Max von Baden reichte, eine Krise, die niemals gelöst wurde, die immer neue Formen und Gestalten annahm und die am Ende das ganze Werk Bismarcks vernichtete.

Wo liegt die Ursache dieser Dauerkrise des deutschen Hohenzollernkaisertums? Es ist Bismarck nicht gelungen, die verschiedenen Kräfte, die im deutschen Volke vorhanden waren, organisch miteinander zu verbinden. Er hat nicht einmal einen ernsten Versuch dazu gemacht. Sondern die auseinanderstrebenden Klassen und Gewalten Deutschlands sollten durch die Übergewalt des Kaisertums zusammengehalten werden. Bis 1890 waren Bismarcks Gewalt und die Kaisergewalt identisch. Die persönliche Diktatur lebt und stirbt mit dem Diktator selbst. Als 1890 der alte Diktator abtreten mußte, als er seinen Donnerkeil in den schwächlichen und hilflosen Händen Wilhelms II. sah, da war die Katastrophe besiegelt. Ihr Eintreten war nur noch die Frage der Zeit und der Umstände. Von Friedrichsruh aus hat Bismarck das Verhängnis für sein Werk kommen sehen; ohne die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Man sagt vielfach, daß die Epigonen Bismarcks die Schöpfung des Meisters verdorben hätten. Das ist so weit richtig, als die Bismarcksche Verfassung ohne einen Bismarck nicht bestehen konnte. Aber so gesehen liegt darin auch die schärfste Kritik an Bismarck selbst.

Das deutsche Kaisertum war nicht darum lebensunfähig, weil es auf dem Kompromiß zwischen dem deutschen Bürgertum und dem preußischen Militäradel beruhte, sondern weil es das Kompromiß in der Form des bonapartistischen Selbstherrschertums verwirklichte. Dabei sollte der König von Preußen berufsmäßig und erblich der Bonaparte sein, wenn er es nicht vorzog, seine Gewalt dem Reichskanzler zu übertragen. Daß Bismarck die politische Existenz des deutschen Volkes auf seine Person, ja auf sein persönliches Verhältnis zu Wilhelm I. zuschnitt, bleibt ein historischer Fehler von ungeheuerem Ausmaß. Aber es gibt Umstände genug in der so eigenartigen deutschen Situation von 1871, die Bismarcks Fehler zwar nicht aus der Welt schaffen, die ihn jedoch begreiflich machen können.

Zur Zeit der Reichsgründung verfügte das liberale Bürgertum in Deutschland über fast alles, was an Intelligenz, an industrieller und kaufmännischer Leistungsfähigkeit vorhanden war. Die Massen der Handwerker und des übrigen Mittelstandes, der größte Teil der Industriearbeiter, selbst ein erheblicher Teil des Bauerntums und eine Minderheit des Adels, teilten die nationalen und liberalen Ideen des Bürgertums und folgten seinen politischen Parolen: Ohne Zweifel eine gewaltige Kraft und Autorität2. Auf der anderen Seite stand das preußische Heer, der König, sein Offizierskorps, die preußische Beamtenhierarchie, der Großgrundbesitz der Gebiete östlich der Elbe, bis auf die Gruppe der liberalen Aristokraten, und der vom Grundherrn abhängige Teil der Landbevölkerung. Wie sollte ein Kompromiß zwischen diesen beiden Kräften aussehen?

In Preußen hatte der König und mit ihm die militärische Aristokratie alle Gewalt. Die militärische Disziplin hatte in dem Menschenalter vor 1871 die schwersten Belastungsproben überstanden. Weder die Revolution von 1848 noch die Konfliktszeit der sechziger Jahre hatte das Gefüge des preußischen Heeres ernstlich erschüttert. Der König ernannte die preußischen Minister nach freiem Ermessen. Der Beamten- und Polizeiapparat war fest in der Hand der Regierung. Wenn ein oppositioneller Landtag den Staatshaushalt nicht bewilligte, regierte der König ohne gesetzlich zustande gekommenen Etat weiter. Das hatte die Konfliktszeit ebenfalls bewiesen. Ein Volksaufstand gegen das intakte preußische Heer war aussichtslos. Auch der oppositionell gestimmte Rekrut fügte sich der Disziplin, und das eiserne System des preußischen Offiziers- und Unteroffizierskorps zeigte keine Lücke. Wenn auch hier und da im Lande ein liberaler Richter saß, stand doch die Staatsmaschine vom Oberpräsidenten bis herunter zum letzten Gendarmen unbedingt der Regierung zur Verfügung.

Das altkonservative Preußentum hatte also sämtliche politischen Trümpfe in der Hand. Ein Kompromiß war nur so denkbar, daß die militärische Aristokratie freiwillig einen erheblichen Teil ihrer Rechte an das Bürgertum abtrat. Das konnte auf doppelte Art geschehen: Entweder erhielt das Bürgertum einen Anteil an der realen Staatsmacht in Preußen selbst, oder man beteiligte das Bürgertum an der Macht im Reich und übertrug zugleich auf das Reich so weite Kompetenzen, daß damit das alte Preußentum ein Gegengewicht fand. Keinen der beiden Wege ist Bismarck bei der Reichsgründung gegangen; er ließ in Preußen das tatsächliche Kräfteverhältnis so, wie es war. Das heißt, der König und die militärische Aristokratie behielten alles in der Hand, und ferner schuf Bismarck eine Verfassungskonstruktion, bei der Preußen das Reich regierte und nicht umgekehrt.

Es wäre ganz falsch, die Handlungsweise Bismarcks aus borniertem Kastenhochmut zu erklären. Bismarck hat den preußischen »Junker« keineswegs besonders geliebt, und er hat die Bedeutung des Bürgertums niemals verkannt. Aber er sagte sich, daß das Deutsche Reich bei seiner besonders schwierigen außenpolitischen Situation ohne starke Militärgewalt nicht leben könne. Eine leistungsfähige deutsche Armee, die nötigenfalls im Osten und im Westen die Abwehr führen konnte, sei aber nur durch Preußen zu bilden. Eine Zertrümmerung des preußischen Militärsystems sei zugleich die Wehrlosmachung Deutschlands, und wenn Deutschland seine staatliche Existenz nicht verteidigen könne, sei damit auch der innenpolitische Streit gegenstandslos. So war Bismarck ein überzeugter Anhänger des alten preußischen Militärsystems. Er vertrat die militärische Herrschaft des preußischen Königs über Deutschland und die unbedingte Kommandogewalt des Königs über die Armee, frei von jedem parlamentarischen Einfluß.

Wenn aber das alte Preußentum die Waffen Deutschlands führte, war es sehr schwer, ihm politische Zugeständnisse an die anderen waffenlosen Volksschichten abzuzwingen. Auch wenn Bismarck gewollt hätte, wäre es ihm kaum gelungen, den König Wilhelm I. zum Verzicht auf wesentliche Teile seiner Rechte zu nötigen. Es war ein Verhängnis für die ganze folgende deutsche Entwicklung, daß die Konfliktszeit in Preußen mit einem so restlosen Siege der königlichen Gewalt geendigt hatte. Das alte Preußentum hatte den Ansturm des bürgerlichen Liberalismus auf der ganzen Linie abgeschlagen. Der König von Preußen und sein Heer hatten 1864 gesiegt, ebenso 1866 und 1870/71; nur so war das Deutsche Reich möglich geworden. Und nach solchen Erfolgen sollte der König auf seine Rechte zugunsten des Parlamentarismus verzichten? So ließ Bismarck das alte Preußen, wie es war, und gab ihm überdies die Führung in Deutschland.