Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln

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Wir warfen die Maschine an und hielten auf die Küste zu. Die vorgelagerten Riffe konnten wir schon bald ausmachen. Hinter ihnen war eine Kursänderung ins Fahrwasser der Bucht notwendig. Wir hatten keine Landpeilungen, bis sich die Verzerrungen vor uns wieder in normale Formen zurückschoben. Aus Unheimlichkeit wurde vertraute Schönheit. Auf welch schmalem Pfad leben wir Menschen! Ein wenig zuviel Hitze genügt, um unser Bild von der Erde zu zerstören. Ein wenig zu kalte Luft reicht aus, um unsere Umwelt auf den Kopf zu stellen.

In der geschützten Bucht liefen wir zum Ankerplatz. Der Anker fiel und zog rasselnd die Kette hinter sich her. Als Stille eintrat, klangen Menschengeräusche vom Städtchen Muros herüber, das sich in dünnen Häuserreihen an den abenddunklen Hang preßte.

Die Berge des gegenüberliegenden Ufers färbten sich rot. Wie Behausungen von Zwergen lagen dort Dörfer an den Hängen. Und darüber standen die Gipfel, deren nackter Fels im Schein der Abendsonne zu glühen begann: Heimat fremder Heroen, die in unirdischen Träumen leben und niemals zu uns Menschen niedersteigen.

Männer nahmen von dieser Küste Abschied, deren Entdeckungsfahrten das europäische Bild der Erde prägten. Columbus, Magallan, de Soto, Balboa, Cortez, Pizarro, zahlreiche andere. In unendlicher Hoffnung fuhren sie aus und in maßlosem Elend kehrten sie zurück: erschöpft, auf morsch gewordenen Schiffen, mit zerrissenen Segeln, nur einen Bruchteil der Gefährten um sich, die mit ihnen ausgezogen waren. Ihrem Elend folgte oft Triumph, ebenso oft auch Gefangenschaft und Hinrichtung. Kein Schicksal ist unausdenkbar in diesem endlosen Zug der Geschichte. Und kehrten sie nicht zurück, blieben sie irgendwo verschollen, ertränkt im Schiffbruch vor fremder Küste, erschlagen von Eingeborenen, erhängt von Meuterern, erdolcht von Neidern, dem Fieber erlegen oder vom Hunger dahingerafft: neue Männer zogen von diesen Küsten aus, immer wieder neue.

Ihr Traum ist Gold. Ihr Stolz ist beispiellose Tapferkeit. Ihre Leidenschaft ist die Bekehrung von Heiden. Sie finden Gold und sie bekehren Heiden.

Kein Preis ist ihnen dafür zu hoch und jedes Mittel recht.

So zerrinnt das Gold und die Bekehrung bessert nichts. Sie stürmen weiter, segeln, entdecken, erobern, metzeln, brandschatzen, rauben. Sie gründen ein Reich, in dem die Sonne niemals untergeht. Aber schon die Söhne müssen verteidigen, was die Conquista ihrer Väter zusammenraffte.

Der Traum verlischt. Der Stolz zerbröckelt wie das Reich. Die Leidenschaft versiegt. Wehmut bleibt: Eldorado tapferer Hidalgos, intrigierender Granden, einsamer Könige. Da reitet in Unsterblichkeit der Ritter von der traurigen Gestalt – Don Quijote.

»Abendessen!« rief Elgas Stimme aus der Kajüte.

Ich blickte nochmals zu den Bergen, deren Konturen nun ins Grau der Nacht sanken. Von dieser Küste werden auch wir Abschied nehmen, um über das Meer dorthin zu segeln, wo sich das Schicksal so vieler entschied. Wie wird sich das unsere entscheiden?

»Tomatenreis mit verlorenen Eiern, frischer Salat, mit Zitronensaft bereitet!« sang Elga.

»Ich komme mit gewaltigem Hunger!« rief ich und stieg in den freundlichen Lampenschein unserer Kajüte hinunter.

Gern würde ich alle Einzelheiten über unsere Küstensegelei in spanischen und portugiesischen Gewässern erzählen. Wir erlebten so viel – zu viel, um alles erzählen zu können. Wir mußten segeln, wenn es das Wetter nur irgendwie gestattete. Spätestens Anfang November wollten wir Las Palmas auf Gran Canaria zur Atlantiküberquerung verlassen. Zuvor mußte »Kairos« überholt und ausgerüstet werden. Im November wird der Westteil des südlichen Nordatlantik – das Seegebiet der Antillen also – sicher: die Jahreszeit der tropischen Wirbelstürme ist dann vorbei.

Bei nördlichen Winden segelten wir nach Vigo, um unsere Post zu holen. Wir ankerten in der Bucht von Bayona auf gleichem Platz, wo 1493 die Karavelle »La Pinta« unter Martin Alonso de Pinzon vor Anker ging. Als erstes Schiff aus Columbus’ Geschwader brachte sie die Nachricht von der Entdeckung der Neuen Welt. Wir lauschten im Flußgebiet westlich der Stadt Aveiro dem klagenden Ruf der Vögel und sahen über der flachen Sumpflandschaft die weißen Haufen trocknenden Salzes, während die dunklen Segel der Barken, die das einzige Verkehrsmittel in jener Welt von Wasserläufen sind, geheimnisvoll vorüberglitten.

In Oporto stiegen wir in den Keller und probierten Portwein. Es war eine erschreckend lange Reihe von Gläsern. Die Probe artete fast in Arbeit aus. Jetzt wissen wir wirklich, was Portwein ist.

Wir lagen in portugiesischen Fischerhäfen, und Elga übersetzte mir die Erzählungen der Fischer von den Neufundlandbänken, von Schoonern und Dorys, von Dorsch und Sturm und Nebel.

Am Cabo da Roca vorbei segelten wir in die Tejomündung. Es wehte aus Nord mit Stärke 7, und wir wurden naß bis auf die Knochen.

Und während aller Zeit lag zu Steuerbord der große Atlantik und wartete. Wir kannten nichts von ihm. Sein unerbittlicher Dreiklang von Himmel, Wasser und Horizont war uns fremd und unheimlich.

»Elga«, sagte ich, »wenn Cabo da Roca nächste Woche achteraus verschwindet, sind wir allein – du und ich und das Schiff.«

»Ja«, sagte sie.

In Lissabon warteten wir auf Nordwind. Immer wieder saßen wir in etwas gedrückter Stimmung im Cockpit. In einen heißen, windlosen Himmel hob sich das Monument Heinrich des Seefahrers, der nie eine Seefahrt unternahm. Aber er löste sie aus dem Zustand zwischen Seeräuberei und Eroberungszug. Er machte Seefahrt zu einer geistigen Erfahrung, die Ungewißheit austilgen konnte. Er sammelte die Meldungen seiner Kapitäne, sichtete sie. Er schuf den Grundgedanken des Seehandbuches: Küstenlinien und Untiefen zu beschreiben, Strömungen aufzuzeichnen, damit die Nachfahren Nutzen daraus ziehen konnten. Ein Seefahrer, der nicht die See befuhr – steinern steht er auf seinem dem Bug eines Schiffes ähnlichen Podest, hinter sich die Kapitäne, Geologen, Kartographen und Paladine, über sich die granitene Schwingung des Denkmals wie ein geblähtes Segel. Er blickt über den Tejo, auf dem die Schiffe kommen und gehen, in jene Weiten, denen er so viel von ihren ungewissen Schrecken nahm.

Wir machten Museumsbesuche und Ausflüge. Dann war es plötzlich so weit: Wind wehte, Nordwind! Wir segelten den Tejo hinab. In der Flußmündung kontrollierten wir durch Azimutpeilungen der Sonne unseren Kompaß. Als wir das grüne Flußwasser unterm Kiel verloren und das Blau des Ozeans tief wurde, frischte der Wind auf. Wir refften das Großsegel. Der Seegang lief grob. Wir fühlten uns seekrank. Kurs Südwest nach Madeira lag an. 500 Seemeilen Ungewißheit.

Ich blickte zum Cabo da Roca zurück, das wie ein Klotz in Dunst und Sonnenschein lag. Voraus wurde die Linie des Horizontes vom ziehenden Seegang unterbrochen.

»Bist du zufrieden?« fragte Elga.

»Ja«, antwortete ich. »Jetzt sind wir mittendrin. Jede Minute und Stunde, jeder Tag zählt – hoppla!« Das Schiff rollte, und ich mußte mich festhalten.

Während meiner Nachmittagswache zogen Federwolken auf. Sie bleichten den Schein der Sonne und ließen das Meer graubärtig und heimtückisch in ihrem verschleiernden Licht erscheinen. Aber das Barometer stieg. Lauf, »Kairos«, dachte ich, segle die Ungewißheit weg!

Während dieser Fahrt erlebten wir außer einer Gewitterbö, die mich fast aus dem Mast schleuderte, nur Flauten. Unsere Müdigkeit wurde unerträglich bei der unerbittlichen Reihenfolge der Wachen. Doch nach 8 Tagen und 9 Stunden fiel unser Anker auf der Reede von Funchal.

Die Sache mit der Gewitterbö war so:

In der zweiten Nacht auf See zog aus Südwest eine schwere Wolkenwand auf – gegen den Wind. Wir segelten bei Nordostwind Stärke 4 unter Großsegel und der nach Backbord mit dem Spinnakerbaum ausgestützten Genuafock.

Elga weckte mich. »Zieh Ölzeug an. Vorsegel bergen und Großsegel reffen. Da braut sich was zusammen.«

Verschlafen steige ich an Deck. Der Wind ist klebrig warm. Heftig rollt das Schiff. Voraus wetterleuchtet es. Im schwachen Schein der Kompaßlampe wirkt Elgas Gesicht alt und müde. Ich streiche ihr über das Haar, bevor ich nach vorn turne und das Vorsegel berge.

Bei einer plötzlichen Bewegung des Schiffes verliere ich den Aufholer des Spinnakerbaumes. Die Leine entschwindet nach oben, läuft dort durch ihren Block und fällt nutzlos aufs Deck. Der Baum kann jetzt nicht in seine Ruhestellung senkrecht vor den Mast geholt werden.

Zunehmendes Blitzen im Südwest.

Teufel – ich fühle mich krank. Denn »Kairos« ist nicht voll manövrierfähig mit diesem ungehaltenen Baum. Mit solchen Kleinigkeiten bei sich verschlechterndem Wetter können Katastrophen beginnen: dem ersten Mangel folgt ein zweiter, aus dem sich ein dritter und vierter ergeben. Ihre Summe nimmt laufend von der Seetüchtigkeit des Schiffes – ein wenig – dann noch ein wenig – und mehr – und alles – während sich das Wetter zu tödlicher Raserei steigert …

Im Südwest begleitet jetzt Donner die Blitze.

»Aufholer ausgelaufen, muß in’n Mast!« rufe ich. Elga antwortet etwas, das ich nicht mehr verstehe. Ich bin schon oben, finde Halt mit den Füßen am Mast und mit der linken Hand an der Saling – mit der rechten versuche ich, den mit nach oben genommenen Tampen durch den Block zu ziehen. Der Mast fegt hin und her. In den Augenblicken seiner abrupten Richtungsänderung vermag ich nur mit ganzer Kraftanstrengung mich zu halten. Dabei verliere ich den Aufholer aus den erlahmenden Fingern. Ich klettere zurück.

Blitze, Donner, zischendes Rauschen aus Südwest.

Auch der zweite Versuch mißlingt. Ich weine vor Erschöpfung und berge das Großsegel, dessen Hin- und Herschlagen in der einsetzenden Flaute mein Klettern erschwert. Dann versuche ich es ein drittes Mal. Arme und Füße sind wie Blei, die Finger ohne Gefühl. Mein Körper scheint Tonnen zu wiegen. Aber es gelingt, den Tampen durch den Block zu ziehen. Das durchgezogene Ende nehme ich zwischen die Zähne und rutsche kraftlos abwärts. Zwei Meter über Deck verliere ich den Halt und falle. Ich verbeiße mich in den Aufholer – was auch jetzt passiert, den darf ich nicht verlieren.

 

Es gibt einen Ruck, Zähne splittern. Ich liege ohne Atem rücklings auf dem Deck und schmecke Blut. In meine Benommenheit kommt das Bewußtsein: du hast den Tampen! Es überstrahlt den Schmerz. Elga hat aufgeschrien. Spuckend sichere ich den Spinnakerbaum und belege den Aufholer. Das Schiff ist klar für jedes schlechte Wetter.

Dann kam die Bö mit blauen, krachenden Blitzen und Regen. Ohne Besegelung ließen wir sie über uns hinwegheulen. Elga gab dem treibenden Schiff Ruderhilfe. Ich saß im Cockpit und fühlte mich wie ein Bündel rohes Fleisch.

Dem Gewitter folgte kein schlechtes Wetter. Die Nacht wurde wie Watte. Kein Windzug war zu spüren. Ich hätte den Aufholer nun in aller Ruhe durch seinen Block da oben scheeren können. Bei der Kürze der Bö wäre dem ersten Mangel wohl kein zweiter gefolgt, kein dritter und vierter. Oder –? Der See ist niemals zu trauen. Wer »später« zu ihr sagt, wird es später bereuen – oder überhaupt nicht mehr.

Daran dachte ich, als wir auf einer Bank im Botanischen Garten von Funchal saßen. Das Laub tropischer Bäume, deren unbekannte Namen wir von Tafeln abzubuchstabieren versucht hatten, schenkte uns Schatten. Der durch Laubgrün und Blumenpracht führende Kiesweg verlor sich hinter Gartenkulissen, wo uniformierte Gärtner mit Spaten, Hacke und Wasserschlauch hantierten. Auf einer von Schatten und Sonnenlicht gesprenkelten Terrasse rieselte ein Brunnen.

»Ich habe bisher nicht gewußt«, sagte Elga, »daß ein Garten so schön sein kann. Muß man 2500 Seemeilen segeln, um das so stark zu erfahren?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich nachdenklich. »Jedenfalls haben wir es getan.«

Das Haus des deutschen Konsuls erreichten wir mit dem Bus. Es lag 300 Meter hoch über Funchal mit einem großartigen Blick über Stadt und Meer. Der Atlantik sah von dieser Höhe friedlich und zauberhaft aus.

Mit raschen, sicheren Schritten führte uns der 82 jährige Herr G. durch seinen Besitz, auf dem er nach dem Tode seiner Frau mit der Tochter lebt. Er erzählte lebhaft. Unzählige Gäste wurden hier im Laufe der Jahrzehnte empfangen. Die Bilder an den Wänden, die Gästebücher vermittelten uns ein Stück deutscher Geschichte. Von den Gästebüchern konnte ich mich am Abend kaum loslösen.

Namen von Männern und Namen von Schiffen – Seeoffiziere und Kriegsschiffe meist. Immer wieder blätterte ich die Seiten um. Und aus den Zeilen niedergeschriebener, froher Dankesworte formten sich mir nur allzuoft die Bilder ferner Todesstunden. Die Schreibenden hatten nichts von ihnen geahnt: Falkland Inseln, Cocos Insel, Skagerrak, La-Plata-Mündung, Nordantlantik. Die Namen der Seeschlachten standen nicht in den Gästebüchern – natürlich nicht, sie waren damals noch ungeschehen. Ungeschehen! Wie grauenhaft pathetisch und wie furchtbar falsch ist nach dem Geschehen darüber geredet und geschrieben worden.

Herr St., ein Hamburger Kaufmann, der sich hier zur Ruhe gesetzt hat, lud uns zu einer Inselrundfahrt ein. Sie gab uns einen guten Einblick in das Leben auf der Insel. Der Touristenrummel hat den Madeirenser nur oberflächlich beeinflussen können. Sobald die Dampfer ausgelaufen sind, verschwinden die zur Schau gestellten und deshalb unnatürlich wirkenden »Spezialitäten« und »Besonderheiten«. Sie werden dorthin gebracht, wohin sie gehören, wo sie sich sinnvoll und deshalb charakteristisch entwickelt haben.

Die Volkstrachten sieht man in den Bergen, bei den Frauen bunt bestickte Röcke mit weißen Blusen und farbigen Kopftüchern – bei den Männern weiße Kniehosen und farbig bestickte Hemden. Die Männer tragen wollene Mützen mit hochklappbaren Ohrenschützern, denn die Winde auf den Bergen sind auch im Sommer kalt. Man trägt grobes, sehr festes Schuhzeug, da die facendas – die Bauernhütten – sehr oft weitab von den Straßen liegen und nur in langen Fußmärschen erreicht werden können.

Genau wie sich in dem ausgeklügelten Bewässerungssystem der Insel portugiesische Sorgfalt und Umsichtigkeit zeigen, so auch in den Treppenstraßen. Sie sind mit schwarzen Lavasteinen, groß wie das erste Glied eines Männerdaumens, gepflastert – teilweise in künstlerischen Mustern. Wo die Straße einen Hang hinabführt, wird ihre bis dorthin glatte Oberfläche wellenförmig in Querrichtung. So hat der Fuß des Menschen Halt, der Huf des Tieres findet waagerechte Oberfläche, und die Kufe des Ochsenschlittens wird gebremst. Die kleinen Lavasteine werden am Meeresufer, wo sie von der unaufhörlichen Brandung rund gewaschen wurden, lastwagenweise eingesammelt.

Die Ochsenschlitten, deren hölzerne Kufen in alten Tagen über die Treppenstraßen glitten, beförderten die Erzeugnisse der Bauern nach Funchal. Heutzutage sind diese Gespanne nur noch bei Ankunft der Dampfer zu sehen, um Touristen herumzufahren. Der merkantile Transport geschieht per Lastauto: ihm haben die alten Treppenstraßen zu weichen und machen Asphaltbahnen Platz.

Überall neben den Straßen sahen wir Wasserrinnen, die teilweise aus Naturstein gefügt, teilweise aus Zement geformt waren. Das in den Rinnen talwärts sprudelnde Wasser schafft das »Paradies Madeira«.

Der portugiesische Entdecker Gonçalves Zarco fand 1419 die Insel bewaldet, weshalb er sie Madeira, Holz, nannte. Durch rücksichtsloses Holzschlagen brachte man die Insel fast zum Austrocknen. Im letzten Augenblick besann man sich und schuf ein Bewässerungssystem, das die Fruchtbarkeit der Insel rettete. Das auf den Höhen der Nordberge fallende Regenwasser leitet man in die Rinnen, deren System sich über die ganze Insel ausbreitet und das Wasser den Gärten und Feldern zuführt. Der Transport des Wassers geschieht durch Gefälle, gepumpt wird nirgends. Jeder Landbesitz ist diesem Kunstwerk angeschlossen und erhält seiner Größe entsprechend wöchentlich Wasser. Das fließende Wasser wird vermittels wohldurchdachter, ständig kontrollierter Schaltungsmöglichkeiten gelenkt. Ingenieure steuern Wasserströme, und Gärtner ernten zu jeder Jahreszeit.

Wir werden schweren Herzens von diesem gesegneten Eiland und seinen fleißigen Menschen Abschied nehmen.


Las Palmas de Gran Canaria, im Oktober 1964

Ich sitze im Cockpit und schreibe, Elga ist an Land gerudert, um Einkäufe zu machen. Weiß strahlen die modernen Hochhäuser dieser Stadt am Ufer. Die Sonne glüht und der Himmel ist blau. Daran hat sich seit Madeira nichts geändert – sonst viel.

Die Gruppe der Kanarischen Inseln besteht aus sieben Inseln. Geographisch gehören sie zu Afrika, politisch zu Spanien. Wie Madeira sind sie vulkanischen Ursprungs. Ihre Kegelberge zeugen davon viel deutlicher als die aufgetürmten Lavahänge Madeiras, die in Regenschauern achteraus verschwanden, nachdem Elga »Kairos« unter Maschine aus dem Hafen von Funchal gesteuert hatte.

Das geschah vor einer Woche – und scheint doch eine Unendlichkeit zurückzuliegen. Das Erlebnis der See verschiebt die Grenzen der Zeit.

Der Abschied fiel uns schwer. Die Familie G. hatte uns mit liebevoller Gastfreundschaft bedacht. Lotsen und Bootsleute, Bauern und Geschäftsleute scheuten nie vor jenen Hilfeleistungen zurück, die unseren Aufenthalt so schön machten: wir fühlten uns zu keiner Stunde als Fremde. Der Zahnarzt, der die Trümmer meines ramponierten Obergebisses gegen strahlenden Kunststoff auswechselte, nahm mir in seinem komischen Englisch, über das wir beide stets lachen mußten, das Versprechen ab, nie »seine« neuen Zähne für Segelmanöver zu benutzen. Seine Rechnung – ich hoffe, sie hat wenigstens die Unkosten gedeckt. Als wir aus der Windabdeckung Madeiras liefen, setzten wir die Segel und stellten die Maschine ab. Dünung zog, Wind wehte, Wolken segelten. Der Kurs war Südsüdost, der Wind Nordost Stärke 5. Unendlich langsam sank das Licht des Tages. Rot im Westen stand schließlich ein letzter Abendschimmer über schwarzem Horizont. Die Nacht kam auf. Sterne zogen.

Am Morgen des nächsten Tages nach dem Frühstück – Kaffee, Toast, Butter, Marmelade – prüfte ich das Chronometer anhand des Zeitzeichens der Radiostation WWV, Washington. Den Chronometerstand trug ich ins Logbuch ein. Nachdem ich Elga eine unserer Stoppuhren hinausgereicht hatte, stieg ich an Deck. Mit der linken Hand hielt ich mich fest, mit der rechten balancierte ich den Sextanten, um ihn vor Schaden zu bewahren.

Elga sah dieser akrobatischen Vorführung von der Ruderpinne her sorgenvoll zu.

»Es ist ein Jammer«, sagte ich, »daß wir keinen Flugzeugträger fahren.«

Elgas Gesicht heiterte sich auf.

Die torkelnde Winzigkeit unseres Schiffes verwandelte sich in meinem Geiste zu einem sanft auf- und abschwingenden Deck. »Und dann dieser Platz! Und die Höhe! Stell dir das vor! Die können ja der Sonne auf die Schulter klopfen und nach ihrem Höhenwinkel fragen

»Nein«, sagte Elga. »Das wäre ja Flugnavigation. Bleib der Seefahrt treu, Junge!«

Meine Begeisterung brach ab. Ich suchte nach einem Platz, der möglichst hoch, möglichst trocken, möglichst ruhig einen von den Segeln ungehinderten Blick zur Sonne zuließ. Ich fand keinen. Schließlich setzte ich mich auf das Heck. Dort saß ich tief, fast trocken und überhaupt nicht ruhig.

Ich fixierte die Sonne durch den Sextanten und brachte ihr Spiegelbild auf die Kimm, die immer wieder vom Seegang verdeckt wurde. Nichts stand fest außer der Sonne im Himmel. Ihr Spiegelbild tanzte, das Schiff schlingerte, die Kimm war nur für Sekunden sichtbar. Ich folgte allen Bewegungen, Bruchteile von Sekunden zu spät.

»Achtung!« sagte ich. Das Schiff hob sich, die Kimm wurde sichtbar. Ich korrigierte die Sextanteinstellung – zu spät. Ein Brecher zog vorbei.

Endlich klappte es. »Null!« rief ich. Elga betätigte die Stoppuhr. Ich arbeitete mich in die Kajüte zum Kartentisch zurück, wo ich zunächst den Sextanten vorsichtig in seinen Kasten stellte. Dann las ich das Chronometer ab. »Achtung – stopp!«

»1 Minute und 3 Sekunden«, meldete Elga.

Unter Berücksichtigung dieser zwischen Sonnenmessung und Chronometerablesung abgelaufenen Zeit machte ich die Eintragung meiner Beobachtung ins Logbuch. Für einen Augenblick träumte ich wieder von dem hohen, sanft schwingenden Deck meines Flugzeugträgers, wo mehrere Navigatoren nun ihre abgelesenen Werte vergleichen konnten – meine Messung stand ungeprüft im Logbuch. Ich stieg an Deck und übernahm die Pinne.

Elga wertete die Beobachtung aus, eine logarithmische Rechenarbeit von etwa 20 Minuten Dauer.

Durch die geöffnete Niedergangsluke konnte ich sie dabei heimlich beobachten, während ich laut, falsch und scheinheilig »La Paloma« pfiff. Sie saß gut verkeilt am Tisch, umgeben von den ebenfalls verkeilten Tafeln und Büchern. Nur unser großes, grünes Radiergummi konnte frei liegen und rutschte nicht. Ihr Gesicht war ernst und konzentriert, während sie kleine Zahlen eilig und sauber in das Beobachtungsbuch schrieb.

»So«, sagte sie schließlich, packte die Bücher ins Fach und kam zum Niedergang, an dessen Stufen sie sich festhielt. »Ich bin müde. Gute Wache!«

»Schlaf gut!«

»Brauchst du noch etwas?«

»Danke, nein.«

Mittags weckte ich Elga, die das Ruder übernahm. Ich holte den Sextanten, suchte einen Platz, der sich jetzt auf dem Bug niedrig, feucht und sehr bewegt anbot. Von dort beobachtete ich die Kulmination der Sonne, ihren höchsten Stand im Mittag.

Diese Mittagshöhe wertete Elga zusammen mit dem Ergebnis des Vormittags zum Mittagsbesteck aus. Sie kam anschließend mit der Seekarte an Deck.

»Hier sind wir«, sagte sie und zeigte auf das Bleistiftkreuz. »Wir haben eine Versetzung von 12 Seemeilen nach Südsüdwest. Etmal 121 Seemeilen.«

Ich sah mir die Karte an. »Setz den Kurs gut westlich von den Selvagem Inseln ab. Zu Mitternacht sind wir frei von ihnen. Dann gehen wir auf den direkten Kurs zur Nordspitze von Gran Canaria.«

Elga kletterte zum Kartentisch und sagte nach einigen Minuten: »186° am Kompaß – ab Mitternacht dann 166°. Verstanden?«

Ich wiederholte die Kurszahlen und rief dann: »Hunger!«

 

»Es gibt heute Haferflocken mit Pfirsichkompott«, verkündete Elga gelassen, wobei sie sich festhalten mußte, weil »Kairos« überholte.

Ich schildere das alles so genau, damit man sich unseren Alltag auf See vorstellen kann. Es ist ein Alltag in ständiger Bewegung, ein Alltag, eingegrenzt von der Reling unseres Schiffes, erfüllt von unserer Bordroutine, die Wache um Wache und Arbeit um Arbeit vorschreibt. Unaufhörlich zieht »Kairos« seinen Weg: schäumend teilt sein Bug die See, gurgelnd fließt das überkommende Wasser durch seine Speigatten ab, willig wölben sich seine Segel in den Wind – vorwärts, vorwärts: ziehender Punkt im Ozean.

Am nächsten Tag lösten sich die Konturen der Insel Gran Canaria aus Dunst und Wolken.

Es würde nichts ausmachen, wenn das Ziel noch nicht so nah vor dem Steven liegen würde. Denn so lange Wind weht und Wasser unter seinem Kiel wogt, wird ein Schiff segeln – vorwärts, weiter und weiter. Schiffe brauchen kein Ziel, wie wir Menschen, die sie bedienen. Schiffe sind um des Segelns willen da. Sie tun es ohne Ermüdung, wenn man sie richtig behandelt. Es liegt etwas unsagbar Überzeugendes in ihrer Stärke. Gewiß sind sie wie Auto, Eisenbahn oder Flugzeug Konstruktionen, die der Fortbewegung dienen. Aber ebenso gewiß sind sie mehr als diese. Ihr segelndes Bestehen ist nur gesichert, wenn es in völliger Harmonie mit den Menschen, die sie führen, und mit der Natur geschieht, die sie umgibt. Diese Wechselwirkung scheint Segelschiffen eine Seele einzugeben, scheint sie zu Lebewesen werden zu lassen, die man liebt. In jeder Liebe sucht und findet der Mensch sein Spiegelbild ebenso wie seine Selbstlosigkeit. Und kein Ding auf dieser Erde schenkt dem Menschen sein Spiegelbild so klar und fordert so unbedingt Selbstlosigkeit wie ein Segelschiff.

Eigentlich spreche ich gar nicht von »Schiffen«, sondern von »Kairos«. Wir leben seit unserer Ausreise nun 140 Tage und Nächte auf diesem Schiff, Tage und Nächte, deren größter Teil seiner Wartung und Bedienung galt. Er hat uns sicher und zuverlässig getragen. Nie hatten wir auf ihm, dem winzigen Punkt im Ozean, das Gefühl von Enge und Verlorenheit.

Verlangen diese Tatsachen nicht, daß man sich mit dem »Ding« auseinandersetzt? Plötzlich hat es Seele und ergänzt mit ihr das wundersame Hundeleben, das man führt.

Elga kommt nun mit dem Schlauchboot vom Bootssteg des Real Club Nautico angerudert. Ich helfe ihr, die Einkäufe an Bord zu bringen, nachdem sie das Boot längsseits gebracht hat.

Wir essen kalt zu Mittag. Kochen würde die Temperatur in der Kajüte unerträglich machen. Die warme Mahlzeit bleibt dem Abend vorbehalten.

Anschließend erzählt Elga von ihrem Gang in die Stadt.

»Lebensmittel sind billig. Wir werden alles kaufen können, was für die Atlantiküberquerung notwendig ist. Nur die Werften – sie sind irrsinnig teuer, und sie lassen nicht mit sich handeln.«

Wir sitzen einen Augenblick schweigsam und denken an die zahllosen Arbeiten, die am Schiff getan werden müssen, um es für die 2700 Seemeilen über den Atlantik klar zu machen. Es muß geslipt werden, damit wir den Bewuchs am Unterwasserschiff entfernen können. Je wärmer das Wasser, desto schneller und üppiger wachsen Gras und Muscheln am Kiel.

»Was wollen wir machen?« fragt Elga. »Uns trockenfallen lassen während der Ebbe?« Sie zeigt zum Strand neben dem Clubgebäude.

»Nein«, sage ich, »zu viele Steine. Außerdem kommen wir danr. nicht an die Unterseiten von Kiel und Ruder. Das Ruder muß geprüft werden, gründlich. Da war ein Geräusch, das ich weder erklären noch orten konnte, als wir hierhersegelten. Außerdem, wenn hier eine Dünung aus Süd einsetzt, haben wir auf dem Strand Ärger.«

Elga sieht mich an. »Die wollen 3000 Pesetas haben, das ist eine Menge Geld.«

»Gewiß. Aber ›Kairos‹ ist unsere einzige Lebensmöglichkeit auf See. Er muß absolut zuverlässig sein.«

Elga nickt ein wenig verzweifelt. »Ob wir den Preis noch ’runterhandeln können? Ich glaub’ es nicht!«

In der Frage nach einer Slipmöglichkeit kamen uns die Bootsleute des Clubs zu Hilfe. Elga unterhielt sich oft mit ihnen, und sie waren bereit, so glaube ich, sich für die Señora aus dem Norden vierteilen zu lassen. Die armen Kerle wurden nicht sehr freundlich von den speedboatfahrenden Söhnen reicher Clubmitglieder behandelt. Sie verdienten etwa DM 5,- am Tag. Damit kann selbst auf den Kanarischen Inseln niemand ein sorgenfreies Leben führen.

Elga brachte eines Tages den Vorschlag der Bootsleute. »Sie haben einen Slipwagen, der ihnen geeignet erscheint. Sie haben den Besitzer dieses Wagens um Erlaubnis gefragt und sie erhalten, da er sich einen neuen bauen läßt. Der Wagen wurde bisher für ein Motorboot von 3 Tonnen benutzt. Sie wollen 500 Pesetas für die Arbeit haben.«

Wir sahen uns am nächsten Tage den Wagen, den Slip und alle Einzelheiten an. Der Wagen schien ein wenig schwach – »Kairos« wiegt 5 Tonnen. Alle anderen Dinge waren in Ordnung.

Immer wieder vermaß ich den Wagen. Die vier Bootsleute erklärten mit leuchtenden Augen – ich weiß nicht was, sicherlich, daß die »Queen Mary« hier aufgedockt werden könnte.

»Männer«, sagte ich schließlich und sie verstummten, »Männer der See – eh, mariñeros! Trägt dieser Wagen 5 Tonnen?«

Sie starrten mich fassungslos an.

Ich versuchte es auf spanisch: »Cinco, eh – also, cinco toneladas? Dieser Wagen, eh, also – este para cinco toneladas?«

»Si, si, si, señor!« sagten sie beschwörend und erklärten alles ganz genau. Ich verstand nicht einmal die Hälfte. Elga stand stumm, wohl in Bewunderung meiner so plötzlich zutage tretenden Sprachkenntnisse.

Ich zweifelte nicht an den Fähigkeiten der Bootsleute. Die Frage lag in der Beurteilung des Wagens, und in dieser Hinsicht mißtraute ich den Spaniern. Wir gingen alle noch ein paar Mal um den Wagen herum. Aber dadurch wurde er auch nicht größer und stabiler.

»Oha, oha!« sagte ich zu Elga. »Was sagst du?«

Sie schwieg.

»Morgen bei Hochwasser.«

»Mañana con la marea alta«, wiederholte Elga meine Entscheidung.

Die Bootsleute jubelten.

Mir war zumute, als hätte ich einen Exekutionsbefehl gegeben.

Ächzend, schwankend, auf quietschenden Rädern brachte der Wagen »Kairos« aus dem Wasser. Mit den Drahtseilen der handbetriebenen Winsch zogen wir ihn bis zur Hochwasserlinie. Dann fand keiner mehr den Mut, diese Maus unter einem Elefanten weiterzubewegen. Das Schiff wurde mit bereitgelegten Pallhölzern von den Bootsleuten abgestützt, während ich sofort begann, das stark bewachsene Unterwasserschiff zu reinigen. Damit fing es an.

Und Tag für Tag ging es mit den Arbeiten weiter. Farbekratzen, Spülen mit Süßwasser eimerweise, da der Schlauch nicht lang genug war, Schleifen mit Sandpapier, Spachteln, Vorstreichen mit Grundfarbe, Streichen mit Unterwasserfarbe. Wiederholung dieser Arbeiten in ähnlicher Weise an den Bordwänden, Streichen mit Lackfarbe.

Der Schweiß rann in Strömen bei 28° im Schatten. Blasen platzten auf. Bei Hochwasser arbeitete ich bis zu den Knien im Wasser, bei Niedrigwasser lag ich auf dem Rücken und malte am Kiel. Abends nach schweigsamer Mahlzeit an einem schiefen Tisch – die Schiffslänge lag parallel zur schiefen Ebene des Slips – fiel ich in eine schiefe Koje, aus der ich mich morgens mit immer noch schmerzendem Rücken erhob.

Elga erging es nicht besser. Sie machte kleine Malarbeiten. Hauptsächlich jedoch fertigte sie endlose Meter von Schamfielings an: auf Band gezogene Kardeelenden, die um Wanten und stehendes Gut gewickelt werden, wo Segel scheuern und sich dadurch beschädigen können. Die Arbeit mit dem widerspenstigen Tauwerk verursachte auch bei ihr schmerzendes Aufplatzen von Blasen. Ihrem Rücken erging es nicht besser als meinem.

Bald fühlten wir uns erschöpft und deprimiert. Wozu das alles? Für 2700 Seemeilen leeres Meer, für Einsamkeit und Kräfteverschleiß, für Müdigkeit und Ungewißheit.