Festa mortale

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»Ohne die Karten? Das kann ich mir nicht vorstellen. Und mit welchem Verkehrsmittel? Sein Auto steht ja hier in Unna«, erklärte Teubner. »Frau Winkler hat außerdem einen besorgten Eindruck gemacht, als ich sie befragt habe. Ich glaube nicht, dass Herr Sobek sich ohne ihr Wissen auf die Reise machen würde. Und er müsste doch Kleidung und Waschzeug mitgenommen haben. Ist Frau Winkler aufgefallen, dass etwas fehlt?«

Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie behauptet, Reisetaschen und Koffer seien komplett. Außerdem hätte Torben hier im Haus nur für den Notfall eine Hose zum Wechseln. Die sei noch vorhanden. Wenn er zum Übernachten herkomme, bringe er immer Sachen mit.«

»Haben Sie eigentlich zwei oder drei Karten für das Disneyland gefunden?«

»Drei Eintrittskarten und eine Buchung für zwei Übernachtungen im Familienzimmer eines der angegliederten Hotels.«

»Da dürfte doch klar sein, dass Birte Winkler mitfahren sollte«, befand Teubner.

Lina von Haunhorst strich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus der Hochsteckfrisur gelöst hatte. »Sie behauptet, sie wisse nichts von den Karten. Möglicherweise habe ihr Lebensgefährte eine Überraschung geplant.«

»Aber wo ist er dann jetzt mit dem Jungen?«, rätselte Teubner. »Wir sollten in jedem Fall seine Kanzlei durchsuchen. Vielleicht finden sich dort Anhaltspunkte, wo er sich aufhalten könnte.«

Die Staatsanwältin nickte. »Die richterliche Anordnung gilt für Sobeks Privat- und Geschäftsräume. Seine Sekretärin hat einen Schlüssel und weiß bereits Bescheid. Sie befindet sich mit ihrer Familie zu einem Kurztrip am Möhnesee, wird sich aber gleich auf den Weg machen. Wir treffen sie in einer Stunde direkt vor der Kanzlei.«

4. Kapitel

Es war stockdunkel, als er die Augen aufschlug. Was ihn geweckt hatte, wusste er nicht. Thomas Sobek richtete den Oberkörper auf, dann schwang er die Beine von der Chaiselongue und stand mühsam auf. Hinter seiner Stirn hämmerte leichter Kopfschmerz. Er tastete sich durch den Raum zur Wand, fühlte endlich den Lichtschalter und betätigte ihn. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle Licht. Ein Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn zusammenzucken. Es war fast elf Uhr! Sofort eilte Sobek zu seinem Schreibtisch und griff nach seinem Smartphone. Es schaltete es ein und wartete geduldig, bis das System hochgefahren war, dann blickte er aufs Display. Birte hatte versucht, ihn zu erreichen. Zum letzten Mal vor etwa fünf Minuten und da bereits zum 10. Mal. Torben zweimal und seine Ex Alessia gleich 15 Mal. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in ihm aus. Wenigstens Birte hätte er Bescheid geben müssen, dass er in der Kanzlei übernachtet hatte. Aber nachdem er sich in der Nacht endlich von den Akten losgerissen hatte, war es weit nach Mitternacht gewesen. Er hatte sich am Abend eine Pizza geholt, dazu eine Flasche Rotwein, die er während der intensiven Arbeit komplett geleert hatte. So konnte er natürlich nicht mehr Auto fahren. Er war so schrecklich müde gewesen, hatte nur kurz auf der Chaiselongue die Augen zumachen wollen.

Sobek seufzte und betätigte die Fernbedienung für die elektrischen Jalousien. Die großen Fenster, die hinten zum alten Westfriedhof zeigten, ließen wegen der hohen Bäume nur gedämpftes Tageslicht ein. Dann trat er an den Sicherungskasten und schaltete den Strom für Klingel- als auch für die Telefonanlage wieder ein. Schon traurig, dass er sich nur so vor Leuten wie dem Mandanten Büchner abschirmen konnte, die immer wieder an seiner Tür schellten oder ihn mit Anrufen belästigten. Sofort meldete sich der Anrufbeantworter. Er löschte das Lampenlicht und setzte sich an den Schreibtisch. Die eingegangenen Nachrichten würde er später abhören.

Sein Blick fiel auf den Fall Büchner, den er gestern zuletzt bearbeitet hatte. Der Mann nervte ihn. Sobek sah ihn vor sich, den Glatzkopf mit dem verkniffenen Gesichtsausdruck. Wie er stets seine schwarzgeränderte Brille mit dem Zeigefinger bis zur Nasenwurzel hochschob und immer an seiner bescheuerten Cap herumzupfte. Wie er lässig die Beine übereinanderschlug und mit den abgewetzten Sneakers lautlos auf den Boden tippte. Büchner wollte unbedingt in Berufung gehen. Dabei konnte der Kerl froh sein, dass er mit einer Bewährungsstrafe davongekommen war. Stattdessen beschimpfte er ihn, ließ keine Ruhe. Dieser Choleriker!

Thomas Sobek klappte den Ordner zu und griff nach seinem Smartphone. Er wählte aus den Kontakten Birtes Nummer, konnte sie jedoch nicht erreichen, so sprach er ihr auf die Mailbox und entschuldigte sich, dass er sich am Abend nicht mehr gemeldet hatte. »Ich komme so schnell wie möglich nach Hause. Es tut mir leid, Birte. Aber ich mache es wieder gut«, schloss er. »Am Wochenende wartet eine Überraschung auf dich.«

Er lächelte und blickte einen Moment auf ihr Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. Sie hatte ein so offenes Lächeln. Ihre dunkelbraunen Augen strahlten Wärme und Liebe aus. Er empfand für sie weit mehr, als er je für seine Ex-Frau Alessia empfunden hatte. Eigentlich hatte er die Italienerin damals nur geheiratet, weil sie von ihm schwanger war. Da war sie 25 und er knapp über 30 Jahre alt gewesen. Dann verlor Alessia das Baby im achten Monat, das hatte den ersten Knacks in ihrer Beziehung ausgelöst. Sie setzte sich damals total unter Druck, wollte unbedingt erneut schwanger werden. Das hatte ihn abgestoßen. Egal, wie aufreizend sie sich anzog. Einmal war sie noch schwanger geworden, aber auch da …

Sein Handy bimmelte. Vermutlich rief Birte zurück. Er griff nach seinem Smartphone, das jedoch eine ihm unbekannte Nummer anzeigte. »Ja, bitte?«

»Sind Sie in Ihrer Kanzlei?«, fragte eine männliche Stimme.

»Wer spricht denn da?«, erwiderte Sobek. Einen Termin hatte er für heute nicht eingeplant, obwohl er lukrative Mandanten schon mal an Sonn- und Feiertagen empfing.

»Befinden Sie sich in Ihrer Kanzlei?«

»Jetzt sagen Sie, was Sie von mir wollen!«, mahnte Sobek.

Keine Reaktion. Thomas Sobek beendete das Gespräch und stand auf. Er würde sich kurz frischmachen und dann nach Hause fahren. Er freute sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Birte. Mit Rührei, Speck und Schnittlauch, selbst aufgebackenen Brötchen und Kaffee aufgebrüht mit frisch gemahlenen Bohnen. Er wollte den Feiertag heute genießen, am Abend vielleicht übers italienische Fest schlendern, dabei das Ambiente genießen und morgen gegen Mittag würde er sich mit Birte und Torben auf den Weg nach Paris machen. Diese Unternehmung hatte seine Ex-Frau allerdings noch nicht abgesegnet.

Sobek krempelte die Ärmel seines weißen Oberhemdes hoch und betrat den kleinen Waschraum vor der Toilette für Mitarbeiter und Mandanten. Mit kaltem Wasser wusch er das Gesicht und tupfte es mit Papiertüchern trocken. Mit einem Blick in den Spiegel sah er seine vom Schlaf geröteten Augen. Die leichten Tränensäcke darunter fielen ihm heute zum ersten Mal auf, dabei fühlte er sich mit 45 Jahren noch jung wie ein Endzwanziger. Sobek zupfte den Windsor-Knoten seiner fliederfarbenen Krawatte zurecht, rollte die Hemdsärmel hinunter und verschloss die goldenen Manschettenknöpfe. Dann verließ er den Waschraum. Im selben Moment hörte er sein Smartphone brummen, das immer noch auf dem Schreibtisch lag. Er hetzte drei Schritte vor und nahm das Gespräch entgegen.

»Endlich erreiche ich dich! Thomas! Warum bist du nicht längst zu Hause? Hier war heute Morgen die Hölle los, ich bin mit den Nerven völlig am Ende.« Birtes Stimme klang wehleidig.

»Entschuldige, Schatz. Ich bin im Büro auf der Chaiselongue eingeschlafen und eben erst aufgewacht. Ich habe da einige Fälle, die ich dringend bearbeiten wollte. Außerdem ist da ein Mandant, der mich nervt, weil er unbedingt in die Berufung gehen will. Ich habe geprüft, ob …«

»Das ist mir jetzt völlig egal, Thomas«, schluchzte Birte. »Du musst sofort nach Hause kommen. Oder nein. Du solltest besser in der Kanzlei bleiben. Die Polizei war hier und hat das Haus durchsucht. Als Nächstes wollen sie sich dein Büro vornehmen.«

Thomas Sobek meinte, sich verhört zu haben. »Wie, mein Haus durchsucht? Warum? Hatten sie eine richterliche Anordnung?« Er hörte Birte weinen, hätte sie gerne in den Arm genommen und getröstet.

»Torben ist verschwunden! Man hat ihn das letzte Mal gestern Abend auf dem italienischen Fest gesehen. Und jetzt glaubt die Polizei, du hättest ihn entführt. Alessia muss es wohl am ehesten dir zutrauen.«

Sobek setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Sein Herz begann fest gegen seine Brust zu wummern. »Was genau ist passiert?«, presste er hervor, kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Alessia ist mit Torben auf dem italienischen Fest gewesen und dort mit ihm Riesenrad gefahren. Von oben hat er wohl geglaubt, dich zu sehen, und ist nach der Fahrt einfach losgerannt. Sie hat ihn danach nicht mehr gesehen. Warst du auf dem italienischen Fest?«

Klang da so etwas wie Zweifel in Birtes Worten? Traute sie ihm etwa eine Entführung zu? »Ich habe gearbeitet«, sagte Sobek schroffer als beabsichtigt. »Ich habe die Kanzlei nur einmal verlassen, um mir eine Pizza zu holen. Da die Fußgängerzone aus den Nähten platzte, bin ich außen herum zum Rathausplatz gegangen. Wollte mir eigentlich bei Riccardo etwas zu essen holen, aber auch sein Stand war brechend voll. Da bin ich aufs Rathausrestaurant ausgewichen.«

»Also könnte Torben dich tatsächlich gesehen haben.«

»Möglich. Das Riesenrad steht ja vor dem Rathaus. Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Warum hat Alessia nicht aufgepasst? Ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Ich glaube, es ist besser, du bleibst im Büro. Die Polizei will deine Kanzlei durchsuchen. Du kannst ihnen sicher klarmachen, dass du nichts mit Torbens Verschwinden zu tun hast.«

 

»Natürlich. Hoffentlich kann ich helfen, ihn wiederzufinden.«

Ein anderes Gespräch kündigte sich durch Klopfen an. »Ich muss schlussmachen Birte, ich melde mich gleich noch mal bei dir. Küsschen«, verabschiedete er sich. »Alessia«, begrüßte er dann seine Ex.

»Was hast du mit Torben gemacht«, keifte diese ihn sofort an. »Wo ist er? Bring ihn sofort her! Sonst bringe ich dich um!«

Sobek atmete tief. »Torben ist nicht bei mir. Ich habe die Nacht in der Kanzlei verbracht, weil ich dingend etwas aufarbeiten musste. Ich habe gerade erst von Birte …«

»Spar dir deine verdammten Ausreden, du Mistkerl! Du wirst mir jetzt sofort sagen, wo Torben ist. Die Polizei ist bereits auf dem Weg zu dir. Also lass die Spielchen! Mein Vater wird all seine Kontakte nutzen. Du weißt, was ich meine. Wo ist Torben?«

Thomas Sobek verdrehte die Augen. Immer diese Anspielungen auf die Mafia. Als wenn jeder Italiener mal eben so einen Mafioso aus dem Ärmel ziehen könnte, um Druck auszuüben. Sein ehemaliger Schwiegervater Riccardo, mit dem er sich immer noch ausnehmend gut verstand, hatte ihm zudem versichert, dass er über keinerlei solche Kontakte verfügte und froh darüber war. »Mach dich nicht lächerlich, Alessia!«, sagte er daher. »Ich weiß nicht, wo Torben ist!«

»Er hat dich gesehen!«, schrie seine Ex-Frau.

Sobek stand auf, trat an die große Fensterfront seines Büros und blickte auf den Westfriedhof. Alte verwitterte Grabsteine unter hohen Bäumen. Viel Grün. Dieser Ausblick hatte ihn schon immer beruhigt. »Das kann sogar möglich sein. Ich wollte mir gestern Abend am Stand deiner Eltern eine Pizza holen. Es war mir aber zu voll, da bin ich ins Rathausrestaurant gegangen.«

»Du lügst! Du hast Torben mitgenommen! Erst gestern hast du mir gesagt, du willst ihn zurückholen.« Sie weinte.

»Alessia«, erklärte Sobek in versöhnlichem Ton. »Ich war wütend, weil du immer so ein Fass aufmachst, wenn ich etwas mit Torben unternehmen will. Du weißt genau, wie sehr er sich einen Besuch im Disneyland wünscht. Warum freust du dich nicht einfach für ihn? Ganz davon ab: Natürlich bleibt Torben bei dir. Birte und ich werden vielleicht ein eigenes Kind adoptieren. Ein Baby. Aber das hat noch Zeit. Birte ist ja noch jung und erst einmal müssen wir heiraten.«

Einen Moment lang blieb seine Ex-Frau stumm. Sie schien die Neuigkeiten erst verarbeiten zu müssen. Sie wusste, dass Birte keine eigenen Kinder bekommen konnte. Da lag die Möglichkeit einer Adoption doch auf der Hand.

»Er hat dich gesehen«, wiederholte sie leise.

»Das glaube ich dir ja, Alessia. Aber Torben ist nicht bei mir. Wir sollten jetzt gemeinsam überlegen, wo er sich aufhalten könnte. Er läuft doch nicht so einfach weg.« Sobek drehte sich vom Fenster weg und lief unruhig in seinem Büro auf und ab. Hätte er doch sein Smartphone nicht ausgeschaltet und wenigstens die Anrufe von Torben angenommen.

Seine Ex schluchzte. »Ich habe alle Freunde, Bekannte und Verwandte angerufen. Da ist er nicht. Wenn er nicht bei dir ist, muss er entführt worden sein.«

»Alessia, ich …« Es klingelte. »Entschuldige, ich glaube, die Polizei ist da. Ich melde mich später zurück.«

Sobek eilte in den Vorraum der Kanzlei, wo sich am Platz seiner Sekretärin der elektrische Türöffner mit Bildschirm befand. Sein Büro befand sich im Obergeschoss, das Erdgeschoss nutzte ein befreundeter Notar. Man hatte sich geeinigt, das Haus mit Kameras zu sichern. Der gesamte Eingangsbereich wurde erfasst, damit sich keine ungebetenen Gäste Zugang zum Haus verschaffen konnten. Sobek stutzte nun, als er auf den Bildschirm schaute. Da stand Torben vor der Tür. Er wirkte eingeschüchtert, nicht so aufgeweckt wie sonst. War er von zu Hause weggelaufen? Hatte es Streit mit Alessia oder den Großeltern gegeben, die mit im selben Haus lebten? Hatte er vielleicht sogar mitbekommen, dass seine Mutter ihm den Besuch ins Disneyland verbieten wollte? Warum war er dann nicht sofort zu ihm gekommen? Wo hatte er die Nacht verbracht?

Sobek betätigte den Türöffner und ging sofort zur Etagentür, um sie aufzuschließen. Er hörte Schritte im Treppenhaus, konnte kaum erwarten, seinen Sohn in die Arme zu schließen. Die Erleichterung darüber, dass es ihm gutging, war grenzenlos. Endlich nahm Torben die letzte Treppenbiegung und kam verhalten auf ihn zu. Er wirkte blass, als sei er gesundheitlich angeschlagen oder habe in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Erst jetzt bemerkte Thomas Sobek, dass Torben nicht allein kam. Seine Begleitung trug Sneakers, die kaum einen Laut verursachten. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass man das Gesicht nicht erkennen konnte. Den Anwalt beschlich ein mulmiges Gefühl, eine düstere Vorahnung, dass die Person nichts Gutes im Schilde führte.

5. Kapitel

Das Gebäude in der Massener Straße, in dem sich die Kanzlei von Thomas Sobek befand, wirkte auf Maike Graf wie ein überdimensionaler Würfel aus Sandstein und Glas. Die hoch am Himmel stehende Sonne reflektierte ihre Strahlen in den Glasflächen und ließ Maike blinzeln. Dennoch konnte sie sehen, dass sämtliche Fenster von innen mit Jalousien verdunkelt waren. Maike las auf der Tafel, die als Wegweiser auf dem Bürgersteig stand, dass sich das Büro des Anwalts im ersten Stock befand. Mit Blick auf ihre Armbanduhr erkannte sie, dass sie viel zu früh angekommen war. Die Info von Sören Reinders, sie solle bei der Durchsuchung der Büroräume zugegen sein, hatte sie noch in ihrer Eigentumswohnung erreicht. Eigentlich war heute ihr freier Tag, aber beim Verschwinden eines Jungen war jeder Mitarbeiter gefragt. Kurz nach dem Anruf von Reinders hatte Alessia Sobek sie angerufen und ihr mitgeteilt, ihr Mann Thomas habe sie angerufen. Er habe in der Kanzlei übernachtet, wo er sich immer noch befinde, Torben sei nicht bei ihm gewesen. Mit etwas Glück hielt Thomas Sobek sich auch jetzt noch in seiner Kanzlei auf.

Maike beobachtete nun im Schatten eines Baumes vor dem Gebäude zahlreiche Passanten, die bereits jetzt zur frühen Mittagszeit in die Innenstadt strömten, um die kulinarischen und kunsthandwerklichen Stände des italienischen Festes zu besuchen. Am nahen Verkehrsring rauschten heute deutlich weniger Autos vorbei, als es an Werktagen üblich war. Ein silbergrauer Porsche-Cayenne mit Dortmunder Kennzeichen bog vom Ring ab und kam auf sie zu. Maike erkannte Staatsanwältin Lina von Haunhorst am Steuer. Sie fuhr langsam an ihr vorbei, offensichtlich konzentriert nach einem Parkplatz suchend.

»Was macht die denn hier?«, murmelte Maike, da sie die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft nur bei Einsätzen im Bereich der organisierten Kriminalität kannte. Und darum ging es in diesem Fall wohl nicht. Maike fühlte sich etwas unwohl, als sie sich vorstellte, gleich allein mit der Staatsanwältin auf den Rest des Teams warten zu müssen. Sie hatte in der Vergangenheit gelegentlich mit ihr zu tun gehabt und sie als arrogant und egozentrisch empfunden. Von Haunhorst parkte ihren Wagen nun neben der Kanzlei an der Hauswand, stieg aus und kam auf Maike zu.

»Guten Morgen … oder besser guten Tag. Da ich schon in Unna bin, möchte ich mir kurz einen eigenen Eindruck verschaffen. Sind Sie die Vorhut? Wo bleiben Ihre Unnaer Kollegen? Oder heißt es Unneraner Kollegen? Ist die Sekretärin von Herrn Sobek wenigstens schon mit dem Schlüssel da?«, begann sie hektisch.

Maike hatte keine Ahnung, wie die Bevölkerung von Unna sich korrekt bezeichnete. Im Sprachgebrauch fand man sowohl Unnaer als auch Unneraner. Deshalb ging sie nur auf die letzte Frage der Staatsanwältin ein. »Guten Tag, Frau von Haunhorst. Nein, Frau Brandt ist noch nicht eingetroffen. Aber Alessia Sobek informierte mich darüber, dass sich ihr Ex-Mann in seiner Kanzlei aufhalten soll, angeblich allein. Wir könnten also einfach klingeln.«

Lina von Haunhorst blickte die Hausfassade des Bürogebäudes hoch, als ob sie nachschauen wollte, ob Sobek tatsächlich in seinem Büro war. »Das halte ich für keine gute Idee. Sollte Thomas Sobek seinen Sohn doch bei sich haben, wird es besser sein, wir kündigen uns nicht durch vorzeitiges Klingeln an. Er könnte sich bedrängt fühlen und zu einer Dummheit hinreißen lassen. Warten wir auf Frau Brandt.«

Maike nickte und beobachtete die Staatsanwältin, wie sie eine Spange aus ihrem Haar löste, es neu zusammenraffte und wieder hochsteckte. Dann schob sie ihre große Sonnenbrille ins Haar und blickte auf ihre Armbanduhr.

»Die Kollegen müssten längst hier sein!«

Im selben Moment näherte sich mit rasantem Tempo ein cremefarbiger Opel Adam mit schwarzem Dach. Die Fahrerin bog rasant in eine Einfahrt neben der Kanzlei und kam Augenblicke später mit großen Schritten auf sie zu. Maike schätzte die korpulente Frau auf Mitte 50. Sie trug ein weit fallendes buntbedrucktes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, dazu eine weiße Strickjacke, offene Sandalen und einen breitkrempigen Strohhut, unter dem eine rotbraune Lockenpracht hervorquoll. Man sah deutlich, dass sie ihren Campingurlaub eilig unterbrochen hatte.

»Sabine Brandt, die Sekretärin von Herrn Sobek«, stellte sie sich vor und reichte Maike und der Staatsanwältin die Hand. »Entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich fahre ungern auf der Autobahn. Über Land hat es deutlich länger gedauert. Kommen Sie, ich schließe Ihnen auf.« Sie eilte mit einem Schlüsselbund in der Hand auf den gläsernen Eingang zu und öffnete die Tür. Maike Graf und Lina von Haunhorst folgten ihr über weiße Marmorstufen ins Obergeschoss, wo sie nach dem richtigen Schlüssel suchte.

»Einen Moment, bitte«, mahnte die Staatsanwältin und betätigte nun doch die Klingel. Gleichzeitig legte sie den Zeigefinger an den Mund und lauschte an der Tür. »Nichts«, sagte sie zu Maike. »Entweder hat Herr Sobek seine Frau angelogen oder er hat die Kanzlei bereits wieder verlassen. Wann hat er mit seiner Ex-Frau gesprochen?«

»Vor über einer Stunde«, erwiderte Maike.

»Na, dann schließen Sie mal auf, Frau Brandt!«

Sobeks Sekretärin steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete. »Komisch«, murmelte sie dabei. »Sonst schließt er immer zweimal ab. Jetzt war die Tür nur zugezogen.«

Sie traten in ein mit schwarzem Marmor gefliestes Foyer, das dominiert wurde von einem halbovalen Tresen, verkleidet mit Aluminium, obenauf eine helle Marmorplatte. Dahinter waren ein Computerbildschirm und eine Telefonanlage zu sehen. Sabine Brandt betätigte einen Schalter, der die Jalousien in die Höhe beförderte und das Tageslicht durch eine große Fensterfront einließ. Vom Foyer gingen drei Türen ab. Laut der Sekretärin führte eine zur Toilette, eine in den Konferenzraum und eine in Thomas Sobeks Büro.

»Wofür benötigt Herr Sobek einen Konferenzraum?«, fragte Lina von Haunhorst, als sie einen Blick in das Zimmer warf, in dem ein großer Tisch mit zehn schweren Lederstühlen rundherum stand. »Sind hier noch weitere Mitarbeiter beschäftigt? Andere Anwälte, eine weitere Sekretärin?«

»Nein. Ich bin die einzige Angestellte. Mein Chef arbeitet aber manchmal mit anderen Anwälten zusammen. Dann nutzt er den Raum. Oder wenn er es mit einer größeren Mandantschaft zu tun hat, zum Beispiel Firmenvertreter von großen Wirtschaftsunternehmen. Früher hat er nur Fälle im Strafrecht angenommen. Damit war er sehr erfolgreich. Dann hat er sich auf internationales Wirtschaftsrecht spezialisiert und bei der Rechtsanwaltskammer eine Prüfung abgelegt. Er darf sich nun Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht nennen, nimmt aber ab und zu auch andere Fälle an«, erklärte Sabine Brandt und Stolz klang aus ihrer Stimme.

Maike betrat den Konferenzraum und sah sich um. Auch hier waren die Fenster verdunkelt, so betätigte sie den Lichtschalter. Außer dem großen Tisch gab es noch ein Sideboard, in dem sich eine kleine Bar mit alkoholfreien Getränken befand. Nichts deutete auf die Anwesenheit eines Jungen. Maike löschte das Licht und kehrte ins Foyer zurück. »Dann müssten Sie uns bitte die Tür zu Herrn Sobeks Büro öffnen«, sagte sie. Sie hatte den Raum bereits betreten wollen, als Lina von Haunhorst sich für den Konferenzraum interessierte, hatte die Tür aber verschlossen vorgefunden.

Sabine Brandt drehte am Türknauf und stutzte. »Nanu«, sagte sie erstaunt und klopfte laut an die Tür. »Herr Sobek?«, rief sie und wandte sich, als keine Antwort kam, an die Staatsanwältin. »Er schließt sich manchmal ein, wenn er absolut ungestört sein will.«

Lina von Haunhorst trat vor und klopfte fest gegen das Holz. »Herr Sobek? Öffnen Sie bitte die Tür!«

 

Die drei Frauen lauschten, doch es folgte keine Reaktion. Die Staatsanwältin klopfte erneut, diesmal noch etwas lauter. »Nun machen Sie schon die Tür auf! Das bringt doch nichts.« Sie rüttelte am Knauf, als würde sich die verschlossene Tür dadurch öffnen.

Im selben Moment erklang ein Gong. Sabine Brandt lief hinter den Tresen und schaute auf einen kleinen Bildschirm. »Ihre Kollegen sind da«, erklärte sie und betätigte den elektrischen Türöffner.

Maike hörte durch die weit offen stehende Etagentür der Kanzlei Stimmengemurmel und schwere Schritte, die sich näherten. Kurz darauf traten die Kollegen Teubner, Reinders und Schmidtke ein.

»Haben Sie einen Schlüssel für die Bürotür?«, fragte Lina von Haunhorst die Sekretärin, nachdem sie einen schnellen Gruß an die Polizisten gerichtet hatte.

Sabine Brandt hob die Schultern. »Das weiß ich gar nicht genau. Ich werde es ausprobieren müssen.« Sie hob fragend den Blick, als wolle sie nichts falsch machen.

»Tun Sie das. Aber bitte beeilen Sie sich. Gibt es vom Büro her eine Fluchtmöglichkeit? Eine weitere Tür? Oder Fenster?«

Sabine Brandt klimperte mit dem Schlüsselbund und startete bereits den ersten Versuch. Ihre Finger zitterten leicht. »Ja, eine Tür führt auf einen rückwärtigen Balkon.« Beim fünften Versuch hatte sie endlich Glück. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Sie wollte die Tür aufschieben, wurde von der Staatsanwältin zurückgehalten.

»Das überlassen Sie mal den Kollegen. Treten Sie bitte beiseite.« Lina von Haunhorst nickte Teubner zu, während die Sekretärin sich hinter ihrem Tresen verschanzte und damit begann, nervös an ihren Fingernägeln zu kauen.

Teubner zog seine Dienstwaffe aus dem Holster, dann klopfte er laut an die Tür. »Ich komme jetzt zu Ihnen ins Büro, Herr Sobek. Seien Sie vernünftig und nehmen Sie die Hände hoch. Haben Sie verstanden?«

Aus dem Büro war kein Laut zu hören. Teubner öffnete die Tür. Maike sah das Zimmer im Dunklen liegen. Sämtliche Jalousien mussten heruntergelassen sein. Teubner betätigte den Lichtschalter. Dann ging er langsam zwei Schritte vor, da rechts an der Wand neben dem Eingang ein Schrank stand, der ihm die Sicht versperrte.

»Scheiße«, schrie er plötzlich. Er steckte die Waffe zurück ins Holster und verschwand aus dem Blickfeld von Maike. »Wir haben hier einen Tatort«, rief er dann. »Jemand muss sich um den Jungen kümmern. Er liegt vom Eingang links auf einer Chaiselongue.«

Sören Reinders und Maike betraten das Büro, hielten sich dabei an der Wand, um möglichst wenige Spuren zu zerstören. Was Maike dann sah, raubte ihr für einen Moment den Atem. Teubner beugte sich gerade seitlich über den Schreibtisch am anderen Ende des Raums, hinter dem Thomas Sobek auf seinem Schreibtischstuhl saß. Sein Oberkörper lag auf der Tischplatte, Blut breitete sich darunter aus. Eine weiße Schreibtischunterlage, die als großes Notizblatt genutzt werden konnte, hatte sich rot verfärbt. Teubner zog Handschuhe an und tastete am Hals nach dem Puls, dann drehte er vorsichtig den Kopf Sobeks und man erkannte deutlich ein Einschussloch an der Stirn.

Lina von Haunhorst, die nur zwei Schritte in den Raum getreten war, um sich ein Bild zu machen, wies sofort Polizeihauptkommissar Schmidtke an, einen Rettungswagen und die Kriminalhauptstelle in Dortmund zu informieren. »Der Kollege Hübner leitet die Ermittlungskommission um den verschwundenen Torben, da ein offensichtlicher Zusammenhang besteht, ist er auch für den Mord an dessen Vater zuständig. Hoffentlich kann ich Hübner erreichen.« Sie wandte sich von der Bürotür ab und ging auf Sabine Brandt zu, die fragend über ihren Tresen blickte. »Es tut mir sehr leid. Ihr Chef wurde erschossen. Sie sollten sich noch eine Weile zur Verfügung halten. Außerdem benötigen wir gleich eine Speichelprobe von Ihnen und Ihre Fingerabdrücke als Vergleichsmaterial. Ist das möglich?«

Maike hörte die Antwort der Sekretärin nicht mehr. Ihr Blick war auf die Chaiselongue gerichtet, auf der ein Junge lag. Man hatte ihm die Augen verbunden und die Hände mit einem Seil gefesselt. Reinders kniete neben ihm und tastete nach seinem Puls. Maike ging neben Reinders in die Hocke.

»Und?«, fragte sie kaum hörbar.

»Er ist ohne Bewusstsein«, erklärte ihr Kollege. »Und sein Puls ist schwach. Wir sollten ihn in die stabile Seitenlage bringen.«

»Der Notarzt ist unterwegs«, sagte sie knapp und half Reinders, den Jungen auf die Seite zu drehen, danach begann sie sofort, ihm die Fesseln zu lösen und die Binde von seinen Augen zu entfernen. Es handelte sich eindeutig um Torben Sobek. Sie schaute sicherheitshalber noch mal auf das Foto, das Polizeihauptkommissar Schmidtke gestern an sie weitergeleitet hatte. Dunkelbraune kurze Haare mit fransigem Pony, braune Augen, schmales und blasses Gesicht, dazu eine fast zerbrechliche Figur. Es gab keinen Zweifel. Was hatte der kleine Kerl seit gestern Abend nur erleben müssen? Hatte er seinen Vater tatsächlich auf dem italienischen Fest getroffen und ihn in die Kanzlei begleitet? Was war danach geschehen? Und wer hatte Thomas Sobek erschossen?

Das laute Geheul eines Martinshorns näherte sich. Kurz darauf drängte der Notarzt mit zwei Sanitätern in Sobeks Büro. Maike zog sich ins Foyer zurück, wo Staatsanwältin von Haunhorst mit den Kollegen wartete. Bange Minuten verstrichen. Was war mit dem Jungen? Wieso war er bewusstlos? Hatte er mit ansehen müssen, wie sein Vater erschossen wurde? Mit was für einem grausamen Täter hatten sie es hier zu tun? Maike zog in Erwägung, Alessia Sobek zu informieren. Allerdings erschien es ihr dann doch sinnvoller, zu warten, bis man Genaueres über den Zustand ihres Sohnes wusste. Endlich tat sich etwas im benachbarten Büro. Maike sah, dass Torben auf eine Trage gelegt und festgeschnallt wurde. Ein Infusionsbeutel baumelte über ihm. Er war immer noch bewusstlos. Die Sanitäter brachten ihn heraus, um ihn zum Notarztwagen zu bringen. Der Arzt trat auf Maike zu. Er hielt eine Spritze in seiner behandschuhten Hand.

»Die lag unter dem Rücken des Jungen. Ich vermute, sie wurde absichtlich dort deponiert, damit sofort klar ist, was dem Kind fehlt. Es handelt sich um ein gängiges Betäubungsmittel. Es ist also anzunehmen, dass Torben bald wieder aufwacht.« Er lächelte aufmunternd.

Maike nickte. »Vielen Dank für die Information.« Sie fischte einen Beweissicherungsbeutel aus ihrer Jacke und bat den Arzt, die Spritze hineinfallen zu lassen. »Bleibt zu hoffen, dass Torben vor dem Mord an seinem Vater betäubt wurde.«

Der Notarzt nickte. »Möchten Sie das Kind begleiten? Oder ist ein Verwandter anwesend?«

»Ich werde die Mutter sofort informieren. Bis sie kommt, würde ich gerne bei dem Jungen bleiben. Später bräuchte ich von Ihnen und den Sanitätern noch eine Speichelprobe für die Vergleichs-DNA.« Maike blickte fragend zu Staatsanwältin von Haunhorst und nahm dankbar deren Nicken wahr. Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche. »In welches Krankenhaus wird der Junge gebracht?«

»Kinderklinik Dortmund, Beurhausstraße.«

Alessia Sobek war bereits beim zweiten Rufton in der Leitung. Maike hielt sich mit detaillierten Erklärungen zurück. Sie sagte nur, man habe Torben gefunden und es ginge ihm den Umständen entsprechend. Alessia Sobek solle in die Kinderklinik kommen, dort würde sie alle Einzelheiten von Maike erfahren.