Von Bessarabien nach Belzig

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Beginn des Hausbaues und mein 8. Geburtstag

Anlässlich meines achten Geburtstages sowie des nahenden Weihnachtsfestes, zog Vater in einem Gespräch mit Mutter Bilanz über die vergangenen Jahre. Da stellten sie fest, dass die Familie ständig gewachsen war und sich gefestigt hatte. Auf Grund der Feststellung beschlossen sie, im Frühjahr 1940 mit dem Bau des Hauses zu beginnen, weil es Unzumutbar geworden war, mit vier Kindern noch länger in der Lehmbude zu leben. Die notwendigen Baumaterialien hatte Vater sich in den vergangenen Jahren nach und nach angeschafft und auf dem Grundstück gelagert. Mit diesem Vorsatz gingen die Eltern daran das Weihnachtsfest 1939 vorzubereiten, für das Vater sich zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum geleistet hat. Weihnachtsbäume wuchsen nicht in Bessarabien, sondern wurden aus der Ukraine oder aus den Karpaten eingeführt, daher waren sie sehr teuer. Am Heiligen Abend ging Vater mit uns dreien, Irma, Helmuth und mit mir, in die Kirche.


Letzte Weihnacht in Klöstitz

Auf dem Weg dahin hat uns das Glockengeläut begleitet. Mutter ist indes zu Hause geblieben bei meinem kleinen Bruder Herbert. Während unserer Abwesenheit hat sie die Geschenke unter den Tannenbaum gelegt, der ganz besonders schön geschmückt war. Die Predigt des Pastors Baumann war wie immer ergreifend und kam bei den Gläubigen der überfüllten Kirche gut an. Danach gingen wir vier unter einem sternenklaren Himmel durch hohen Schnee stampfend nach Hause. Unterwegs erzählte uns Vater vom Christkind, auf das wir Kinder uns sehnsüchtig freuten. Als wir den Hof betraten stand Mutter an der Haustür und rief uns zu, das Christkind war schon da. Irma und ich liefen so schnell wir konnten in das Haus, Vater mit Helmuth auf dem Arm folgte uns. Mutter zog uns die dicken Wintersachen aus, wobei sie sagte: „So Kinder, jetzt gehen wir gemeinsam in die weihnachtlich geschmückte Stube.“ Die Tür öffnete sich und wir schauten in eine von Kerzenlicht erhellte Stube, wo ein bis zur Zimmerdecke ragender Tannenbaum stand, der ebenfalls mir Kerzen (Talglichtern) bestückt war. Minutenlang blieben wir staunend mit Freudentränen in den Augen stehen, weil es so eine Weihnachtsstube noch nie bei uns gegeben hatte. Langsam näherten wir uns dem Christbaum und schauten auf den flackernden Lichterglanz. Unsere Eltern stimmten in die Stille hinein das Weihnachtslied „Oh, Du Fröhliche“ an, das wir Kinder auswendig kannten. Gemeinsam sangen wir alle Strophen und beteten das Vaterunser. Mutter verteilte dann die Geschenke, die noch nie so üppig ausgefallen waren, weil es meistens die alten Spielsachen mit neuer Farbe oder die Puppe mit einem neuen Kleid gab. Auch stand für jeden ein Weihnachtsteller unter dem Weihnachtsbaum bereit. Wir Kinder freuten uns und waren überglücklich, weil wir so reichlich noch nie beschenkt worden waren. Dies ließ uns für eine Weile die bittere Armut vergessen. Weil wir Kinder in Armut aufwuchsen, erfreute uns jede Kleinigkeit und wir waren somit leicht zufriedenzustellen.

Am 1. Weihnachtsfeiertag gingen meine Eltern zur Kirche, zuvor bereitete Mutter den Feiertagsbraten vor, wobei es meine Aufgabe war, auf meine Geschwister aufzupassen und mit ihnen zu spielen. Wenn dann die Glocken das Ende der Kirche einläuteten, hielt ich Ausschau nach meinen Eltern, weil mein kleiner Bruder Herbert nicht zu beruhigen war. Wir alle waren guter Dinge, als Mutter den Gänsebraten auf den Tisch stellte, sowie die dazugehörigen Strudeln und Beilagen. Oft hörte man es, wie gut es allen schmeckte, auch der eigene Wein fehlte nicht auf dem Tisch. Ähnlich wie der erste Feiertag verlief auch der Zweite, wo wiederum die Eltern die Kirche besuchten, in welcher meine Mutter getauft, konfirmiert und auch getraut wurde. Die Taufe ihrer vier Kinder ließen meine Eltern auch in der Kirche von Pastor Baumann vollziehen, in welcher fast alle Generationen der ehemaligen Klöstitzer Kolonisten kirchlich betreut wurden. Der ganze Stolz der Klöstitzer war ihre Kirche, die in dem Zeitraum um 1867 erbaut wurde, alle waren finanziell oder fronarbeitsmäßig beteiligt. Der 51 Meter hohe Glockenturm ragte majestätisch in den blauen Steppenhimmel, dessen Glocken am 13. Oktober 1868 die Gemeinde zur Einweihung einluden, wobei die eintausend Sitzplätze nicht ausreichten. Die Baukosten des stattlichen Bauwerkes betrugen immerhin 42.000 Rubel (126.000 Goldmark). Damit konnte sich Klöstitz rühmen die größte und schönste Kirche des bessarabischen Kirchspiels zu haben. Gebetshäuser, die in der Kolonistenzeit erbaut wurden, waren mehr und mehr durch den Bau stattlicher Kirchen zu Gemeindehäusern oder Schulen umgebaut worden. Dies war auch durch die starke Bevölkerungszunahme notwendig geworden. Wenn man bedenkt, dass in der Gemeinde Klöstitz bis zu 400 Schüler in fünf Schulen von fünf bis sechs Lehrern unterrichtet wurden, wo es immer geordnet und diszipliniert zuging. Die von den Schülern mitgebrachte häusliche Erziehung war für die Lehrkräfte äußerst hilfreich, weil sie keine großen Anstrengungen machen mussten, um den Kindern Zucht und Ordnung und bedingungslosen Gehorsam beizubringen. Durch diese straffe Schule bin auch ich als fast Neunjähriger gegangen, wo mir die Härte anerzogen wurde, die mir in meinem späteren Leben sehr hilfreich werden sollte.

Die Jahreswende 1939/40 brachte unserer Familie einen Trauerfall ins Haus, mein kranker Lieblingsgroßvater Gottlieb Messinger verstarb Wie immer zu dieser Jahreszeit lag hoher Schnee. Für die Trauergemeinde war es ein Kraftakt zum Friedhof zu gelangen, der etwa 1,5 Kilometer außerhalb des Dorfes lag. Der Sarg mit den sterblichen Überresten war auf einem Pferdewagen aufgebahrt, mit seinen zwei Lieblinspferden davor, auf dem ich neben dem Kutscher, Onkel Benjamin, Platz nehmen durfte. Mühevoll auf dem Friedhof angekommen, haben die Leichenträger den Sarg in die Grube abgesenkt. Als dann Pastor Imanuel Baumann die Andacht hielt, war mir weh ums Herz, weil ich nach Großmutter einen weiteren Freund verloren hatte.

Trotz aller Trauer ging Vater daran, seinen Plan eines neuen Hauses fortzusetzen, dies wurde aber durch gewisse weltpolitische Ereignisse gestoppt, weil von Umsiedlung nach Deutschland die Rede war. Vorahnungen einer sich anbahnenden Umsiedlung gab es schon im Oktober 1939, dies konkretisierte sich zunehmend und verunsicherte die Klöstitzer Bauern. Nun setzte nicht nur in unserer Familie eine Stagnation sowie Ratlosigkeit ein, denn alles stand auf dem Spiel und alle Planungen wurden zunichte gemacht.

Beginn der Umsiedlung nach Deutschland

Für alle 93.000 Bessarabiendeutschen brach eine Welt zusammen, weil alles, was sie sich in ihrem Leben erarbeitet hatten, nur noch die Hälfte oder gar nichts mehr wert war. So erging es auch meinem Vater, der sein ganzes Baumaterial zu Schleuderpreisen verkaufen musste, vieles verschenkte, oder wertlos liegen lassen musste. Obwohl es feststand, dass durch den HitlerStalinNichtangriffspakt die Aussiedlung nach Deutschland stattfinden würde, haben alle Bauern ihre Felder wie eh und je bestellt, jedoch fehlte es ihnen an dem sonst vorhandenen Elan. Die Situation nutzend, machten alle die das Geschäft ihres Lebens, die nicht nach Deutschland auswandern durften. So auch der Federjude, der alles billig aufkaufte, was er sonst teuer bezahlen musste. Als Junge sammelte ich beim Schlachtfest die Schweineborsten und Mutter gab mir Gänsefedern, womit ich mir beim Federjuden mein Taschengeld verdiente. Es blieb den Bessarabiendeutschen nichts weiter übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen und abzuwarten, was auf sie zukommen würde. Sie konnten es nicht verhindern in das Räderwerk der Weltpolitik zu geraten, wo sich zwei Diktatoren insgeheim Europa aufteilten. So kam es, dass der Diktator Stalin Rumänien am 25. Juli 1940 ein Ultimatum setzte, Bessarabien binnen einer Woche zu verlassen, was kampflos über die Bühne ging. Dies aber löste eine Welle der Gewalt von Seiten der Rumänen aus, die raubend sowie plündernd durch die Höfe zogen und alles mitnahmen, was nicht Niet- und Nagelfest war. Sie nahmen den Bauern Pferde mit Wagen weg, beluden sie und fuhren mit ihrer Beute vom Hof, wer sich wehrte, riskierte sein Leben, es gab auch übergriffe auf Klöstitzer Frauen. Darauf reagierte mein Vater mit weiteren vier Bauern, indem sie ihre Pferde anspannten, ihre Wagen mit Wertsachen beluden und in die Steppe hinausfuhren, wo sie sich in den Weinbergen und Maisfeldern versteckten, was viele andere Bauern auch taten. Das veranlasste die Rumänische Armee, Patrouillen in die Steppe hinaus zu schicken, um die Bauern zu suchen, sie festzunehmen oder bei Widerstand zu erschießen. Den zweiten Tag im Versteck hörten die Männer ein Pferd wiehern, worauf ihre Pferde antworteten, dies verriet das Versteck der Bauern. Ehe sie sich versahen standen zwei berittene Rumänische Soldaten vor ihnen, die ihre Waffen auf sie richteten und sie auf Rumänisch aufforderten, die Hände hochzuheben. Die fünf Bauern wurden nicht nur massiv mit den Waffen bedroht, sondern auch geschlagen und aufs Äußerste beschimpft. Mein Vater selbst war mal rumänischer Soldat und erwiderte in ihrer Sprache, wobei er ihnen aus seiner Proviantkiste (Steppkäschtle) Essen und Wein anbot, was sie sofort annahmen, denn es war ein glühendheißer Tag. Vater reichte ihnen zunächst einen Tonkrug mit Wein, den sie im Wechsel austranken. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Während die beiden je einen Riegel Schinken mit Brot verzehrt hatten, war auch der zweite Weinkrug geleert, sodass der eine von ihnen Volltunken im Maisfeld seinen Rausch ausschlief. Der Andere aber bedrohte sie mit seiner Waffe, schoss in Abständen in die Luft, wobei er wiederholt rief: „Ich werde euch alle erschießen.“ Mit vorgehaltener Waffe zwang er die fünf Männer Aufstellung zu nehmen, was ihnen den Todesschweiß auf die Stirn trieb. In seinem Wahn legte er auf die Männer an, drückte auch ab, doch es löste sich kein Schuss, weil er das Magazin leer geschossen hatte. Wie auf ein Kommando stürzten sich die Bauern auf den Soldaten, rissen ihn zu Boden und fesselten sie beide aneinander. Den Schreck in ihren Gliedern steckend, schauten sie sich gegenseitig an und waren froh, dass ihr Schutzengel das Schlimmste verhütet hat. Nach einer kurzen Beratung schnürten sie die beiden Soldaten auf ihre Pferde, die dann das Weite suchten. Als die Männer sich wieder gefasst hatten, packten sie alles zusammen und fuhren mit ihren Gespannen in ein anderes Versteck. Die Rumänen verließen Bessarabien am 25. Juni 1940, noch in der Nacht kehrte Vater mit seinen Freunden nach Hause zurück. Mit gedämpfter Stimme erzählte er Mutter seine Erlebnisse im Maisfeld, als er und seine Freunde um ihr Leben bangen mussten. Da hörte ich meine Mutter zum ersten Mal bitterlich weinen. Durch die Abzugsattacken der Rumänen hatte das friedliche Leben der Bessarabiendeutschen großen Schaden genommen. Wenn man bedenkt, was das zaristische Russland für die deutschen Kollonisten getan hatte, nicht nur eine Bleibe sondern ihnen eine Heimat gaben, so hat es jetzt den Anschein, dass ihnen alles genommen würde. Bei hastig einberufenen Versammlungen wurde den Klöstitzern im Beisein russischer und deutscher Mitglieder der Umsiedlungskommission die bevorstehende Umsiedlung nach Deutschland bekanntgegeben.

 

Nun ist es zur traurigen Gewissheit geworden, dass sich zwei Diktatoren am, durch Fleiß und ehrlich erworbenen Eigentum der Bessarabiendeutschen, bereichern werden. Allen voran Diktator Stalin, der nicht nur das russische Volk in Angst und Schrecken versetzte sondern jetzt auch die Nachkommen der ehemaligen Kollonisten verdrängt, wo sie 125 Jahre glücklich und zufrieden lebten. Nach tiefgründiger Überlegung kamen die Bessarabier zu der Überzeugung, dass es die bessere Variante wäre dem Ruf Deutschlands zu folgen: Kommt heim ins Reich. Die Rumänen haben nur einen Teil unseres Eigentums mitgenommen, die Russen aber alles. Hier habe ich als Neunjähriger zusehen müssen, wie meinen Eltern nicht nur ihr Eigentum, sondern auch uns die Heimat genommen wurde. An vielen Abenden wurde in versammelter Runde über die bevorstehende Umsiedlung gesprochen. Wo sonst gesungen und gelacht wurde, hörte man nur noch Klagen. Männer und Frauen trauten sich abends nicht mehr auf die Straße, wegen den betrunkenen und randalierenden Russen. Es hatte nicht nur den Anschein, sondern es ist eine bittere Wahrheit geworden, dass ein Leidensweg der Bessarabier begonnen hat. Am 28. Juli 1940 besetzte die sowjetische Rote Armee das Territorium Bessarabiens. Hitler hatte ja ein Jahr zuvor im HitlerStalinPakt diese Region insgesamt der Sowjetunion zugestanden, verlangte aber die Umsiedlung der dort lebenden deutsch- stämmigen Bevölkerung ins Deutsche Reich. Am 5. September 1940 schlossen die Sowjetunion und das Deutsche Reich in Moskau einen Umsiedlungsvertrag. Er ermöglichte allen Bessarabiendeutschen die Rückkehr nach Deutschland. Jeder Bewohner ab vierzehn Jahren konnte die Entscheidung darüber selbst treffen. Mit der Anwesenheit sowjetischer Truppen Ende Juni 1940 hatten sich in Bessarabien bestürzende Veränderungen ergeben. Jeder Bauer hatte ein Erntesoll abzuliefern, Schulen wurden geschlossen, Krankenhäuser und Apotheken beschlagnahmt, Banken und Industrieunternehmen enteignet. Man befürchtete die baldige Deportation nach Sibirien. Schlimmes ließen auch die nächtlichen Verhaftungen von Gutsbesitzern und Angehörigen andere Volksgruppen in Bessarabien erahnen. Nahezu geschlossen entschied sich im September 1940 die 93.000 Personen umfassende deutsche Volksgruppe zur Umsiedlung. Diesen Rückzug aus 125 alten Siedlungsgebieten deutscher Ostsiedler feierte die NSPropaganda als „Heimkehr ins Reich“.

Gründe der deutschstämmigen Bevölkerung, in die Umsiedlung einzuwilligen, sie sogar als Rettungsmaßnahme anzusehen, waren:

• Furcht vor Rechtlosigkeit (Deportation)

• Aufgabe des eigenen Bodens (Zwangskollektivierung)

• Ende des deutschen kulturellen und kirchlichen Lebens

• einsetzende Verarmung in Bessarabien

Die Umsiedlung nach Deutschland

Das einzige Thema seit Wochen ist die Umsiedlung nach Deutschland, überall sieht man Gruppen diskutierender Männer und Frauen, die sonst lachenden Gesichter der Menschen sind verschwunden. Vater zimmert seit Tagen am Treckwagen, mit dem er unsere Habseligkeiten zum Donauhafen Galatz bringen will, dabei habe ich ihm Handreichungen gemacht.

Inzwischen packte Mutter in Kisten und Leinensäcke das Wichtigste ein, wobei sie sich von so manchem für immer trennen muss. Wir Kinder schauten unsren Eltern bei ihrer unfreiwilligen Arbeit zu, die ihnen sehr schwer fiel und Mutter die Tränen in die Augen trieb. Unsere Nachbarin Emma Mammel kam des Öfteren rüber, um sich Rat bei Muttern zu holen, weil sie wie wir alle, aus der Lebensbahn geworfen wurde. Sogar unser bulgarischer Hirtenhund „Tschornik“ merkte, dass alles anders war wie sonst. Er heulte jetzt jede Nacht, was er vorher nicht getan hatte.

Inzwischen war es Abend geworden und Vater stellte seine Arbeiten am Pferdewagen ein, um das verbliebene Vieh zu versorgen. Mutter rief uns zum Abendessen, wo Vater das Abendgebet sprach, in welchem er darum bat, dass er mit seiner Familie gut in Deutschland ankommen möge. Danach saßen wir alle stumm beieinander bis Mutter das Lied „Im schönsten Wiesengrunde“ anstimmte, welches schwermütig klang. Meine beiden Brüder Helmuth und Herbert schliefen schon in seliger Ruh. Sie bekamen von all den bevorstehenden Veränderungen nichts mit, was ihnen vieles ersparte. Als dann Irma und ich zu Bett gingen, hörte ich Vater sagen: „Anna, morgen werden wir den Treckwagen beladen.“ Dann gingen sie beide zum Abschlussgottesdienst in die Kirche. Auf dem Weg dorthin, hat sie das Glockengeläut begleitet.

Es war schon am frühen Morgen, als ich durch lautes Reden geweckt wurde, durch das Fenster waren SSMänner zu sehen, die das Gepäck kontrollierten, registrierten und mit Stempeln versahen. Ein Offizier übergab meinen Vater ein Schriftstück, mit den Worten: „Das Gepäck kann verladen werden.“ Dann verließ das SSKommando den Hof. Die Nachbarn halfen sich gegenseitig beim Verladen ihrer Habe, die auf ein Minimum geschrumpft war. Es fehlte nur noch das Pferdefutter für mindestens drei Tage und das Proviantkästchen (Steppkäschtle) für Vater. Als alles verstaut war, überprüften die Eltern noch einmal, ob nichts vergessen wurde, wobei Vater sagte: „Anna, das ist alles, was uns nach harter zehnjähriger Arbeit geblieben ist.“

So verging der Tag mit Sorge und innerer Angst, was sich auch abends nicht änderte, weil es für Vater die letzte Nacht war, die er in seiner Lehmbude verbringen würde. Zur Schlafenszeit beteten wir gemeinsam das Vaterunser, danach begaben wir uns dann zur Nachtruhe. Mutter aber hörte ich noch lange weinen.


Sonnenaufgang in der Steppe


So verließ Vater seinen Hof und Klöstitz *

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* Foto aus der Sammlung von Akira Takiguchi

Als am Morgen des 30. September die Sonne glutrot über der Klöstitzer Steppe aufging und mit ihren wärmenden Strahlen das urbargemachte sowie fruchtbare Land erfasste, rüsteten sich die Bauern, auch mein Vater, zur Abfahrt zum Donauhafen Galatz. Die Pferde waren versorgt, so konnten sie vor den Planwagen gespannt werden, wobei ich Vater half. Er sprach die ganze Zeit kein Wort mit mir, dann aber sagte er zu mir: „Artur geh, hole deine Mutter und deine Geschwister“, was ich bereitwillig tat. Als wir auf ihn zugingen, empfing er uns mit den Worten: „Anna nun wird es ernst.“ In dem Moment setzte das Glockengeläut ein, was das Zeichen zur Abfahrt war. Vater verabschiedete sich von uns Kindern und unserer Mutter, wobei ihm die Tränen über die Wangen rollten. Dann ergriff er die Leinen und die Pferde setzten sich in Bewegung. Der Treckwagen rollte vom Hof zur Straße, wo schon andere unterwegs zur Sammelstelle waren.


Wir folgten dem Wagen zur Straße, wo Vater noch einmal anhielt, uns noch einmal in den Arm nahm, noch einmal auf seinen Hof schaute, wobei er sagte: „Nun ade, du mein Liebheimatland.“ Dann fuhr er auch Richtung Sammelstelle, schaute aber nicht mehr zurück. Dann lief plötzlich Tschornik dem Wagen nach, weil er dachte, es ginge zur Steppe. Wohl oder übel musste ich hinterher, um ihn zu holen, blieb aber bei Vater bis er sich in den Treck eingereiht hatte. Dann noch einen letzten Händedruck zwischen Vater und Sohn. Mit Glockengeläut zog die Wagenkolonne den Hügel hinauf, auf der Tarutinower Straße Richtung Donauhafen Galatz. Wehmütig sah ich unserem Wagen nach, bis er hinter „Küst“ seinem Hügel verschwand. Mein Hirtenhund wäre dem Wagen nachgelaufen, wenn ich ihn losgelassen hätte.


Auch mein Onkel Friedrich Uhlich schaute noch einmal auf sein Dorf zurück *


Mit Handgepäck und Herbert in der Blacht sind die Frauen abfahrbereit

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* Foto aus der Sammlung von Akira Takiguchi

Lange stand ich noch am Wegesrand, wo sich Abschiedsszenen abspielten, die nicht zu beschreiben sind. Dazu das Glockengeläut, das weit über die Steppe hinausschallte. Niedergeschlagen und traurig ging ich mit Tschornik den Weg nach Hause zurück, wo ich Mutter weinend mit meinen Geschwistern antraf. Wenig später gab es Mittagessen, wonach Mutter mit der Nachbarin, Emma Mammel, zum Abschiedsgottesdienst in die Kirche ging, ich durfte wieder einmal auf meine Geschwister aufpassen. Für die Klöstitzer war geplant, dass erst die Männer mit Pferd und Wagen, danach Frauen mit Kindern zwei Tage später mit Bussen abtransportiert werden. Nun war Vater schon einen Tag und eine Nacht mit seinem Gespann unterwegs, sodass der Tag der Abreise für Frauen und Kinder näher kam. In den frühen Morgenstunden des 2. Oktober 1940 erinnerte uns der Ruf unserer Glocken daran, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen.


Abschied von Daheim

Mit den Worten: „Kinder kommt“, ging Mutter in die Stube, kniete vor dem Kreuz und dem Bild Christi nieder, was wir Kinder mit gefalteten Händen auch taten. Sie betete für sich, ihren Mann und ihre Kinder, dass die Ausreise nach Deutschland gelingen möge, schloss dann ihr Gebet mit den Worten: „Lieber Gott, warum lässt du es zu, dass uns alles genommen wird.“ Langsam ging Mutter zur Haustür mit meinen Bruder Herbert in der Blacht (Tragetuch), sagte dann: „Nehmt euer Kleingepäck und schaut euch noch einmal um, hier solltet ihr groß und glücklich werden.“ Dann gingen wir alle bepackt aus der Haustür, Irma nahm Helmuth an der Hand, ich versuchte Tschornik zum Bleiben zu überreden, was mir nicht gelang. Er folgte uns bis zum Bus. Dort trafen wir auf klagende und weinende Menschen. Hier wurden Kranke, Alte und Behinderte in extra Busse mit Betreuung verladen. Auch unser Bus füllte sich bis auf den letzten Platz, bis es dann hieß, abfahren. Es ging die Tarutinower Straße hinauf, vorbei an freigelassenen herumirrenden Haustieren. Am Küst seinen Hügel hielten die Busse an, wo viele ausstiegen, so auch meine Mutter, um sich von dem im Schagertal liegende Klöstitz für immer zu verabschieden.


Betende Frauen auf dem Steppenboden

 

Meine Mutter weinend mit Herbert in der Blacht auf dem Steppenboden

Am Wegesrand spielten sich die bittersten Szenen ab, was ich durch das Busfenster gut beobachten konnte. Mutter kniete mit vielen anderen auf dem Steppenboden nieder, wo sich auch unser Hirtenhund Tschornik neben ihr niederlegte. Dieser Anblick trieb mir als Neunjährigen die Tränen in die Augen, ist uns doch Tschornik bis zum Hügel nachgelaufen. Vom Kirchturm her war nicht nur Glockengeläut zu hören, sondern auch das Heulen der Hunde schallte bis zum Hügel herauf. Es hatte den Anschein, als wollten sie sich gemeinsam mit den Frauen ihr Leid von der Seele weinen. Die herzzerreißendste Szene war, als sich eine Frau auf den Steppenboden warf, ihre Hände in die Erde grub und dabei rief: „Heimatland, ich lass dich nicht los!“ Sie wurde von zwei Männern behutsam in den Bus gebracht, wo dann auch der Ruf erklang: „Alles einsteigen, die Schiffe im Donauhafen Galatz warten schon auf uns!“

Unser Bus setzte sich in Bewegung, durch das Heckfenster sah ich, dass Tschornik unserem Bus nachlief, was mir in der Seele wehtat. Durch den aufgewirbelten Steppenstaub verlor ich meinen Hirtenhund Tschornik letztendlich aus den Augen, sodass nur noch das Schluchzen der Frauen und das Weinen der Kinder zu hören waren. Dann wurde es still, ganz still, bis eine alte Frau das Lied „Nun ade, mein lieb Heimatland“ anstimmte.

Sie sang erst leise, dann etwas lauter bis schließlich alle anderen aus voller Kehle mitsangen. Um die Mittagszeit wurde irgendwo in der Steppe Pause gemacht, wo alle ihr Essen auspackten, Großfamilien hatten sogar Gekochtes dabei. Nach einiger Zeit drängte die Begleitmannschaft zur Weiterfahrt, weil erst die Hälfte der 150 Kilometer geschafft war. Während der Weiterfahrt kam es immer wieder zu klagenden Szenen, andere wieder starrten in Gedanken vor sich hin, ihre Gesichter zeigten Ratlosigkeit vielleicht war es auch Angst vor dem, was auf sie zukommen würde. Durch das monotone Motorengeräusch trat eine allgemeine Ruhe ein und die ganze Situation entspannte sich merklich. Am späten Nachmittag erreichten wir das Hafengebiet, wo die Donauschiffe vor Anker lagen. Mit Blasmusik wurden wir an Bord gebracht. Es herrschte bedrückende Enge auf den sechsundzwanzig Ausflugsdampfern der deutschen, jugoslawischen und ungarischen Donauflotte, Schlafgelegenheit gab es nicht. Etwas Freude kam auf, als die Treckwagenfahrer an Bord kamen und die Familien wieder vereint waren.

Die Treckwagen mit den Pferden mussten am Hafen zurückgelassen werden, weil sie von den Russen beschlagnahmt wurden. Am Abend des 2. Oktobers 1940 waren alle Klöstitzer an Bord der Schiffe, als dann die Schiffssirenen ertönten und die Fahrt donauaufwärts nach Semlin, in das damalige Jugoslawien, begann.

Die Flussschiffe beförderten jeweils 400 bis 1.000 Passagiere. In den fünfundvierzig Tagen der Umsiedlungsaktion pendelten sie auf der Donau unablässig auf und ab. Die Schifffahrt Richtung Deutsches Reich begann in russischen beziehungsweise rumänischen Donauhäfen Galatz, Kilia oder Reni. Sie dauerte zwei Tage und zwei Nächte und endete nach knapp 1.000 Kilometern donauaufwärts in den Häfen Prachovo und Semlin nahe Belgrad, im damaligen Jugoslawien. Diesen Reiseweg hatten auch die Vorfahren der deutschen Umsiedler 125 Jahre zuvor zurückgelegt, jedoch donauabwärts.

Zurück blieben: 374.000 Hektar Kulturland, 7.000 Hektar Weinberge, unzählige Siedlungshäuser, Schulen, Kirchen, Bet- und Rathäuser, Mühlen, Fabriken, Genossenschaftsbetriebe, Brücken und Brunnen, Haustiere und Viehherden. 150 deutsche Dörfer und Siedlungen, vereinsamt und fast menschenleer, zeugten von der Kulturleistung deutscher Siedler in 125 Jahren.

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