Tasuta

Aphorismen zur Lebensweisheit

Tekst
iOSAndroidWindows Phone
Kuhu peaksime rakenduse lingi saatma?
Ärge sulgege akent, kuni olete sisestanud mobiilseadmesse saadetud koodi
Proovi uuestiLink saadetud

Autoriõiguse omaniku taotlusel ei saa seda raamatut failina alla laadida.

Sellegipoolest saate seda raamatut lugeda meie mobiilirakendusest (isegi ilma internetiühenduseta) ja LitResi veebielehel.

Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

18. Zum Leitstern seiner Bestrebungen soll man nicht Bilder der Phantasie nehmen, sondern deutlich gedachte Begriffe. Meistens aber geschieht das Umgekehrte. Man wird nämlich, bei genauerer Untersuchung, finden, daß, was bei unsern Entschließungen, in letzter Instanz, den Ausschlag gibt, meistens nicht die Begriffe und Urteile sind, sondern ein Phantasiebild, welches die eine der Alternativen repräsentirt und vertritt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Romane von Voltaire, oder Diderot, dem Helden, als er ein Jüngling und Herkules am Scheidewege war, die Tugend sich stets darstellte in Gestalt seines alten Hofmeisters, in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten eine Priese haltend und so moralisirend; das Laster hingegen in Gestalt der Kammerjungfer seiner Mutter. – Besonders in der Jugend fixirt sich das Ziel unsers Glückes in Gestalt einiger Bilder, die uns vorschweben und oft das halbe, ja das ganze Leben hindurch verharren. Sie sind eigentlich neckende Gespenster: denn, haben wir sie erreicht, so zerrinnen sie in nichts, indem wir die Erfahrung machen, daß sie gar nichts von dem, was sie verhießen, leisten. Dieser Art sind einzelne Szenen des häuslichen, bürgerlichen, gesellschaftlichen, ländlichen Lebens, Bilder der Wohnung, Umgebung, der Ehrenzeichen, Respektsbezeugungen usw. usw. chaque fou a sa marotte auch das Bild der Geliebten gehört oft dahin. Daß es uns so ergehe ist wohl natürlich: denn das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare ist, auch unmittelbarer auf unsern Willen, als der Begriff, der abstrakte Gedanke, der bloß das Allgemeine gibt, ohne das Einzelne, welches doch gerade die Realität enthält: er kann daher nur mittelbar auf unsern Willen wirken. Und doch ist es nur der Begriff, der Wort hält: daher ist es Bildung, nur ihm zu trauen. Freilich wird er wohl mitunter der Erläuterung und Paraphrase durch einige Bilder bedürfen: nur cum grano salis.

19. Die vorhergegangene Regel läßt sich der allgemeineren subsumiren, daß man überall Herr werden soll über den Eindruck des Gegenwärtigen und Anschaulichen überhaupt. Dieser ist gegen das bloß Gedachte und Gewußte unverhältnismäßig stark, nicht vermöge seiner Materie und Gehalt, die oft sehr gering sind; sondern vermöge seiner Form, der Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, als welche auf das Gemüt eindringt und dessen Ruhe stört, oder seine Vorsätze erschüttert. Denn das Vorhandene, das Anschauliche, wirkt, als leicht übersehbar, stets mit seiner ganzen Gewalt auf einmal: hingegen Gedanken und Gründe verlangen Zeit und Ruhe, um stückweise durchdacht zu werden, daher man sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwärtig haben kann. Demzufolge reizt das Angenehme, welchem wir, infolge der Überlegung, entsagt haben, uns doch bei seinem Anblick: ebenso kränkt uns ein Urteil, dessen gänzliche Inkompetenz wir kennen; erzürnt uns eine Beleidigung, deren Verächtlichkeit wir einsehen; ebenso werden zehn Gründe gegen das Vorhandensein einer Gefahr überwogen vom falschen Schein ihrer wirklichen Gegenwart usw. In allen diesen macht sich die ursprüngliche Unvernünftigkeit unsers Wesens geltend. Auch werden einem derartigen Eindruck die Weiber oft erliegen, und wenige Männer haben ein solches Übergewicht der Vernunft, daß sie von dessen Wirkungen nicht zu leiden hätten. Wo wir nun denselben nicht ganz überwältigen können, mittelst bloßer Gedanken, da ist das Beste, einen Eindruck durch den entgegengesetzten zu neutralisiren, z. B. den Eindruck einer Beleidigung durch Aufsuchen derer, die uns hochschätzen; den Eindruck einer drohenden Gefahr durch wirkliches Betrachten des ihr Entgegenwirkenden. Konnte doch jener Italiäner, von dem Leibnitz (in den nouveaux essais, Liv. I, c. 2, § 11) erzählt, sogar den Schmerzen der Folter dadurch widerstehn, daß er, während derselben, wie er sich vorgesetzt, das Bild des Galgens, an welchen sein Geständnis ihn gebracht haben würde, nicht einen Augenblick aus der Phantasie entweichen ließ; weshalb er von Zeit zu Zeit io ti vedo rief; welche Worte er später dahin erklärt hat. – Eben aus dem hier betrachteten Grunde ist es ein schweres Ding, wenn alle, die uns umgeben, anderer Meinung sind als wir, und danach sich benehmen, selbst wenn wir von ihrem Irrtum überzeugt sind, nicht durch sie wankend gemacht zu werden. Einem flüchtigen, verfolgten, ernstlich incognito reisenden Könige muß das unter vier Augen beobachtete Unterwürfigkeitszeremoniell seines vertrauten Begleiters eine fast notwendige Herzensstärkung sein, damit er nicht am Ende sich selbst bezweifle.

20. Nachdem ich schon im zweiten Kapitel den hohen Wert der Gesundheit, als welche für unser Glück das erste und wichtigste ist, hervorgehoben habe, will ich hier ein paar ganz allgemeiner Verhaltungsregeln zu ihrer Befestigung und Bewahrung angeben.

Man härte sich dadurch ab, daß man dem Körper, sowohl im ganzen wie in jedem Teile, so lange man gesund ist, recht viel Anstrengung und Beschwerde auflege und sich gewöhne, widrigen Einflüssen jeder Art zu widerstehn. Sobald hingegen ein krankhafter Zustand, sei es des Ganzen, oder eines Teiles, sich kundgibt, ist sogleich das entgegengesetzte Verfahren zu ergreifen und der kranke Leib, oder Teil desselben, auf alle Weise zu schonen und zu pflegen: denn das Leidende und Geschwächte ist keiner Abhärtung fähig.

Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestärkt; der Nerv hingegen dadurch geschwächt. Also übe man seine Muskeln durch jede angemessene Anstrengung, hüte hingegen die Nerven vor jeder; also die Augen vor zu hellem, besonders reflektirtem Lichte, vor jeder Anstrengung in der Dämmerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu kleiner Gegenstände; ebenso die Ohren vor zu starkem Geräusch; vorzüglich aber das Gehirn vor gezwungener, zu anhaltender oder unzeitiger Anstrengung: demnach lasse man es ruhen während der Verdauung; weil dann eben dieselbe Lebenskraft, welche im Gehirn Gedanken bildet, im Magen und den Eingeweiden angestrengt arbeitet, Chymus und Chylus zu bereiten; ebenfalls während, oder auch nach, bedeutender Muskelanstrengung. Denn es verhält sich mit den motorischen wie mit den sensibeln Nerven, und wie der Schmerz, den wir in verletzten Gliedern empfinden, seinen wahren Sitz im Gehirn hat; so sind es auch eigentlich nicht die Beine und Arme, welche gehn und arbeiten; sondern das Gehirn, nämlich der Teil desselben, welcher, mittelst des verlängerten und des Rückenmarks, die Nerven jener Glieder erregt und dadurch diese in Bewegung setzt. Demgemäß hat auch die Ermüdung, welche wir in den Beinen oder Armen fühlen, ihren wahren Sitz im Gehirn; weshalb eben bloß die Muskeln ermüden, deren Bewegung willkürlich ist, d. h. vom Gehirn ausgeht, hingegen nicht die ohne Willkür arbeitenden, wie das Herz. Offenbar also wird das Gehirn beeinträchtigt, wenn man ihm starke Muskeltätigkeit und geistige Anspannung zugleich, oder auch nur dicht hinter einander abzwingt. Hiemit streitet es nicht, daß man im Anfang eines Spaziergangs, oder überhaupt auf kurzen Gängen, oft erhöhte Geistestätigkeit spürt: denn da ist noch kein Ermüden besagter Gehirnteile eingetreten, und andrerseits befördert eine solche leichte Muskeltätigkeit und die durch sie vermehrte Respiration das Aufsteigen des arteriellen, nunmehr auch besser oxydirten Blutes zum Gehirn. – Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Refektion nötige, volle Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehn für die Uhr. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung II, 217. – 3. Aufl. II, 240.) Dieses Maß wird um so größer sein, je entwickelter und tätiger das Gehirn ist; es jedoch zu überschreiten wäre bloßer Zeitverlust, weil dann der Schlaf an Intension verliert, was er an Extension gewinnt. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung II, 247. – 3. Aufl. II, 275.)15 Überhaupt begreife man wohl, daß unser Denken nichts anderes ist als die organische Funktion des Gehirns, und sonach jeder andern organischen Tätigkeit, in Hinsicht auf Anstrengung und Ruhe, sich analog verhält. Wie übermäßige Anstrengung die Augen verdirbt, ebenso das Gehirn. Mit Recht ist gesagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Der Wahn von einer immateriellen, einfachen, wesentlich und immer denkenden, folglich unermüdlichen Seele, die da im Gehirn bloß logirte, und nichts auf der Welt bedürfte, hat gewiß manchen zu unsinnigem Verfahren und Abstumpfung seiner Geisteskräfte verleitet; wie denn z. B. Friedrich der Große einmal versucht hat, sich das Schlafen ganz abzugewöhnen. Die Philosophieprofessoren würden wohl tun, einen solchen, sogar praktisch verderblichen Wahn nicht durch ihre katechismusgerechtseinwollende Rocken-Philosophie zu befördern. – Man soll sich gewöhnen, seine Geisteskräfte durchaus als physiologische Funktionen zu betrachten, um danach sie zu behandeln, zu schonen, anzustrengen usw., und zu bedenken, daß jedes körperliche Leiden, Beschwerde, Unordnung, in welchem Teil es auch sei, den Geist affizirt. Am besten befähigt hiezu Cabanis, des Rapports du physique et du moral de l'homme.

Die Vernachlässigung des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus welcher manche große Geister, wie auch große Gelehrte, im Alter schwachsinnig, kindisch und selbst wahnsinnig geworden sind. Daß z. B. die gefeierten englischen Dichter dieses Jahrhunderts, wie Walter Scott, Wordsworth, Southey u. a. m. im Alter, ja schon in den sechziger Jahren geistig stumpf und unfähig geworden, ja, zur Imbezillität herabgesunken sind, ist ohne Zweifel daraus zu erklären, daß sie sämtlich, vom hohen Honorar verlockt, die Schriftstellerei als Gewerbe getrieben, also des Geldes wegen geschrieben haben. Dies verführt zu widernatürlicher Anstrengung, und wer seinen Pegasus ins Joch spannt und seine Muse mit der Peitsche antreibt, wird es auf analoge Weise büßen, wie der, welcher der Venus Zwangsdienste geleistet hat. Ich argwöhne, daß auch Kant, in seinen späten Jahren, nachdem er endlich berühmt geworden war, sich überarbeitet und dadurch die zweite Kindheit seiner vier letzten Jahre veranlaßt hat. –

 

Jeder Monat des Jahres hat einen eigentümlichen und unmittelbaren, d. h. vom Wetter unabhängigen Einfluß auf unsere Gesundheit, unsere körperlichen Zustände überhaupt, ja, auch auf die geistigen.

C. Unser Verhalten gegen andere betreffend

21. Um durch die Welt zu kommen, ist es zweckmäßig, einen großen Vorrat von Vorsicht und Nachsicht mitzunehmen: durch erstere wird man vor Schaden und Verlust, durch letztere vor Streit und Händel geschützt.

Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität, sofern sie doch einmal von der Natur gesetzt und gegeben ist, unbedingt verwerfen; auch nicht die schlechteste, erbärmlichste oder lächerlichste. Er hat sie vielmehr zu nehmen als ein Unabänderliches, welches, in Folge eines ewigen und metaphysischen Prinzips, so sein muß, wie es ist, und in den argen Fällen soll er denken: »es muß auch solche Käuze geben«. Hält er es anders; so tut er Unrecht und fordert den andern heraus zum Kriege auf Tod und Leben. Denn seine eigentliche Individualität, d. h. seinen moralischen Charakter, seine Erkenntniskräfte, sein Temperament, seine Physiognomie usw. kann keiner ändern. Verdammen wir nun sein Wesen ganz und gar; so bleibt ihm nichts übrig, als in uns einen Todfeind zu bekämpfen: denn wir wollen ihm das Recht zu existiren nur unter der Bedingung zugestehn, daß er ein anderer werde, als er unabänderlich ist. Darum also müssen wir, um unter Menschen leben zu können, jeden, mit seiner gegebenen Individualität, wie immer sie auch ausgefallen sein mag, bestehn und gelten lassen, und dürfen bloß darauf bedacht sein, sie so, wie ihre Art und Beschaffenheit es zuläßt, zu benutzen; aber weder auf ihre Änderung hoffen, noch sie, so wie sie ist, schlechthin verdammen16. Dies ist der wahre Sinn des Spruches: »leben und leben lassen«. Die Aufgabe ist indessen nicht so leicht, wie sie gerecht ist, und glücklich ist zu schätzen, wer gar manche Individualitäten auf immer meiden darf. – Inzwischen übe man, um Menschen ertragen zu lernen, seine Geduld an leblosen Gegenständen, welche, vermöge mechanischer oder sonst physischer Notwendigkeit, unserm Tun sich hartnäckig widersetzen; wozu täglich Gelegenheit ist. Die dadurch erlangte Geduld lernt man nachher auf Menschen übertragen, indem man sich gewöhnt zu denken, daß auch sie, wo immer sie uns hinderlich sind, dies vermöge einer ebenso strengen, aus ihrer Natur hervorgehenden Notwendigkeit sein müssen wie die, mit welcher die leblosen Dinge wirken; daher es ebenso töricht ist, über ihr Tun sich zu entrüsten, wie über einen Stein, der uns in den Weg rollt.

22. Es ist zum Erstaunen, wie leicht und schnell Homogeneität oder Heterogeneität des Geistes und Gemüts zwischen Menschen sich im Gespräche kund gibt: an jeder Kleinigkeit wird sie fühlbar. Betreffe das Gespräch auch die fremdartigsten, gleichgültigsten Dinge; so wird, zwischen wesentlich heterogenen, fast jeder Satz des einen dem andern mehr oder minder mißfallen, mancher gar ihm ärgerlich sein. Homogene hingegen fühlen sogleich und in allem eine gewisse Übereinstimmung, die, bei großer Homogeneität, bald zur vollkommenen Harmonie, ja, zum Unisono zusammenfließt. Hieraus erklärt sich zuvörderst, warum die ganz Gewöhnlichen so gesellig sind und überall so leicht recht gute Gesellschaft finden, – so rechte, liebe, wackere Leute. Bei den Ungewöhnlichen fällt es umgekehrt aus, und desto mehr, je ausgezeichneter sie sind; so daß sie, in ihrer Abgesondertheit, zu Zeiten, sich ordentlich freuen können, in einem andern nur irgend eine ihnen selbst homogene Fiber herausgefunden zu haben, und wäre sie noch so klein! Denn jeder kann dem andern nur so viel sein, wie dieser ihm ist. Die eigentlichen großen Geister horsten, wie die Adler in der Höhe, allein. – Zweitens aber wird hieraus verständlich, wie die Gleichgesinnten sich so schnell zusammenfinden, gleich als ob sie magnetisch zu einander gezogen würden: – verwandte Seelen grüßen sich von ferne. Am häufigsten freilich wird man dies an niedrig Gesinnten oder schlecht Begabten zu beobachten Gelegenheit haben; aber nur weil diese legionenweise existiren, die besseren und vorzüglichen Naturen hingegen die seltenen sind und heißen. Demnach nun werden z. B. in einer großen, auf praktische Zwecke gerichteten Gemeinschaft zwei rechte Schurken sich so schnell erkennen, als trügen sie ein Feldzeichen, und werden alsbald zusammentreten, um Mißbrauch oder Verrat zu schmieden. Desgleichen, wenn man sich, per impossibile, eine große Gesellschaft von lauter sehr verständigen und geistreichen Leuten denkt, bis auf zwei Dummköpfe, die auch dabei wären; so werden diese sich sympathetisch zu einander gezogen fühlen und bald wird jeder von beiden sich in seinem Herzen freuen, doch wenigstens einen vernünftigen Mann angetroffen zu haben. Wirklich merkwürdig ist es, Zeuge davon zu sein, wie zwei, besonders von den moralisch und intellektuell Zurückstehenden, beim ersten Anblick einander erkennen, sich eifrig einander zu nähern streben, freundlich und freudig sich begrüßend, einander entgegeneilen, als wären sie alte Bekannte; – so auffallend ist es, daß man versucht wird, der Buddhaistischen Metempsychosenlehre gemäß, anzunehmen, sie wären schon in einem früheren Leben befreundet gewesen.

Was jedoch, selbst bei vieler Übereinstimmung, Menschen auseinanderhält, auch wohl vorübergehende Disharmonie zwischen ihnen erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwärtigen Stimmung, als welche fast immer für jeden eine andere ist, nach Maßgabe seiner gegenwärtigen Lage, Beschäftigung, Umgebung, körperlichen Zustandes, augenblicklichen Gedankenganges usw. Daraus entstehn zwischen den harmonirendsten Persönlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung dieser Störung erforderliche Korrektion stets vornehmen und eine gleichschwebende Temperatur einführen zu können, wäre eine Leistung der höchsten Bildung. Wie viel die Gleichheit der Stimmung für die gesellige Gemeinschaft leiste, läßt sich daran ermessen, daß sogar eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung und aufrichtiger Teilnahme, unter allgemeinem Behagen, erregt wird, sobald irgend etwas Objektives, sei es eine Gefahr oder eine Hoffnung oder eine Nachricht oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine Musik oder was sonst, auf alle zugleich und gleichartig einwirkt. Denn dergleichen, indem es alle Privatinteressen überwältigt, erzeugt universelle Einheit der Stimmung. In Ermangelung einer solchen objektiven Einwirkung wird in der Regel eine subjektive ergriffen, und sind demnach die Flaschen das gewöhnliche Mittel, eine gemeinschaftliche Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Sogar Tee und Kaffee dienen dieser Absicht.

Eben aber aus jener Disharmonie, welche die Verschiedenheit der momentanen Stimmung so leicht in alle Gemeinschaft bringt, ist es zum Teil erklärlich, daß in der von dieser und allen ähnlichen, störenden, wenn auch vorübergehenden, Einflüssen befreiten Erinnerung sich jeder idealisirt, ja, bisweilen fast verklärt darstellt. Die Erinnerung wirkt, wie das Sammlungsglas in der Kamera obskura: sie zieht alles zusammen und bringt dadurch ein viel schöneres Bild hervor als sein Original ist. Den Vorteil, so gesehn zu werden, erlangen wir zum Teil schon durch jede Abwesenheit. Denn obgleich die idealisirende Erinnerung, bis zur Vollendung ihres Werkes, geraumer Zeit bedarf: so wird der Anfang desselben doch sogleich gemacht. Dieserwegen ist es sogar klug, sich seinen Bekannten und guten Freunden nur nach bedeutenden Zwischenräumen zu zeigen; indem man alsdann beim Wiedersehen merken wird, daß die Erinnerung schon bei der Arbeit gewesen ist.

23. Keiner kann über sich sehen. Hiemit will ich sagen: jeder sieht am andern so viel, als er selbst auch ist: denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehn. Ist nun diese von der niedrigsten Art; so werden alle Geistesgaben, auch die größten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem Besitzer derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in dessen Individualität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Charakterfehler. Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die höheren geistigen Fähigkeiten desselben sind für ihn so wenig vorhanden, wie die Farbe für den Blinden. Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat: und jede Wertschätzung ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mit der Erkenntnissphäre des Schätzers. Hieraus folgt, daß man sich mit jedem, mit dem man spricht, nivellirt, indem alles, was man vor ihm voraus haben kann, verschwindet und sogar die dazu erforderte Selbstverleugnung völlig unerkannt bleibt. Erwägt man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, also wie durchaus gemein die meisten Menschen sind; so wird man einsehn, daß es nicht möglich ist, mit ihnen zu reden, ohne, auf solche Zeit, (nach Analogie der elektrischen Verteilung) selbst gemein zu werden, und dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende des Ausdrucks »sich gemein machen« gründlich verstehn, jedoch auch gern jede Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der partie honteuse seiner Natur kommuniziren kann. Auch wird man einsehn, daß, Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur einen Weg gibt, seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, daß man mit ihnen nicht redet. Aber freilich wird alsdann in der Gesellschaft manchem bisweilen zu Mute sein wie einem Tänzer, der auf einen Ball gekommen wäre, wo er lauter Lahme anträfe: mit wem soll er tanzen?

24. Der Mensch gewinnt meine Hochachtung, als ein unter hundert Auserlesener, welcher, wann er auf irgend etwas zu warten hat, also unbeschäftigt dasitzt, nicht sofort mit dem, was ihm gerade in die Hände kommt, etwan seinem Stock, oder Messer und Gabel, oder was sonst, taktmäßig hämmert oder klappert. Wahrscheinlich denkt er an etwas. Vielen Leuten hingegen sieht man an, daß bei ihnen das Sehn die Stelle des Denkens ganz eingenommen hat: sie suchen sich durch Klappern ihrer Existenz bewußt zu werden; wenn nämlich kein Cigarro bei der Hand ist, der eben diesem Zwecke dient. Aus demselben Grunde sind sie auch beständig ganz Auge und Ohr für alles, was um sie vorgeht.

25. Rochefoucauld hat treffend bemerkt, daß es schwer ist, jemanden zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. Demnach hätten wir die Wahl, ob wir uns um die Liebe oder um die Verehrung der Menschen bewerben wollen. Ihre Liebe ist stets eigennützig, wenn auch auf höchst verschiedene Weise. Zudem ist das, wodurch man sie erwirbt, nicht immer geeignet, uns darauf stolz zu machen. Hauptsächlich wird einer in dem Maße beliebt sein, als er seine Ansprüche an Geist und Herz der andern niedrig stellt, und zwar im Ernst und ohne Verstellung, auch nicht bloß aus derjenigen Nachsicht, die in der Verachtung wurzelt. Ruft man sich nun hiebei den sehr wahren Ausspruch des Helvetius zurück: le degré d'esprit nécessaire pour nous plaire, est une mesure assez exacte du degré d'esprit que nous avons; – so folgt aus diesen Prämissen die Konklusion. – Hingegen mit der Verehrung der Menschen steht es umgekehrt: sie wird ihnen nur wider ihren Willen abgezwungen, auch, ebendeshalb, meistens verhehlt. Daher gibt sie uns, im Innern, eine viel größere Befriedigung: sie hängt mit unserm Werte zusammen; welches von der Liebe der Menschen nicht unmittelbar gilt: denn diese ist subjektiv, die Verehrung objektiv. Nützlich ist uns die Liebe freilich mehr.

26. Die meisten Menschen sind so subjektiv, daß im Grunde nichts Interesse für sie hat, als ganz allein sie selbst. Daher kommt es, daß sie bei allem, was gesagt wird, sogleich an sich denken und jede zufällige, noch so entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen Persönliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und in Besitz nimmt; so daß sie für den objektiven Gegenstand der Rede keine Fassungskraft übrig behalten; wie auch, daß keine Gründe etwas bei ihnen gelten, sobald ihr Interesse oder ihre Eitelkeit denselben entgegensteht. Daher sind sie so leicht zerstreut, so leicht verletzt, beleidigt oder gekränkt, daß man, von was es auch sei, objektiv mit ihnen redend, nicht genug sich in acht nehmen kann vor irgend welchen möglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen des Gesagten zu dem werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz allein an diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und während sie für das Wahre und Treffende, oder Schöne, Feine, Witzige der fremden Rede ohne Sinn und Gefühl sind, haben sie die zarteste Empfindlichkeit gegen jedes, was auch nur auf die entfernteste oder indirekteste Weise ihre kleinliche Eitelkeit verletzen oder irgendwie nachteilig auf ihr höchst pretioses Selbst reflektiren könnte; so daß sie in ihrer Verletzbarkeit den kleinen Hunden gleichen, denen man, ohne sich dessen zu versehen, so leicht auf die Pfote tritt und nun das Gequieke anzuhören hat; oder auch einem mit Wunden und Beulen bedeckten Kranken verglichen werden können, bei dem man auf das Behutsamste jede mögliche Berührung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber die Sache so weit, daß sie Geist und Verstand, im Gespräch mit ihnen an den Tag gelegt, oder doch nicht genugsam versteckt, geradezu als eine Beleidigung empfinden, wenngleich sie solche vor der Hand noch verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene vergeblich darüber nachsinnt und grübelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll und Haß zugezogen haben könne. – Ebenso leicht sind sie aber auch geschmeichelt und gewonnen. Daher ist ihr Urteil meistens bestochen und bloß ein Ausspruch zu Gunsten ihrer Partei oder Klasse; nicht aber ein objektives und gerechtes. Dies alles beruht darauf, daß in ihnen der Wille bei Weitem die Erkenntnis überwiegt und ihr geringer Intellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchem er auch nicht auf einen Augenblick sich losmachen kann.

 

Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge welcher sie alles auf sich beziehn und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehn, liefert die Astrologie, welche den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältesten Zeiten geschehen. (S. z. B. Stob. Eclog. L. I, c. 22, 9, pag. 478.)

27. Bei jeder Verkehrtheit, die im Publiko, oder in der Gesellschaft, gesagt, oder in der Literatur geschrieben und wohl aufgenommen, wenigstens nicht widerlegt wird, soll man nicht verzweifeln und meinen, daß es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern wissen und sich getrösten, daß die Sache hinterher und allmälig ruminirt, beleuchtet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt richtig beurteilt wird; so daß, nach einer, der Schwierigkeit derselben angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen, was der klare Kopf sogleich sah. Unterdessen freilich muß man sich gedulden. Denn ein Mann von richtiger Einsicht unter den Betörten gleicht dem, dessen Uhr richtig geht in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch gestellt sind. Er allein weiß die wahre Zeit: aber was hilft es ihm? alle Welt richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren; sogar auch die, welche wissen, daß seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.

28. Die Menschen gleichen darin den Kindern, daß sie unartig werden, wenn man sie verzieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und liebreich sein darf. Wie man in der Regel keinen Freund dadurch verlieren wird, daß man ihm ein Darlehn abschlägt, aber sehr leicht dadurch, daß man es ihm gibt; ebenso, nicht leicht einen durch stolzes und etwas vernachlässigendes Betragen; aber oft infolge zu vieler Freundlichkeit und Zuvorkommens, als welche ihn arrogant und unerträglich machen, wodurch der Bruch herbeigeführt wird. Besonders aber den Gedanken, daß man ihrer benötigt sei, können die Menschen schlechterdings nicht vertragen; Übermut und Anmaßung sind sein unzertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem Grade, schon dadurch, daß man sich mit ihnen abgibt, etwan oft, oder auf eine vertrauliche Weise mit ihnen spricht: alsbald werden sie meinen, man müsse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und werden versuchen, die Schranken der Höflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige zum irgend vertrauteren Umgang, und soll man sich besonders hüten, sich nicht mit niedrigen Naturen gemein zu machen. Faßt nun aber gar einer den Gedanken, er sei mir viel nötiger als ich ihm; da ist es ihm sogleich, als hätte ich ihm etwas gestohlen: er wird suchen, sich zu rächen und es wiederzuerlangen. Überlegenheit im Umgang erwächst allein daraus, daß man der andern in keiner Art und Weise bedarf, und dies sehn läßt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann oder Weib, von Zeit zu Zeit fühlbar zu machen, daß man seiner sehr wohl entraten könne: das befestigt die Freundschaft; ja, bei den meisten Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gran Geringschätzung gegen sie, dann und wann, mit einfließen läßt: sie legen desto mehr Wert auf unsere Freundschaft: chi non istima vien stimato (wer nicht achtet wird geachtet) sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist aber einer uns wirklich sehr viel wert; so müssen wir dies vor ihm verhehlen, als wäre es ein Verbrechen. Das ist nun eben nicht erfreulich; dafür aber wahr. Kaum daß Hunde die große Freundlichkeit vertragen, geschweige Menschen.

29. Daß Leute edlerer Art und höherer Begabung so oft, zumal in der Jugend, auffallenden Mangel an Menschenkenntnis und Weltklugheit verraten, daher leicht betrogen oder sonst irre geführt werden, während die niedrigen Naturen sich viel schneller und besser in die Welt zu finden wissen, liegt daran, daß man, beim Mangel der Erfahrung, a priori zu urteilen hat, und daß überhaupt keine Erfahrung es dem a priori gleichtut. Dies a priori nämlich gibt denen vom gewöhnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand, den Edelen und Vorzüglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie von den andern weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun nach dem ihrigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu.

Wenn nun aber auch ein Solcher a posteriori, also aus fremder Belehrung und eigener Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im Ganzen genommen, zu erwarten steht, daß nämlich etwa 5/6 derselben, in moralischer oder intellektueller Hinsicht, so beschaffen sind, daß, wer nicht durch die Umstände in Verbindung mit ihnen gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu meiden und, soweit es angeht, außer allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; – so wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit kaum jemals einen ausreichenden Begriff erlangen, sondern immerfort, so lange er lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, unterdessen aber sich gar oft zu seinem Schaden verrechnen. Und dann wieder, nachdem er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es ihm dennoch zu Zeiten begegnen, daß er, in eine Gesellschaft ihm noch unbekannter Menschen geratend, sich zu wundern hat, wie sie doch sämtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernünftig, redlich, aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheut und geistreich erscheinen. Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn es kommt bloß daher, daß die Natur es nicht macht wie die schlechten Poeten, welche, wann sie Schurken oder Narren darstellen, so plump und absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man gleichsam hinter jeder solcher Person den Dichter stehn sieht, der ihre Gesinnung und Rede fortwährend desavouirt und mit warnender Stimme ruft: »dies ist ein Schurke, dies ist ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt.« Die Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und redet, Recht behält; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir in ihr Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden: denn sie ist, eben wie die Werke der Natur, aus einem innern Prinzip entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen und Tun als natürlich, mithin als notwendig auftritt. – Also, wer erwartet, daß in der Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets ihre Beute oder ihr Spiel sein. Hiezu kommt aber noch, daß im Umgange die Leute es machen, wie der Mond und die Bucklichten, nämlich stets nur eine Seite zeigen, und sogar jeder ein angeborenes Talent hat, auf mimischem Wege seine Physiognomie zu einer Maske umzuarbeiten, welche genau darstellt, was er eigentlich sein sollte, und die, weil sie ausschließlich auf seine Individualität berechnet ist, ihm so genau anliegt und anpaßt, daß die Wirkung überaus täuschend ausfällt. Er legt sie an, so oft es darauf ankommt, sich einzuschmeicheln. Man soll auf dieselbe so viel geben, als wäre sie aus Wachstuch, eingedenk des vortrefflichen italiänischen Sprichworts: non è sì tristo cane, che non meni la coda (so böse ist kein Hund, daß er nicht mit dem Schwanze wedelte).

15Der Schlaf ist ein Stück Tod, welches wir anticipando borgen und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wieder erhalten und erneuern. Le sommeil est un emprunt fait à la mort. Der Schlaf borgt vom Tode zur Aufrechthaltung des Lebens. Oder: er ist der einstweilige Zins des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung ist. Diese wird um so später eingefordert, je reichlichere Zinsen und je regelmäßiger sie gezahlt werden.
16Bei manchem ist am klügsten zu denken: »ändern werde ich ihn nicht; also will ich ihn benutzen.«