LiebesTaumel

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Kapitel 3

Als Vivian endlich in ihrem Wohnzimmer stand, war es draußen dunkel geworden, und ein feuchter Wind war kühl vom See in den Ort gezogen, hatte bald schon jeden Winkel der Stadt erfüllt, machte deutlich, dass der kalte Winter zwar vorbei war, dass der Frühling aber noch zu kämpfen hatte.

Clemens hatte in der Zwischenzeit versucht, sie zu erreichen, wollte ihr anscheinend von seinen ersten Eindrücken erzählen, wie er es versprochen und sie erbeten hatte, doch hatte sie das Klingeln des Telefons nicht gehört. Da war sie wohl noch bei ihrer Mutter gewesen. Auch einige SMS hatte er ihr geschickt, und sie las die letzte:

>Ich freue mich auf dich. Kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen und dich zu küssen. LG.

Heute Morgen hatte sie es auch kaum erwarten können, ihn zu küssen, aber jetzt?

Vivian blickte eindringlich auf die SMS. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert ... und er war nicht da gewesen. Das erste Mal fühlte sie sich alleingelassen. Nicht nur von ihrer Mutter, auch von Clemens.

Und so schrieb sie zurück, nicht ganz ehrlich: >Ich kann heute nicht. Ich bin bei meiner Mutter. Vielleicht bleibe ich heute Nacht hier. Ich melde mich. LG.

Vivian würde ihm das erklären, morgen oder übermorgen. Vielleicht.

Kurz danach rief er noch einmal an. Sie nahm das Mobiltelefon in die Hand und wartete, bis die Mailbox endlich ansprang. Es tut mir leid, Clemens, aber ich kann jetzt nicht, dachte sie. Ich wüsste nicht, was ich dir sagen sollte. Heute nicht.

Vivian fühlte sich unendlich ausgegrenzt. Ihre Mutter erzählte ihr nichts, und Clemens dachte nur an seine Karriere. Sicherlich war sie ungerecht, aber war man gerecht zu ihr?

Plötzlich fiel ihr auch wieder ein, dass sie den Termin mit einem Interessenten in der Akademie verpasst hatte. Nächste Woche würde sie ihn anrufen und sich bei ihm entschuldigen ... Ihr Vater war gestorben. Kaum eine Entschuldigung könnte begründeter sein.

Vivian machte sich einen Kakao, den sie immer brauchte, wenn sie sich innerlich unwohl fühlte. Er durchwärmte sie mit einem Stück Geborgenheit, der Geruch umhüllte sie mit einem Stück Kindheit, und sie holte dann auch oft ihr Tagebuch hervor, um Gedanken loszuwerden, so auch heute.

Nach etwa einer halben Stunde hatte sie ihre Einträge beendet, legte sich auf die Couch, im Wohnzimmer, und nahm den Brief heraus.

›Notar Dr. Geller‹ stand auf dem Briefkopf. Nächsten Mittwoch um zehn Uhr war die Testamentseröffnung. Um zehn. Hatte sie da überhaupt Zeit? Vivian lächelte gedankenverloren, natürlich hatte sie Zeit.

Aber wollte sie da überhaupt hingehen? Ihre Mutter wollte ihr all das ersparen. Doch was eigentlich? Was war mit ihrem Vater, mit diesem Hektor Graf zu Hohenberg? Und jetzt fiel es ihr auf. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor, doch woher?

Das werden wir gleich wissen, dachte sie und sprang so heftig auf, dass ein wenig Kakao auf ihre Jeans schwappte.

»Scheiße!« Aber egal, dachte Vivian, zog die Jeans aus, warf sie über einen Sessel, setzte sich wieder auf die Couch, zog eine bunte Wolldecke über die nackten Beine und öffnete ihren Laptop.

Nach einem kurzen Moment war alles bereit, und sie gab den Namen ›Hektor Graf zu Hohenberg‹ in eine Suchmaschine ein.

Ungefähr 210.000 Ergebnisse wurden angegeben.

Vivian fing mit seiner Homepage an. Und als sie sein Bild sah, wusste sie wieder, woher sie den Namen kannte: Er war der großzügige Kunstliebhaber gewesen, der im letzten Jahr auf der ›Lindauer Kunstwoche‹ ihre Plastik erstanden hatte. Doch er hatte nur von ›Hohenberg‹ gesprochen, als sie nach seiner Lieferadresse gefragt hatte, daran erinnerte sie sich genau. ›Hohenberg‹ – als sei es ein Name wie Schulze oder Müller. Und natürlich hatte sie sich nichts dabei gedacht, zumal die Lieferung problemlos ablief.

Vivian betrachtete sein Bild nun genauer. Kanntest du mich? Wusstest du, dass ich deine Tochter bin? Hattest du deshalb einen so großzügigen Scheck über fünfundzwanzigtausend Euro ausgestellt?

Denn als er sie gefragt hatte, was die Plastik kosten sollte – einen Preis hatte sich Vivian nicht überlegt gehabt, weil sie nicht geglaubt hatte, für ihr Werk einen Käufer zu finden –, wollte sie fünftausend sagen. Für Material und Zeit hatte sie das für hinreichend gehalten, doch war er ihr zuvorgekommen.

»Ich gebe Ihnen fünfundzwanzigtausend. Ich denke, das ist ein angemessener Preis.«

Vivian hatte ihn nur sprachlos angesehen. Angemessen? Wann ist welcher Preis für ein Kunstwerk überhaupt angemessen?

Vivian zuckte auch heute noch die Achseln.

Und wieder betrachtete sie das Bild ihres Vaters, betrachtete ihn etwas genauer. Das Foto konnte noch nicht alt sein, denn so hatte sie ihn in Erinnerung: graues, volles Haar, leuchtende Augen, kantiges, männliches Gesicht. Er war nicht schlank, doch keineswegs vollschlank und ... er sah gesund aus.

Vivian hatte ihn auch nicht kränklich in Erinnerung. Wieso war er dann so plötzlich verstorben? Er war ein wenig nach vorn gebeugt gegangen. Das hatte ihn älter aussehen lassen. Aber seine schwarzen Augen hatten sehr lebendig und jung geleuchtet. Ja, sie waren schwarz gewesen. Auf dem Bild seiner Homepage war es nicht genau zu erkennen, aber sie erinnerte sich: schwarz ... wie ihre Augen.

Ihre Mutter hatte braune Augen. Also hatte sie die Augen von ihm. Und jetzt sah sie noch etwas: Aus seinem Hemdkragen lugte am Hals, auf der linken Seite, das letzte kleine Stück eines Muttermals hervor. Genau an der gleichen Stelle hatte auch sie eines. Warum war ihr das damals nicht aufgefallen?

Egal. Er war ihr Vater, unverkennbar, hätte sie sonst eine Einladung zu der Testamentseröffnung bekommen?

Ihr Blick wanderte weiter, und als hätte es eben noch nicht da gestanden – obwohl es groß herausgestellt war ... eigentlich nicht zu übersehen –, las sie erst jetzt:

Völlig unerwartet ist Bankier Hektor Graf zu Hohenberg am 12. Februar, im Alter von einundsiebzig Jahren, einem Herzinfarkt erlegen.

Wir vermissen ihn.

Unendlich viel bleibt ungetan.

Einundsiebzig? Sie hatte ihn als einen Mann in Erinnerung, der eher Ende fünfzig, Anfang sechzig zu sein schien, aber einundsiebzig ...?

Doch das bedeutete auch, dass er – Vivian rechnete kurz nach – fast genau zwanzig Jahre älter war als ihre Mutter. Zwanzig Jahre!

Und das erste Mal fragte sie sich, wo ihre Mutter ihn wohl kennengelernt hatte. Wo, Mama? Und was war schließlich so schrecklich an ihm gewesen, dass du nie ein Wort über ihn verloren hast?

Sie, Vivian, hatte ihn als einen sympathischen Mann in Erinnerung, und das nicht, weil er einen so großzügigen Scheck ausgestellt hatte, sondern weil sein Blick so voller Freude, voller Leben gewesen war. Voller Ansporn.

Und sie las weiter: Er war Bankier, Mitinhaber der Privatbank Hohenberg.

Auch seine Angestellten trauerten um ihn.

Doch das heißt gar nichts, dachte Vivian, das ist Öffentlichkeitsarbeit einer Privatbank.

Und sie öffnete weitere Suchergebnisse. Nirgends war etwas Negatives zu lesen. Hektor Graf zu Hohenberg war nicht nur in der Kulturszene von Lindau bekannt – sicherlich als Geldgeber –, er wurde auch als Hauptsponsor für das letzte Pfingstturnier im Jugendfußball benannt. Und sogar als Initiator eines vorweihnachtlichen Schachturniers für Mädchen und Jungen bis vierzehn Jahre. Offensichtlich tat er viel für Lindau, zumindest gab er Geld.

Aber was war nun so schrecklich an ihm? Wie sah seine Schattenseite aus?

Vivian fand im Internet keine Antwort darauf, doch wusste sie auch, dass ihre Mutter niemanden leichtfertig verurteilte.

Genugtuung! Dieses Wort wollte ihre Gedanken nicht verlassen. Genugtuung ... wofür?

Das Geheimnis darum hat er dann wohl mit ins Grab genommen, dachte Vivian, denn von ihrer Mutter würde sie darüber ganz sicher nichts erfahren.

Vivian beendete dann auch bald sehr nachdenklich ihre Recherchen am Computer und schmiegte die bunte Wolldecke etwas fester um die nackten Beine – ihr war kalt geworden. Die wärmende Wohltat des Kakaos war verebbt.

Das erste Mal hatte sie sich mit ihrem Vater auseinandergesetzt, und die Zeit war sekundenschnell vergangen.

War das jetzt ein gutes Zeichen?

Vivian zuckte die Achseln.

Kapitel 4

Clemens hatte kurz nach acht eine SMS von Vivian bekommen:

>Komme gleich mit Brötchen. Freue mich auf dich. LG.

Er hatte sich gefreut, sie endlich zu sehen, hatte sie in den Arm genommen, doch war sie dieser Zärtlichkeit dezent und kühl ausgewichen.

Was war geschehen? Stand in der SMS nicht, dass sie sich auf ihn freute? Worte, wie immer. Warum war sie dann so distanziert?

Clemens kannte sie so nicht. All das waren Fragen, die ihn verunsicherten, aber er hatte geschwiegen.

Jetzt saßen sie hier, an seinem Küchentisch und frühstückten. Vivian hatte sich tatsächlich verändert ... in wenigen Stunden. Er kannte sie kaum wieder. Sie wirkte ruhig, nachdenklich und sehr, sehr weit weg – und sie schwieg.

»Was ist mit dir?«, fragte er.

Ohne ihn anzusehen, zwischen einem Bissen vom Marmeladenbrötchen und einem Schluck Kaffee, sagte sie: »Mein Vater ist gestorben.«

Aber du hast doch gar keinen Vater, dachte Clemens augenblicklich, und fast hätte er über diese Unsinnigkeit gelacht. Doch er unterdrückte diese innere Regung und sagte: »Ich dachte, du weißt gar nicht, wer dein Vater ist? Oder wer er war?«

 

Ein Moment der Stille trat ein, und schließlich begann Vivian zu sprechen, langsam, abwesend und irgendwie verpflichtend, so schien es ihm. Sie sprach von einem Streit mit ihrer Mutter, von einer bevorstehenden Testamentseröffnung und von ihren Recherchen im Internet.

Nichts davon erzählte sie ihm einfach so, daherredend. Ihn beschlich das Gefühl, sachlich informiert zu werden, pflichtbewusst, kühl und reserviert. Sie ließ ihn nicht wirklich teilhaben, und mit jedem Wort von ihr breitete sich in ihm mehr und mehr eine schmerzhafte Empfindung aus, ein Bedenken, das ihn furchtbar enttäuschte. Es schien, als sei er nicht mehr bedeutsam für sie.

Ernüchtert und zurückhaltend fragte er, als sie schließlich geendet hatte: »Und warum hast du mir gestern nichts davon geschrieben oder gesagt? Zweimal hab ich versucht, dich übers Handy zu erreichen ... drei Worte hätten genügt. Und dann warst du gestern Abend auch gar nicht mehr bei deiner Mutter, oder?«

Ausdruckslos sah sie ihn an.

»Ich brauchte einfach Ruhe, verstehst du. Ich musste über so vieles nachdenken.«

Clemens nickte. Natürlich verstand er das, aber ... »Und das hättest du in meiner Gegenwart nicht tun können? Oder es mir zumindest sagen können?«

»Bitte, Clemens, ich bin das erste Mal im wirklichen Streit mit meiner Mutter auseinandergegangen. Und jetzt bin ich ja auch hier, oder?«

Die letzten Worte enttäuschten ihn, sie klangen so fremd, und bedrückt schüttelte Clemens den Kopf. Sie waren seit mehr als drei Jahren zusammen. Sie waren ein Paar, glaubte er. Oder stimmte das nicht?

War sie am Ende ein Mensch, der bei ihren wichtigen Fragen lieber allein war? Bei wirklich wichtigen Lebensfragen? War er dann überhaupt wesentlich für sie? War es womöglich gar keine Liebe, die sie verband?

Clemens stellte plötzlich alles infrage. Gestern Morgen hatte es sich anders angefühlt, gestern Morgen hatte sie noch Angst gehabt, er könnte sie vergessen. Und jetzt?

»Ja, sicher bist du jetzt hier, aber irgendwie auch nicht. Und wie geht es jetzt weiter?«

Vivian zuckte die Achseln, vermied es, ihn anzusehen.

»Ich muss da am Mittwoch hin. Meine Mutter wird mir keine Hilfe sein und du ...? Wie läuft es eigentlich bei dir da am Set? So sagt man doch, oder?«

Ihre letzten Worte klangen geringschätzig, und plötzlich schien es ihm, als würde er ihre Zurückhaltung begreifen. War es so einfach? War sie so ungerecht? Und mit einem zynischen Unterton rutschten Clemens die nächsten Worte heraus: »Wirfst du mir etwa vor, nicht wirklich für dich da zu sein? Dass ich am Ende nur an meine Karriere denke?«

Es schien, als wollte sie darauf nicht weiter eingehen, sie lenkte einfach ab, legte ein halbes Brötchen zurück in den Korb und fragte mit belangloser Stimme: »Nun erzähl schon, was war bei dir?«

Clemens sah sie fassungslos an. Das war nicht die Vivian, die er über mehr als drei Jahre kennengelernt hatte, mit der er alles teilen wollte, die er liebte. Oder war das ein Teil von ihr, den sie bislang einfach nur gut versteckt hatte?

Und augenblicklich zerbrach etwas in ihm. Warum ging sie auf seine Frage nicht ein, warum nahm sie seine Beklommenheit nicht ernst, so wie er es gestern Morgen bei ihr getan hatte? Oder warum sagte sie nicht wenigstens: »Du Idiot, natürlich werfe ich dir das nicht vor, es wäre nur schön, wenn ich diese Sache mit dir zusammen durchstehen könnte.« Warum nicht zumindest diese Worte?

Clemens war enttäuscht, fühlte sich fremd und ausgegrenzt, und er antwortete mit offener Gleichgültigkeit und mit einer Lüge.

»Es ging alles ziemlich schnell. Aber ich muss heute wieder zurück. Außenaufnahmen.«

»Mit dir? Ich denke, du fängst erst am Montag richtig an.«

»Der Regisseur hat uns nahegelegt, heute schon mal dabei zu sein.«

Warum sagte er das? So stimmte es doch gar nicht. Und bis eben hatte er auch nicht vorgehabt, sich das heute dort anzusehen.

»Uns?«, sagte Vivian mit großen Augen.

»Ja, mit mir haben noch zwei junge Kolleginnen angefangen.«

»Aha. Jung und hübsch?«

»Jung und hübsch.«

»Und warum bist du dann gestern überhaupt zurückgekommen?«

Wusste sie das nicht mehr? Die Enttäuschung in Clemens wuchs beständig, riss eine erste kleine Wunde auf.

»Weil ich mit dir feiern wollte. So, wie wir es uns am Morgen vorgenommen hatten. Ich erinnere mich, dass du dich darüber sehr gefreut hast, ich erinnere mich auch, dass du mir schreiben wolltest, wenn es etwas Wichtiges in deinem Leben geben würde. Doch ich hab nichts von dir gehört. Aber halt! Das stimmt nicht. Eine Lüge hast du mir geschrieben: Ich kann heute nicht. Ich bin bei meiner Mutter. Vielleicht bleibe ich heute Nacht hier. Da warst du doch schon gar nicht mehr bei ihr, oder?«

Plötzlich war es kein Gespräch mehr, plötzlich schwebten Vorwürfe und Anklagen über dem Frühstückstisch, plötzlich wurde es ein Streit.

»Ah! Und jetzt habe ich alles verdorben, weil ich vom Tod meines Vaters gehört habe? Und obwohl ich ihn nie kennengelernt habe, mir gestern Abend ganz sicher nicht nach Feiern zumute war?« Was für ein ungerechter Vorwurf!

»Warum hast du mir das mit deinem Vater dann nicht einfach schon gestern geschrieben? Irgendetwas wie: Mein Vater ist tot, ich verstehe das alles nicht. Ich brauche ein wenig Ruhe. Das hätte gelangt. Ich wäre für dich da gewesen.«

»Ach ja, ich vergaß, du tust ja immer das Richtige.« Vivian nickte mürrisch, obwohl sie wusste, dass er nicht unrecht hatte – doch ließ sie diesen Gedanken jetzt nicht zu.

Und erbost fuhr sie fort: »Das habe ich eben auch ziemlich deutlich gemerkt, bei deinen Worten ... dass ich dir deine Karriere vorwerfen würde. So ein Unsinn!«

»Unsinn? … Warum habe ich dann das Gefühl, dass du ganz weit weg von mir bist? Warum?«

»Ich bin hier! Aber vielleicht bin ich ja nicht so, wie du mich gern möchtest. Das täte mir dann wirklich sehr leid.«

Jetzt war es wahrhaftig ein Streit! Zynisch, sinnlos, hässlich und sehr verletzend.

»Wie möchte ich dich denn?«

Vivian antwortete nicht, stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus und sagte beiläufig: »Ich muss jetzt noch etwas erledigen. Sehen wir uns an diesem Wochenende noch?«

Sie wollte weg, wollte weg von ihm, das hatte er begriffen.

»Etwas erledigen?«

»Ja.«

Stille trat ein. Sie sagte nichts, machte keine Andeutung. Und zusehends entfernten sie sich tatsächlich voneinander, verrannten sie sich in ihren Verletzlichkeiten.

Clemens war enttäuscht und unnachgiebig, stand auch auf, ging zum Kühlschrank und stellte das Marmeladenglas hinein.

»Heute sind die Außenaufnahmen, und dann muss ich den Text lernen. Für Montag. Ich denke, ich werde keine Zeit mehr haben.«

Vivian drehte sich zu ihm hin und sah ihn an, anklagend und gleichzeitig auch ... ängstlich.

»Dann ist es wohl besser, wenn ich jetzt gehe.«

Clemens blieb am Kühlschrank stehen, sah sie ebenso vorwurfsvoll und ängstlich an, und er nickte nur.

Sekunden später war sie weg. Ohne einen Abschiedskuss, ohne ein weiteres Wort.

Ab und an waren sie auch in den letzten drei Jahren im Zorn auseinandergegangen, doch hatten sie noch nie einen solch tiefen, trennenden und vorwurfsvollen Streit gehabt.

Kapitel 5

Am nächsten Tag, es war ein ruhiger Sonntag, war das Wetter endgültig umgeschlagen. Die Sonne lag warm auf Bäumen, Büschen und Straßen und erfreute die Besucher der Strandpromenaden in Überlingen und an all den anderen Orten am Bodensee. Sie ließ zudem die Krokusse auf den Wiesen aufbrechen – über Nacht war es frühlingshaft geworden.

Eleonore Gräfin von Seestedten, die jüngere Schwester des Grafen zu Hohenberg, hatte ihre Familie zum Sonntagsmenü geladen. Und alle waren gekommen: ihr ältester Sohn Maximilian mit Frau und ihre Tochter Sandra mit Ehemann, Joachim Graf von Gerstein. Sogar Gideon, ihr Jüngster, noch unverheiratet, noch auf der Suche nach der Richtigen – wobei er keinen großen Wert auf das Finden legte –, war aus Berlin angereist.

Freiwillig war allerdings niemand von ihnen zu diesem Essen gekommen, doch Eleonore hatte sie alle in der Hand: Maximilian leitete die Bankfiliale in München, Joachim, ihr Schwiegersohn, war der Bankdirektor in Stuttgart. Mit ihren dreißig Prozent der Anteile konnte sie recht schnell für Veränderungen sorgen, und das wussten ihre Kinder. Und deshalb saßen sie hier.

Bei Gideon war es sogar noch einfacher, sie brauchte ihm nur den monatlichen Scheck über dreißigtausend Euro zu streichen, und schon wäre er mittellos gewesen, doch daran dachte sie nicht. Nein, sie liebte Gideon mehr als die anderen, denn er war wie sie – skrupellos und durch und durch egoistisch. Gideon war wirklich ihr Sohn, und mit ihm hatte sie noch viel vor. Die anderen beiden waren eher wie ihr Ehemann Gerold Graf von Seestedten, weich und harmlos.

Dr. Geller hatte ihr vorab keinen Einblick in das Testament ihres Bruders gewährt, also musste sie heute, während des Essens, ihre Kinder ›auf Kurs‹ bringen, wie sie es nannte.

»Es gibt da das Problem der Hohenberg-Stiftung. Ich befürchte, mein dummer Bruder hat einen Großteil seiner siebzig Prozent dieser Stiftung vermacht. Und mit diesem Geller ist nicht zu spaßen. Aber sollten wir am Ende zusammen neunundvierzig Prozent haben, können wir ihm das Leben verdammt schwer machen. Bei mehr als fünfzig Prozent hätte er kaum etwas zu sagen, doch daran möchte ich jetzt noch nicht glauben. Ihr wisst, ich bin eher vorsichtig.«

Alle sahen Eleonore enttäuscht an, denn alle hatten mit einem größeren Teil des Erbes gerechnet. Auch wenn sie nicht so hart waren wie sie, gierig waren sie allemal.

Doch die Hoffnung stirbt erst am Mittwoch, waren wohl ihre Gedanken.

»Ich habe gehört, es soll da auch so eine Bürgerliche geben, die am Mittwoch dabei ist«, sagte Maximilian, ihr ältester Sohn.

Eleonore winkte zynisch lächelnd ab.

»Das ist nur eine kleine Krankenschwester mit ihrer Tochter.«

»Ist diese Tochter nicht seine Tochter?«

»Unsinn. Es gab da mal so ein Gerücht. Und Sabine war so schlau gewesen, sich nie mehr zu rühren.«

Eleonore Gräfin von Seestedten hatte auch Sabine Schreiber in der Hand. Doch das wussten nur die beiden Frauen – und so sollte es auch bleiben.

»Und was, wenn er der Kleinen doch ein paar Millionen vermacht hat? Einfach so?«, fragte Sandra zwischen zwei Löffel Mousse au Chocolat.

Eleonore lachte erbost und gehässig. »Darum würde sich dann Gideon kümmern.« Und an ihren Jüngsten gewandt fuhr sie fort: »Sie soll ja sehr hübsch sein. Also hättest du auch noch ein wenig Spaß dabei.«

Gideon sah seine Mutter achtsam an.

»Ab welchem Betrag soll ich denn zum Einsatz kommen?«

Alle lachten.

»Um kleine sechsstellige Beträge kümmern wir uns nicht, außer die Kleine gefällt dir.«

»Und Beträge darüber ...?«

»... wirst du zur Bank zurückführen. Wir lassen uns nicht bestehlen. Zehn Prozent davon gehen dann selbstverständlich auf dein Konto.«

Gideon nahm die Hand seiner Mutter und küsste sie.

»Mama, du bist die Beste.«

Ihre anderen Kinder verfolgten diese Szene voller Missmut, doch auch an sie hatte Eleonore gedacht.

»Ihr bekommt dann fünf Prozent – jeder –, wenn ihr sie richtig und gut beraten habt. Richtig und gut für uns, versteht sich.«

Nun lachten sie alle wieder, doch Eleonore wurde noch einmal sehr ernst.

»Dr. Geller ist unser Gegner. Und den schaffen wir nur gemeinsam. Ich hoffe, das ist euch bewusst. Mit ihm wird es nicht einfach werden.«

Alle nickten, waren voller Vorfreude und Erwartung. Und jeder schien zu hoffen, etwas mehr Eindruck auf den verstorbenen Onkel gemacht zu haben, etwas mehr Eindruck, der sich dann letztlich auch hoffentlich positiv auf das Erbe auswirken sollte.

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