Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung

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3.6 Zwischen Semantik und Pragmatik

Die Diskussion in den letzten fünf Abschnitten hat gezeigt, dass sprachliche Kommunikation auf verschiedenen Ebenen stattfindet: explizit sprachlich kodiert, aber auch implizit (nicht-monoton) inferiert; auf einer inhaltlichen (propositionalen) Ebene, aber auch auf einer Handlungsebene. Möchte man sich dieses System nochmals in Gänze am Beispiel der Äußerung ich habe gerade leider viel zu tun vor Augen führen, dann könnte dies wie folgt aussehen: Für jedes einzelne Wort in dem Satz ich habe gerade leider viel zu tun haben wir in unserem mentalen Lexikon eine gelernte Bedeutung abgespeichert, Von der Ausdrucksbedeutung zur Äußerungsbedeutungdie AusdrucksbedeutungAusdrucksbedeutung des Wortes. In dem Satz ich habe gerade leider viel zu tun werden diese Ausdrucksbedeutungen entlang der syntaktischen Struktur zu einer komplexen Ausdrucksbedeutung kombiniert. Diese komplexe Ausdrucksbedeutung muss (um beurteilbar zu sein) in der Äußerungssituation verankert werden, insbesondere muss den deiktischen Ausdrücken ein referenzieller Bezug zugewiesen werden. Das Resultat der Verankerung der Ausdrucksbedeutung des Satzes im Äußerungskontext haben wir seine ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutung genannt.

Wie wir in Kapitel 7 noch sehen werden, kann sich diese Äußerungsbedeutung grundsätzlich aus expressiven und aus propositionalen Bestandteilen zusammensetzen. Beschränken wir uns auf den propositionalen GehaltGehaltpropositionaler der Äußerungsbedeutung des Satzes ich habe gerade leider viel zu tun (»dass ich gerade viel zu tun habe«), dann fällt dieser im Wesentlichen mit dem zusammen, was Grice (1975) als das GesagteGesagtes bezeichnet hat. Mit der Äußerung von ich habe gerade leider viel zu tun wird dieser propositionale Gehalt (das Gesagte) behauptet (Handlungsebene). Ausgehend von der Behauptung des Gesagten können nun auf der Basis der Grice’schen Maximen weitere Annahmen darüber getroffen [57]werden, worin der Von der Äußerungsbedeutung zum kommunikativen Sinneigentliche kommunikative Sinnkommunikativer Sinn der Äußerung besteht, was mit ihr gemeintGemeintes ist. In einem Kontext, in dem ein Studierender außerhalb der Sprechstunde an meine Tür klopft und etwas mit mir besprechen möchte, könnte dies zum Beispiel die Aufforderung sein, ein anderes Mal vorbei zu kommen. Dies wäre eine (partikulare) Konversationsimplikatur. Die Beziehung der fraglichen Ebenen zueinander ist in Abbildung 3.4 schematisch dargestellt.


Abb. 3.4: Erste schematische Darstellung der Interpretationsebenen

Wie die Darstellung in Abbildung 3.4 nahelegt und auch schon mehrfach angedeutet wurde, werden die Begriffe Sprechakt und kommunikativer Sinn in dieser Einführung so verwendet, dass sie Unterschiedliches bezeichnen: Der Begriff des Sprechakts bezieht sich auf eine sprachliche Handlung, der Begriff des Kommunikativer Sinn und Sprechaktkommunikativen Sinnskommunikativer Sinn ist dagegen ein rein inhaltlicher Begriff und fällt im Wesentlichen mit dem Begriff der (partikularen) Konversationsimplikatur im Sinne von Grice (1975) zusammen. Das ist grundsätzlich konsistent mit der ursprünglichen Verwendung in Bierwisch (1980), auf den der Begriff des kommunikativen Sinns letztlich zurückgeht. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen kommunikativem Sinn und Sprechakt mit Bierwisch (1980) jedoch etwas komplexer: Der kommunikative Sinn ist in dem Sinne als Teil eines Sprechaktes aufzufassen, als er erst zur Realisierung eines Sprechaktes führt. Daher müsste der kommunikative Sinn in dem obigen Schema eigentlich dem Sprechakt vorausgehen. Da wir die Beziehung zwischen der Äußerung eines Satzes und dem mit der Äußerung typischerweise verbundenen Sprechakt direkter charakterisieren würden (über eine Default-Beziehung), weichen wir hier von Bierwisch (1980) ab. Im Fall indirekter Sprechakte müsste man dem kommunikativen Sinn aber tatsächlich eine weitere Sprechaktebene nachschalten, die die primäre Illokution bezeichnet.

So weit, so gut. Die zentrale Idee von Grice ist also, dass wir das Gemeinte auf der Basis des Gesagten, den Grice’schen Maximen und Weltwissen ableiten. Das Gesagte ist dabei als der Teil einer Äußerungsbedeutung aufzufassen, der grundsätzlich als wahr oder als falsch bewertbar ist. In der Semantik (Kapitel 7) ist hierfür auch der Begriff der PropositionProposition (Aussage) üblich. Eine zentrale Beobachtung ist nun, dass sprachliche Unvollständige ÄußerungenÄußerungen für sich genommen im Allgemeinen noch keine Proposition (also eine als wahr oder falsch bewertbare Aussage) ausdrücken. Machen wir hierzu ein konkretes Beispiel: Zu Beginn von Kapitel 2 hatten wir eine Situation beschrieben, in der Erna, Lisbeths beste Freundin, nachmittags bei Lisbeth zu Besuch ist. Erna setzt sich an den Tisch und Lisbeth bietet ihr daraufhin mit den Worten »Eine Tasse Kaffee?« eine Tasse Kaffee an. Lassen wir Erna nun wie folgt antworten: »Ich hatte schon drei.«

Wie für die Frage »Eine Tasse Kaffee?« ist auch für die Antwort »Ich hatte schon drei.« offensichtlich, dass sie keinen vollständigen Satz darstellt und die Verankerung der deiktischen Ausdrücke damit allein noch nicht zu einer als wahr oder falsch bewertbaren Aussage (einer Proposition) führt: Die Äußerung »Ich hatte schon drei.« ist in dem Sinne unvollständig, dass durch die Äußerung selbst nicht explizit gemacht wird, wovon Erna schon drei hatte. Im Kontext der Frage ist zwar sofort klar, dass es sich um drei Tassen Kaffee handelt, und wir werden die Äußerung auch sofort entsprechend gedanklich ergänzen, aber diese Annahme ist eben eine Annahme, die wir auf der Basis des Kontexts machen und nicht (allein) auf der Basis der Äußerung. Da die Verankerung der Ausdrucksbedeutung einer Äußerung im Äußerungskontext nicht immer unmittelbar zu einer Proposition führt, werden wir im Folgenden zwischen Sprachliche Kodierung und pragmatische Anreicherungeiner explizit kodierten ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutungexplizit kodierte und einer pragmatisch angereicherten ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutungpragmatisch angereicherte unterscheiden. Letztere ist die (gegebenenfalls erforderliche) pragmatische AnreicherungAnreicherungpragmatische der explizit kodierten Äußerungsbedeutung auf der Basis kontextuell plausibler Annahmen, mit dem Resultat einer (minimalen) als wahr oder falsch bewertbaren Aussage (Proposition). Wenn wir im Folgenden also von Äußerungsbedeutung sprechen, dann ist damit (solange nichts anderes gesagt wird) immer die pragmatisch angereicherte Äußerungsbedeutung gemeint.

[59]Die explizit kodierte Äußerungsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ergibt sich aus dessen Ausdrucksbedeutung und ihrer Verankerung im Äußerungskontext. (In Abschnitt 3.1 haben wir sie noch einfach Äußerungsbedeutung genannt.)

Werden sprachliche Äußerungen vom Adressaten (über nicht-monotone Inferenzen) inhaltlich ergänzt, dann spricht man von pragmatischer Anreicherung.

Die (pragmatisch angereicherte) Äußerungsbedeutung ergibt sich aus der explizit kodierten Äußerungsbedeutung über pragmatische Anreicherungen. Sie ist im Prinzip als wahr oder falsch beurteilbar, kann aber auch expressive Bedeutung tragen.

Die Beobachtung, dass die explizit kodierte Äußerungsbedeutung im Allgemeinen noch pragmatisch angereichert werden muss, um eine grundsätzlich als wahr oder falsch beurteilbare Aussage zu erhalten, ist für den Grice’schen Ansatz nicht ganz unproblematisch. Das Problem ist – wie z. B. Levinson (2000) ausführlich darstellt –, dass nach Grice (1975) Konversationsimplikaturen immer auf der Basis des Gesagten (unter Bezug auf die Gesprächsmaximen) herzuleiten sind. Um bei unvollständigen Äußerungen aber überhaupt zu einer als wahr oder falsch beurteilbaren Aussage (also dem Gesagten) kommen zu können, muss die explizit kodierte Äußerungsbedeutung pragmatisch angereichert werden. Dieser Prozess der pragmatischen Anreicherung ist aber wiederum ein nicht-monotoner Inferenzprozess, der dem der konversationellen Implikaturen zumindest sehr nahekommt, wenn nicht sogar mit ihm identisch ist. Im Allgemeinen braucht man also das Gesagte, um Implikaturen abzuleiten, gleichzeitig aber auch Implikaturen, um zum Gesagten zu kommen. Levinson (2000) nennt dies Der Grice’sche Zirkelden Grice’schen ZirkelGrice'sche Zirkel. Dieser wird von Levinson (2000) in der Weise aufgelöst, dass erstens generalisierte und partikulare Implikaturen als unterschiedliche Prozesse betrachtet werden: Generalisierte Konversationsimplikaturen sind Default-Annahmen auf der Basis von Heuristika, während partikulare Konversationsimplikaturen alleine über Relevanzbetrachtungen ausgelöst werden. Zweitens nimmt Levinson (2000) an, dass pragmatische Anreicherung nur über generalisierte Konversationsimplikaturen erfolgt. Damit muss bei der pragmatischen Anreicherung nicht mehr Bezug auf die Maximen genommen werden und die Zirkularität ist damit aufgelöst.

In der Relevanztheorie (Sperber & Wilson 1986) wird dieses Problem gelöst, indem die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik verschoben und zwischen dem gezogen wird, was wir Ausdrucksbedeutung (›Logische Form‹ in der Terminologie der Relevanztheoretiker) und explizit kodierte Äußerungsbedeutung genannt haben: Dem Prozess der pragmatischen Anreicherung (der ›Explikatur‹) und des Ziehens weiterer Schlussfolgerungen (also von ›Implikaturen‹ im engeren Sinne) liegt zwar derselbe Mechanismus zugrunde (die Annahme optimaler Relevanz), aber da beide Prozesse (i) pragmatischer Natur und (ii) nicht linear geordnet sind (im Sinne von zuerst Explikatur, dann Implikatur), kann Zirkularität erst gar nicht entstehen.

 

Betrachtet man das obige Beispiel »ich hatte schon drei« nochmal etwas genauer, dann ist am Ende gar nicht so klar, dass die Äußerung in syntaktischer Hinsicht wirklich unvollständig ist. Man kann in der Syntax durchaus argumentieren, dass das Numeral drei hier allein noch kein geeignetes Objekt ist und aus strukturellen Gründen einen so genannten nominalen Kopf benötigt. Tatsächlich wird von nicht wenigen Linguisten in solchen Fällen angenommen, dass hier eine Ellipse vorliegt: Auf syntaktischer Ebene ist die Phrase Tassen Kaffee eigentlich präsent, sie wird aber (aus Ökonomiegründen) nicht ausgesprochen, da sie über die vorige Äußerung leicht rekonstruierbar ist. So gesehen wäre die Phrase Tassen Kaffee sprachlich kodiert, aber eben nur auf syntaktischer Ebene und nicht auf phonetischer Ebene, also implizit und nicht explizit. Damit ist sie folglich nicht Teil der explizit kodierten Äußerungsbedeutung. Folgt man dieser Argumentation, dann ist die Rekonstruktion der Lücke grammatisch bzw. strukturell motiviert und wir sprechen daher Strukturbedingte Anreicherungvon strukturbedingter AnreicherungAnreicherungstrukturbedingte oder auch von SättigungSättigungAnreicherung. Die strukturbedingte Anreicherung einer explizit kodierten Äußerungsbedeutung bezeichnen wir als die grammatisch determinierte ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutunggrammatisch determinierte. (Man vergleiche hierzu auch die Überlegungen in der entsprechenden Vertiefungsbox in Abschnitt 3.1.)

Wenn es pragmatische Anreicherungen gibt, die strukturbedingt sind, dann gibt es vermutlich auch pragmatische Anreicherungen, die dies (höchstwahrscheinlich) nicht sind. Tatsächlich lässt sich auch dies an unserem Beispiel illustrieren. Denn was mit der Äußerung von »Ich hatte schon drei« in der obigen Situation kommuniziert wird, ist ja nicht einfach, dass Erna schon drei Tassen Kaffee hatte, sondern genau genommen, dass Erna heute schon drei Tassen Kaffee hatte. Der Adressat (in diesem Fall Lisbeth) ergänzt die Äußerung gedanklich also auch noch durch heute. Die naheliegende Frage ist nun, ob diese Ergänzung wie im vorigen Fall strukturell motiviert ist. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass hier ein etwas anderer Fall vorliegt. Wir werden in der Syntax noch sehen, dass heute (in unserem Beispiel) als temporales Adverbial eine Angabe ist. Das heißt im Wesentlichen, dass heute (in diesem Fall) in syntaktischer Hinsicht nicht zwingend erforderlich ist, um einen vollständigen Satz zu bilden. Das Adverbial kann also frei hinzugefügt werden, muss es aber nicht. In diesem Sinne hat die pragmatische Anreicherung der Äußerung durch das Temporaladverbial heute keine strukturelle Basis und wir sprechen entsprechend von Freie Anreicherungeiner freien AnreicherungAnreicherungfreie.

Man könnte hier argumentieren, dass das Adverbial heute zwar syntaktisch fakultativ, aber in Semantisch motivierte Anreicherung?semantischer Hinsicht obligatorisch ist, damit die Äußerung überhaupt eine beurteilbare Aussage ausdrückt, also eine Aussage, die wir als [61]wahr oder falsch bewerten können. Diese Frage ist empirisch nicht einfach zu entscheiden. Vermutlich wird man sagen müssen, dass eine Äußerung der Art »Ich hatte schon drei Tassen Kaffee« bereits temporal spezifiziert ist und (semantisch) ausdrückt, dass Erna irgendwann (in ihrem Leben) schon drei Tassen Kaffee hatte. Diese Aussage ist aber sicher nicht die Aussage, die wir verstehen und die vom Sprecher intendiert ist. Da es in der gegebenen Situation aber nicht relevant ist, ob Erna schon einmal irgendwann in ihrem Leben drei Tassen Kaffee getrunken hat, wird der Adressat die Aussage auf den relevanten Zeitraum (heute) verengen. Bei einer Äußerung von »Ich habe schon dreimal geheiratet« wird er es dagegen (sehr wahrscheinlich) nicht tun.

Abbildung 3.5 soll die in diesem Kapitel eingeführten Begrifflichkeiten und die jeweiligen Eine schematische ZusammenfassungZusammenhänge (in leicht vereinfachter Form) grafisch verdeutlichen:


Abb. 3.5: Interpretations- und Handlungsebenen im Beispiel »Ich hatte schon drei.«

Ziel der schematischen Darstellung in Abbildung 3.5 ist vor allem, die Ebenen der Ausdrucksbedeutung, der Ebenen der Äußerungsbedeutung und kognitive VerarbeitungÄußerungsbedeutung, des kommunikativen Sinns und des Sprechakts deutlich voneinander zu trennen und innerhalb der Äußerungsbedeutung nochmals zwischen den verschiedenen Ebenen zu differenzieren. Die Pfeile sollen hier den strukturellen Zusammenhang zwischen diesen Ebenen deutlich machen. Die Linearisierung sollte dabei aber nicht so verstanden werden, dass mit ihr gleichzeitig eine entsprechende linear geordnete kognitive Verarbeitung behauptet wird. Es ist zwar sicherlich so, dass das Erfassen der Äußerungsbedeutung der Aktivierung von Ausdrücken im mentalen Lexikon nachfolgt. Aber ob z. B. die Prozesse der strukturbedingten und der freien Anreicherung ebenfalls kognitiv aufeinander folgen, kann durchaus und mit einiger Berechtigung in Frage gestellt werden. Daher sollte man solche didaktisch motivierten Abbildungen nicht überinterpretieren. Wer sich für eher kognitive Aspekte pragmatischer Prozesse interessiert, sei auf die genannten Arbeiten der Relevanztheorie verwiesen oder – wer vor etwas formaleren Zugängen nicht zurückschreckt – auch auf spieltheoretische Ansätze (vgl. z. B. Jäger 2012).

Empfohlene Literatur

Ehrich, Veronika: Wann ist jetzt? Anmerkungen zum Adverbialen Zeitlexikon des Deutschen. In: Kognitionswissenschaft 2 (1992). S. 119–135.

Finkbeiner, Rita: Einführung in die Pragmatik. Darmstadt: WBG, 2015.

Grice, H. Paul: Logic and Conversation. In: H. P. G.: Studies in the Way of Words. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1991. S. 22–40. [Erstpublikation: 1975.]

Klein, Wolfgang: Wo ist hier? Präliminarien zu einer Untersuchung der lokalen Deixis. Linguistische Berichte 58 (1978). S. 18–40.

Levinson, Stephen C.: Pragmatik. Tübingen: Niemeyer, 1990.

[63]4 Syntax: Gruppiertes
4.1 Grundbegriffe der Syntax

Eine gängige Auffassung ist, Was ist Syntax?dass das Wort Syntax irgendwie als ›Satzbau‹ ins Deutsche zu übertragen ist. Das ist nur zum Teil richtig. Wenn wir die Etymologie des Wortes ›SyntaxSyntax‹ ernst nehmen, erhalten wir einen sehr allgemeinen Begriff, der allerdings der Wahrheit ziemlich nahekommt. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, es ist eine Nominalisierung des Verbs syn-tattein, was ›zusammen-stellen‹ heißt. Es geht in der Syntax also darum, Dinge zusammenzustellen, oder man könnte auch sagen, miteinander zu kombinieren. Und tatsächlich geht es in der Syntax um nichts anderes als darum, aus kleineren sprachlichen Einheiten größere Einheiten zusammenzustellen. Die größten dieser größeren Einheiten sind letztlich Sätze, insofern ist die intuitive Übertragung mit ›Satzbau‹ gar nicht so verkehrt.

Doch was sind diese kleineren sprachlichen Einheiten? Hier fängt es an, interessant zu werden. Die kleinsten denkbaren für die Syntax relevanten sprachlichen Einheiten der SyntaxEinheiten sind Wörter. Das heißt natürlich nicht, dass Wörter nicht noch weiter zerlegbar sind, es heißt nur, dass die interne Struktur von Wörtern für die Syntax unerheblich ist (mit Ausnahme der Flexionsmerkmale, die syntaktische Bezüge direkt anzeigen). Doch Syntax bedeutet nicht einfach, Wörter irgendwie zusammenzustellen. Manche Wörter haben einen engeren Bezug zueinander als zu anderen Wörtern, so dass sich aus Wörtern zunächst einmal Wortgruppen zusammenstellen lassen. WortgruppeWortgruppe ist hier als theorieneutraler Begriff gewählt, den wir später (vgl. Abschnitt 4.3) durch einen klarer definierten Begriff ersetzen werden. Wortgruppen können sich ihrerseits mit anderen Wortgruppen oder Wörtern zu anderen, größeren Wortgruppen kombinieren, bis irgendwann der Punkt erreicht ist, dass eine Kombination mehrerer Wortgruppen einen Satz ergibt.

Die Einheiten, die Sätze letztlich bilden, sind tatsächlich eher Wortgruppen als Wörter. Eine Wortgruppe kann nur aus einem Wort bestehen, wie die Wortgruppen in (4.1 a), sie können aber auch länger sein, vielleicht sogar eine innere Gruppierung erkennen lassen, wie in (4.1 b). Zur Veranschaulichung haben wir die Wortgruppen auf der Satzebene (und mögliche Gruppen innerhalb der Gruppen) mit eckigen Klammern markiert.


Zu beachten ist, dass auf der höchsten, der Satzebene, beide Sätze (4.1 a) und (4.1 b) eigentlich identisch strukturiert sind: Sie bestehen aus einem Subjekt, einem Verb, und einem Objekt, also aus drei Teilen (was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, wissen die meisten Leserinnen und Leser sicher schon, wir erklären sie aber auf alle Fälle in Abschnitt 4.4 genauer). Wenn wir uns die Bedeutung der beiden Sätze anschauen, stellen wir fest, dass sie letztlich auf dasselbe hinauslaufen (vorausgesetzt, dass das Subjekt in beiden Fällen auf dieselbe Person referiert), in einem Fall nur etwas ausführlicher beschrieben wird, um wen und was es geht.

Beide sprachlichen Äußerungen in (4.1) sind also Sätze. Der Der SatzBegriff SatzSatz ist gar nicht so einfach zu definieren. Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man ›den Satz‹ betrachten will. Aus syntaktischer Sicht wird traditionell als ein (vollständiger) Satz ein Gebilde angesehen, das ein finites Verb aufweist, von dem die anderen Bestandteile in einer irgendwie gearteten Weise abhängen. Hier steht also die hierarchische Struktur des Satzes im Vordergrund. In der Pragmatik, die wir schon kennengelernt haben (vgl. Abschnitt 3.5), zeigt sich, dass die gleiche Funktion, die Sätze haben, auch von Äußerungen wahrgenommen werden können, die aus syntaktischer Sicht keine vollständigen Sätze sind, wie Stehenbleiben!, das im Wesentlichen dieselbe Funktion einnimmt wie z. B. Wir fordern, verdammt noch mal, dass Sie sofort stehenbleiben, anderenfalls beginnen wir zu schießen, oder huch!, das dieselbe ›Bedeutung‹ haben kann wie Weil ich gestolpert bin, habe ich mich erschreckt. Im ersten Fall ist eine gewisse Beziehung zwischen der ›Kurzform‹ und der ›Langform‹ zu erkennen, man könnte sogar annehmen, die ›Kurzform‹ ist dadurch entstanden, dass man aus der Langform alle möglichen Wörter und Wortgruppen herausgelöst hat, bis am Schluss nur noch eine Verbform übriggeblieben ist (solche und ähnliche ›Kurzformen‹ nennt man EllipsenEllipse). Im zweiten ist keine Beziehung zu sehen.

Schauen wir uns noch einmal (4.1 b) an. Wir sehen, dass der Satz aus Wortgruppen aufgebaut ist, die ihrerseits aus Wörtern und Wortgruppen aufgebaut sind. Wir sehen auch, dass ein Bestandteil der dritten Wortgruppe, nämlich die im frühen Hochsommer reif werden, selbst ein Satz ist, der seinerseits aus Wortgruppen und so weiter besteht. Diese Eigenschaft, dass Bauteile ihrerseits aus Bauteilen bestehen, die auf gleiche Weise gebaut sind (oder zu [65]zerlegen sind) wie die größeren Bauteile, und diese sich wieder auf dieselbe Weise in kleinere, gleich gebaute Bauteile zerlegen lassen, nennen Rekursivitätwir Rekursivität.Rekursivität Nahezu alle menschlichen Sprachen haben eine rekursiv aufgebaute Syntax, und selbst Sprecher von Sprachen, von denen behauptet wird, sie verfügten nicht über rekursive Strukturen, wenden Rekursivität beim Erlernen von (rekursiv gebauten) Fremdsprachen problemlos an.

Solche größeren Einheiten sollten so Kompositionalitätsprinzipzusammengebaut werden, dass nachher jeder versteht, was gemeint ist. Es ist ja nicht so, dass wir im Spracherwerb alle möglichen Sätze auswendig lernen und dann einfach, wenn wir z. B. Satz Nr. 10 687 hören, sagen: »Ach ja, das ist ja Satz 10 687, zu dem habe ich damals die Bedeutung ›Uller mag Himbeeren‹ gelernt.« Was das Kind beim Spracherwerb tatsächlich im engeren Sinne ›lernt‹, sind sprachliche Einheiten, die Lexikoneinträgen zugrundeliegen (vgl. Abschnitt 7.1), also zunächst einmal einzelne Wörter mit ihren Bedeutungen, dazu vielleicht größere Einheiten – idiomatische Ausdrücke idiomatischer Ausdruckoder Phraseologismen Phraseologismus(das sind Gebilde, in denen mehrere Wörter zusammen eine Bedeutung haben wie in auf den Wecker gehen, was streng genommen weder mit gehen noch Weckern etwas zu tun hat), mehr jedoch nicht. Aber das kann noch nicht alles sein.

 

Wenn man nun eine Anzahl von Wörtern irgendwie miteinander verbinden will, braucht man eine Bauanleitung – ganz ähnlich, wie wenn man in einem Möbelhaus ein flaches Päckchen kauft, aus dem später einmal ein Schrank werden soll, und nach Auspacken des Päckchens vor einer Menge an Brettern, Schrauben, Muttern und anderer Teile steht, denen man nicht direkt ansieht, wie sie zusammengehören. Üblicherweise (hoffentlich!) ist eine Bauanleitung mitgeliefert. Wenn wir Wortgruppen bis hin zu Sätzen bilden, wenden wir ebenfalls eine Art Bauanleitung an, die in unserem Kopf verankert ist. Das ist nun nicht ein schlecht kopiertes DIN-A4-Blatt wie bei unserem Schrank, sondern eine bestimmte ›Programmierung‹ im Hirn, die wir im Lauf des Spracherwerbs aus der Beobachtung unseres linguistischen Umfeldes – ein hochtrabender Name für alles, was wir an Sprache hören oder sonstwie aufnehmen – als die richtige Bauanleitung erschließen. Das Kind ist also eigentlich in derselben Situation, wie Sie, wenn Sie ein Möbel, dass Sie noch zusammenbauen müssen, kaufen und feststellen, dass keine Bauanleitung im Paket ist.

Eine ganz wichtige Regel zum Zusammenbau ist das so genannte Kompositionalitätsprinzip, Kompositionalitätsprinzipauch Fregeprinzip genannt nach dem Mathematiker, der es zuerst beschrieben hat. Es besagt, dass die Bedeutung einer komplexen (also: aus mehreren Teilen zusammengesetzten) sprachlichen Äußerung sich einerseits aus der Summe der Einzelbedeutungen ergibt, andererseits aus einem Bedeutungsbeitrag, der sich durch die Art der Kombination ergibt. Auf dieses Prinzip wird aus semantischer Sicht in Abschnitt 7.3 eingegangen; für den Syntaktiker ist der letzte Teil der Definition interessant, die Art der Kombination. Wenn ich einen Satz wie … dass das kratzbürstige Mädchen den Klavierspieler liebt äußere, hat er eine bestimmte Bedeutung. Diese Bedeutung erschließt sich aber nicht nur aus den Einzelbedeutungen der Wörter. Wenn ich eine Kleinigkeit ändere, nämlich den Fall des Artikels vor Klavierspieler, ergibt sich eine völlig andere Bedeutung: … dass das kratzbürstige Mädchen der Klavierspieler liebt. Es ergibt sich nicht nur eine andere Bedeutung, sondern auch das Gefühl, dass der Satz komisch klingt; besser würde er klingen, wenn ich ihn umstellte: … dass der Klavierspieler das kratzbürstige Mädchen liebt. Auf jeden Fall: Das Wortmaterial ist identisch. Der Bedeutungsunterschied kommt durch die Art der Zusammensetzung zustande, nämlich dadurch, dass ich im ersten Fall die Wortgruppe das kratzbürstige Mädchen als Subjekt und die Wortgruppe den Klavierspieler als Objekt mit dem Verb verbunden habe, im zweiten genau umgekehrt: Hier ist das kratzbürstige Mädchen das Objekt, der Klavierspieler das Subjekt.

Zurück zur Bauanleitung. Tatsächlich ist die Bauanleitung, die das Kind beim Spracherwerb lernen muss und die wir als Verwender der Sprache tagtäglich mehrere hundert Male anwenden, nicht ganz so einfach, das Kompositionalitätsprinzip ist nur ein Bestandteil davon. Da diese Bauanleitung jedoch nirgendwo notiert ist, sondern nur in unseren Köpfen existiert, ist es für den Sprachforscher nicht leicht, an diese Anleitung heranzukommen. Deshalb benutzen GrammatiktheorienSprachforscher Theorien zur Grammatik. Es gibt einige Theorien auf dem Markt, die wir hier nicht alle anführen wollen; wir werden uns auf einige beschränken. Eine Theorie (die Valenzgrammatik)Valenzgrammatik geht beispielsweise davon aus, dass das Verb die absolute Keimzelle des Satzes ist und alles bestimmt, was sonst in dem Satz passiert. Eine andere Theorie (die Generative Grammatik)Generative Grammatik geht davon aus, dass es ein paar wenige Bildungsregeln gibt, die alle Wortgruppen und Sätze erzeugen können (die generative Grammatik ist sehr verbreitet, weshalb wir es für hilfreich halten, in diesem Kapitel in diese Theorie einzuführen). Wieder eine andere Theorie geht davon aus, dass Satztypen und Phrasentypen ganz ähnlich wie Wörter als Ganzes im Lexikon gespeichert sind, genauer gesagt, als Form-Funktionspaare, und bei Bedarf hervorgeholt werden (Konstruktionsgrammatik)Konstruktionsgrammatik. Und wieder eine andere Theorie geht davon aus, dass die Funktion von Äußerungen das wichtigste ist und die Form der Äußerungen sich aus der Funktion direkt ergibt (funktionale Grammatik)funktionale Grammatik. Das sind nur ein paar relativ prominente Vertreter von Theorien.

Es kommt manchmal – leider viel zu häufig – vor, dass sich die Vertreter verschiedener Theorien mit fast zelotischem Eifer bekämpfen, als ob es sich um (Ersatz-)Religionen handelte. Hier ist tatsächlich eine gewisse Gelassenheit wesentlich zielführender. Es gibt sicher nicht die Theorie, die alles restfrei erklärt und darum allen anderen überlegen ist. Theorien sind an sich nichts anderes als Versuche, die mentalen Prozesse, die die Sprache erzeugen, irgendwie modellhaft sinnfällig zu machen. Manche haben ihre Stärken in einem Aspekt, andere in einem anderen Aspekt, aber solange sie in sich logisch ist, ist keine Theorie von vorneherein ›besser‹ oder ›schlechter‹ als die andere.

[67]Bevor wir aber eine Theorie entwickeln können, benötigen wir zuerst einmal Daten. Diese Daten stammen in der Syntax in der Regel entweder aus der Beobachtung tatsächlich produzierter sprachlicher Äußerungen oder aus der Beurteilung von Äußerungen, die zu exakt dem Zweck der Beurteilung ›gebastelt‹ wurden. Je nachdem, ob Sprecher der zu untersuchenden Sprache – z. B. des Deutschen – bestimmte Sätze als akzeptabel oder nicht akzeptabel einstufen, lässt sich einiges über den Aufbau der Sprache sagen.

EinGrammatikalität Beispiel: Betrachten wir den Satz in (4.2 a). Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Satz als völlig akzeptabel beurteilen: Sie können sich vorstellen, einen Satz dieser Form schon einmal gehört zu haben, können sich vielleicht auch vorstellen, so einen Satz in einem passenden Zusammenhang selbst zu äußern. Ein solcher GrammatikalitätSatz ist grammatisch. Grammatisch kann man umschreiben mit: Die Regeln der Sprache sind in der Lage, diesen Satz hervorzubringen.


Wie ist es dagegen mit Satz (4.2 b)? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie diesen Satz schlichtweg falsch finden. Sowas würden Sie nie sagen, und Sie könnten sich auch nicht vorstellen, dass Sie so einen Satz jemals gehört haben. Solch ein Satz ist ungrammatisch, das heißt: Die grammatischen Regeln der Sprache sind nicht in der Lage, diesen Satz hervorzubringen. Wir markieren solche ungrammatischen Sätze in linguistischen Veröffentlichungen in der Regel mit einem vorgesetzten Asterisk, einem Sternchen.

Was ich hier gemacht habe, ist tatsächlich recht einfach: Ich habe bei jeder Wortgruppe die Reihenfolge der Wörter innerhalb der Wortgruppe [68]umgedreht, also aus ›nach Köln‹ ›Köln nach‹ etc. gemacht. Man sieht: Auch das Falsche kann System haben. Tatsächlich wären diese Abfolgen im Deutschen zwar undenkbar, es ist aber theoretisch möglich, dass es andere Sprachen gibt, die solche Abfolgen ganz grammatisch finden und die bei uns gängigen als ungrammatisch beurteilen. Im Japanischen z. B. wäre die Stellung des richtungsanzeigenden Elements nach dem Bezugsnomen die einzig mögliche Reihenfolge.

Ungrammatikalität muss nicht einmal mit dem Verständnis zusammenhängen. Vielleicht wären Sie sogar in der Lage, aus (4.2 b) den intendierten Sinn herauszulesen. Die Wörter kennen Sie alle, es sind genau die gleichen Wörter wie in (4.2 a). Umgekehrt würden Sie einen Satz wie (4.2 c) vermutlich niemals akzeptieren. Was soll das denn heißen? Der Satz ist in sich voller Widersprüche, die Bedeutungen passen nicht zueinander. Die Unverständlichkeit und die daraus AkzeptabilitätGrammatikalität, Akzeptabilität und ›Stil‹resultierende Inakzeptabilität hat aber nichts mit der GrammatikalitätGrammatikalität zu tun: Rein syntaktisch betrachtet, ist an dem Satz nichts auszusetzen: das Verb schlafen hat ein Subjekt, wie es sich gehört, es wird durch ein Adverbial modifiziert, und dass Substantive durch Adjektive näher bestimmt werden, ist ja auch ganz normal. Nur die Semantik ist eben unsinnig. Solche Sätze würden deshalb nie als ungrammatisch markiert werden. Der Satz stammt übrigens aus einer frühen Publikation von Noam Chomsky (Chomsky 1957), einem der Väter der generativen Grammatiktheorie, der genau diesen Satz (auf Englisch, natürlich) zur Illustration des hier besprochenen Befundes verwendete.