Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

4.7.2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

Eye Movement Desensitization and Reprocessing wurde Ende der 1980er-Jahre von Francine Shapiro (1989) in den USA zur Behandlung von Traumafolgestörungen entwickelt. Frei übersetzt bedeutet EMDR Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung. Der Ausgangspunkt dieser Therapie basiert auf der Beobachtung, dass sakkadische Augenbewegungen eine Entlastung von negativen Gefühlen bewirken können.

Traumatische Erlebnisse können durch Auslösereize (s. Trigger) auf allen Sinneskanälen reaktiviert werden. Wenn die Reaktionen auf diese Trigger unkontrolliert verlaufen, handelt es sich um Intrusion. Die EMDR-Methode hilft den Personen, sich von traumatischen Ereignissen zu distanzieren, und verhindert somit, dass die Erinnerungen an das Trauma unkontrolliert ablaufen, invasiv erlebt werden und Hilflosigkeit auslösen. Das Ziel ist es, dass sich die Personen an das Trauma erinnern und die mit dem Trauma verbundenen Gefühle kontrollieren bzw. eine neue, angemessene Sicht auf das Ereignis entwickeln.

Die Kernelemente der Therapie sind die Desensitization und das Reprocessing. Im Rahmen der Desensitization soll mittels der Augenbewegungen eine Angstreduktion bewirkt werden, im Reprocessing soll es zu einer Neubewertung des traumatischen Ereignisses kommen.

Das Standardprotokoll der EMDR-Methode setzt sich aus acht Stufen zusammen (Hensel & Meusers, 2005). In der ersten Phase erfolgen die Anamnese und die Behandlungsplanung. In der zweiten Phase werden die Betroffenen auf die Durchführung der Traumakonfrontation mit EMDR vorbereitet und es wird mit ihnen die imaginative Übung „sicherer Ort“ (Shapiro, 1995) durchgeführt. Die Phasen 3 bis 6 beinhalten die Kernelemente der EMDR-Methode. In der Phase 3 findet die prozessuale Aktivierung des Traumas statt. Dabei soll sich das Kind an den „schlimmsten Moment“ des traumatischen Ereignisses erinnern. Hierbei werden negative Kognitionen (z. B. „Ich bin hier nicht sicher“) identifiziert und es wird nach einer alternativen Kognition gesucht, die eine angemessene Sicht des Traumas beinhaltet (z. B. „Es ist vorbei“). Die betroffene Person soll in dieser Phase auch die, durch das Trauma ausgelösten Gefühle beschreiben und wie sich diese im Körper manifestiert haben. Die Desensibilisierung findet in Phase 4 statt. Die Person soll sich noch mal an den „schlimmsten Moment“ erinnern und gleichzeitig auf die bilateralen Stimulationen achten. Bilaterale Stimulationen sind meistens Augenbewegungen, so folgt die Person den Fingern des Therapeuten mit den Augen nach links und rechts. Diese Augenbewegungen können mit den Augenbewegungen im REM-Schlaf verglichen werden. Alternativ zu den Handbewegungen können taktile oder akustische Signale angewendet werden, wie z. B. das abwechselnde Antippen des rechten und linken Handrückens. Nach einer gewissen Zahl an Stimulierungen stoppt der Therapeut, und die Person berichtet über die Veränderungen (z. B. Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen). Die Stimulierungsserie wird so lange fortgesetzt, bis die Belastung des Traumas ersichtlich gesunken ist. In der Phase 5 findet die Neubewertung des Traumas mittels der erlernten Alternativgedanken (Phase 3) statt. Diese Neubewertung wird in der folgenden Phase 6 durch die Körperempfindung überprüft. Die Person „sucht“ ihren Körper nach eventuell noch vorhandenen körperbasierten Traumaderivaten ab. Die letzten beiden Phasen (7 und 8) beziehen sich auf die Evaluierung der EMDR-Methode und darauf, dass die Person die Behandlung psychisch stabil verlässt.

Die Wirksamkeit der EMDR-Methode bei Kindern und Jugendlichen wurde in kontrollierten Studien überprüft und nachgewiesen (Adler-Nevo & Manassis, 2005; Hensel, 2009). Eine Metaanalyse zeigte, dass die EMDR im Vergleich mit anderen PTBS-Behandlungsverfahren in spezifischen Symptombereichen (Vermeidung) effektiver ist. Weiters ist sie auch kürzer als die KVT (M = 4,6 Sitzungen vs. 14,8 Sitzungen) (Barth, Stoffers, & Bengel, 2003). Die Wirkmechanismen der EMDR-Methoden bleiben aber immer noch unklar, so könnte der Therapieerfolg durch die bilateralen Stimulationen, aber auch durch die Exposition bedingt sein (Rodenburg et al., 2009).

Zusammenfassung

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann infolge eines traumatischen Ereignisses (Traumas) auftreten. Als Traumata werden Ereignisse mit einer außergewöhnlichen Bedrohung oder einem katastrophalen Ausmaß bezeichnet, die nach der Häufigkeit (einmalig vs. mehrmalig) und der Verursachung (Menschen vs. Technik- und Naturkatastrophen) unterschieden werden können. Die Hauptmerkmale der PTBS sind das Wiedererleben des Traumas in Form von z. B. Erinnerungen oder Träumen, die als Intrusion plötzlich und unvermittelt auftreten und von den Kindern als sehr belastend erlebt werden.

Hinzu kommen die Vermeidung von Situationen, die die Erinnerung an das Trauma auslösen könnten, negative Kognitionen und erhöhte autonome Erregung.

Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTBS können neben Merkmalen des Traumas auch niedriger sozioökonomischer Status, weibliches Geschlecht und geringeres Lebensalter zum Zeitpunkt des Traumas genannt werden.

Die PTBS-Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich teilweise von derjenigen bei Erwachsenen (z. B. posttraumatisches Spiel). Die Prävalenz der PTBS liegt in Europa bei ca. 0,5–1 %. Komorbide Störungen der PTBS bei Kindern sind depressive Störungen, Störungen durch Substanzkonsum, oppositionelles Trotzverhalten und Trennungsangst. Die Tf-KVT und EMDR gelten als wirksame Verfahren in der Behandlung der PTBS bei Kindern und Jugendlichen.

Literatur

Adler-Nevo, G., & Manassis, K. (2005). Psychosocial treatment of pediatric posttraumatic stress disorder: The neglected field of single-incident trauma. Depression and Anxiety, 22(4), 177–189.

Alisic, E., Zalta, A. K., Van Wesel, F., Larsen, S. E., Hafstad, G. S., Hassanpour, K., & Smid, G. E. (2014). Rates of post-traumatic stress disorder in trauma-exposed children and adolescents: meta-analysis. The British Journal of Psychiatry, 204(5), 335–340.

Andrews, B., Brewin, C. R., Philpott, R., & Stewart, L. (2007). Delayed-onset posttraumatic stress disorder: A systematic review of the evidence. American Journal of Psychiatry, 164 (9), 1319–1326.

Attanayake, V., McKay, R., Joffres, M., Singh, S., Burkle Jr, F., & Mills, E. (2009). Prevalence of mental disorders among children exposed to war: A systematic review of 7,920 children. Medicine Conflict and Survival, 25(1), 4–19.

Barth, J., Stoffers, J., & Bengel, J. (2003, May). Efficacy of EMDR in patients with PTSD: A metaanalytic review of randomised controlled trials. In European Conference on Traumatic Stress, Berlin, Germany.

Bronstein, I., & Montgomery, P. (2011). Psychological distress in refugee children: A systematic review. Clinical child and family psychology review, 14(1), 44–56.

Cohen, J. A., Mannarino, A. P., & Deblinger, E. (2009). Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer.

Costello, E. J., Erkanli, A., Fairbank, J. A., & Angold, A. (2002). The prevalence of potentially traumatic events in childhood and adolescence. Journal of Traumatic Stress: Official Publication of The International Society for Traumatic Stress Studies, 15(2), 99–112.

Dilling, H., Mombour, W., & Schmidt, M. H. (2004). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien (5. Aufl.). Bern: Huber.

Dyb, G., Holen, A., Brænne, K., Indredavik, M. S., & Aarseth, J. (2009). Parent-child discrepancy in reporting children’s post-traumatic stress reactions after a traffic accident. Nordic Journal of Psychiatry, 57(5), 339–344.

Elklit, A. (2002). Victimization and PTSD in a Danish national youth probability sample. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 41, 174–181.

Essau, C. A., Conradt, J., & Petermann, F. (1999). Häufigkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Jugendlichen: Ergebnisse der Bremer Jugendstudie. Zeitschrift für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 27, 37–45.

Falkai, P., & Wittchen, H.-U. (Hrsg.). (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5 (Deutsche Ausgabe). Göttingen: Hogrefe.

Gavranidou, M., & Rosner, R. (2003). The weaker sex? Gender and post-traumatic stress disorder. Depress Anxiety, 17, 130–139.

Gavranidou, M., Niemiec, B., Magg, B., & Rosner, R. (2008). Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. Kindheit und Entwicklung, 17(4), 224–231.

Hensel, T. (2009). EMDR with children and adolescents after single-incident trauma an intervention study. Journal of EMDR Practice and Research, 3(1), 2–9.

Javanbakht, A., Rosenberg, D., Haddad, L., & Arfken, C. L. (2018). Mental health in Syrian refugee children resettling in the United States: War trauma, migration, and the role of parental stress. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 57(3), 209–211.

Kolassa, I. T., Ertl, V., Eckart, C., Kolassa, S., Onyut, L. P., & Elbert, T. (2010). Spontaneous remission from PTSD depends on the number of traumatic event types experienced. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 2(3), 169.

 

Krentz, E. M. (2015). Posttraumatische Belastungsstörungen. In G. Esser (Hrsg.), Klinische Psychologie und Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen (5. vollst. überarb. Aufl.) (S. 248–254). Stuttgart: Thieme.

Landolt, M. A., & Hensel, T. (2014). Der Traumabegriff. In Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen (S. 16–17). Göttingen: Hogrefe.

Landolt, M. A., Schnyder, U., Maier, T., Schoenbucher, V., & Mohler Kuo, M. (2013). Trauma exposure and posttraumatic stress disorder in adolescents: A national survey in Switzerland. Journal of Traumatic Stress, 26(2), 209–216.

Landolt, M. A., Vollrath, M., Ribi, K., Timm, K., Sennhauser, F. H., & Gnehm, H. E. (2003). Inzidenz und Verlauf posttraumatischer Belastungsreaktionen nach Verkehrsunfällen im Kindesalter. Kindheit und Entwicklung, 12(3), 184–192.

Maercker, A. (2013). Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In A. Maercker (Hrsg.), Posttraumatische Belastungsstörungen (S. 13–34). Berlin, Heidelberg: Springer.

McLaughlin, K. A., Koenen, K. C., Hill, E. D., Petukhova, M., Sampson, N. A., Zaslavsky, A. M., & Kessler, R. C. (2013). Trauma exposure and posttraumatic stress disorder in a national sample of adolescents. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 52, 815–830.

Pratchett, L. C., Pelcovitz, M. R., & Yehuda, R. (2010). Trauma and violence: Are women the weaker sex? Psychiatric Clinics of North America, 33, 465–474.

Rodenburg, R., Benjamin, A., de Roos, C., Meijer, A. M., & Stams, G. J. (2009). Efficacy of EMDR in children: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 29(7), 599–606.

Rosner, R., & Steil, R. (2013). Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. DNP – Der Neurologe und Psychiater, 14(1), 59–69.

Rosner, R., Hagl, M., & Petermann, U. (2015). Trauma- und belastungsbezogene Störungen. Kindheit und Entwicklung, 24(3), 131–136.

Rousseau, C. (2015). Ein Schritt nach vorne? Die Berücksichtigung des Kindes- und Jugendalters bei der Überarbeitung der trauma- und belastungsbezogenen Störungen in DSM-5 und ICD-11. Kindheit und Entwicklung, 24(3), 137–145.

Sachser, C., Rassenhofer, M., & Goldbeck, L. (2016). Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen – Klinisches Vorgehen, Evidenzbasis und weitere Perspektiven. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 44, 479–490.

Scheeringa, M. S., & Zeanah, C. H. (2008). Reconsideration of harm’s way: Onsets and comorbidity patterns of disorders in preschool children and their caregivers following Hurricane Katrina. Journal of Clinical Child and Adolescent Psychology, 37(3), 508–518.

Scheeringa, M. S., Zeanah, C. H., Myers, L., & Putnam, F. W. (2003). New findings on alternative criteria for PTSD in preschool children. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 42(5), 561–570.

Shapiro, F. (1989). Efficacy of the eye movement desensitization procedure in the treatment of traumatic memories. Journal of traumatic stress, 2(2), 199–223.

Shapiro, F. (1995). Eye movement desensitization and reprocessing: Basic principles, protocols and procedures. New York: Guilford Press.

Tagay, S., Düllmann, S., Hermans, E., Repic, N., Hiller, R., & Senf, W. (2011). Das Essener Trauma-Inventar für Kinder und Jugendliche (ETI-KJ). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 39(5), 323–340.

Terr, L. C. (1991). Childhood traumas: An outline and overview. American Journal of Psychiatry, 148(1), 10–20.

Tingsull, S., Svedin, C. G., Agnafors, S., Sydsjö, G., deKeyser, L., & Nilsson, D. (2015). Parent and child agreement on experience of potential traumatic events. Child Abuse Review, 24(3), 155–230.

UNHCR. (2016). Global trends: Forced displacement in 2015. Geneva: UNHCR. Retrieved from http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html.

UNICEF. (2016). Unprooted. The growing crisis for refugee and migrant children. New York: UNICEF.

Unterhitzenberger, J., Eberle-Sejari, R., Rassenhofer, M., Sukale, T., Rosner, R., & Goldbeck, L. (2015). Trauma-focused cognitive behavioral therapy with unaccompanied refugee minors: A case series. BMC psychiatry, 15(1), 260.

Yule, W. (1994). Posttraumatic stress disorder. In T. H. Ollendick, N. J. King & W. Yule (Hrsg.), International handbook of phobic and anxiety disorders in children and adolescents (S. 223–240). New York: Plenum Press.

Yule, W., Bolton, D., Udwin, O., Boyle, S., O’Ryan, D., & Nurrish, J. (2000). The longterm psychological effects of a disaster experienced in adolescence: The incidence and course of PTSD. The Journal of Child Psychology and Psychiatry and Allied Disciplines, 41(4), 503–511.

Yule, W. (2002). Post-traumatic stress disorders. In M. Rutter & E. Taylor (Hrsg.), Child and adolescent psychiatry (4. Aufl.) (S. 520–528). Oxford: Blackwell.

5 Depressive Störungen

Die klinische Auseinandersetzung mit depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen hat eine wechselhafte Geschichte. Lange Zeit dominierte die Auffassung, dass vor der Pubertät keine spezifischen depressiven Störungen bei Kindern vorkommen würden, v. a. nicht im Vorschulalter. Heute wird hingegen überwiegend die Auffassung vertreten, dass depressive Störungen zumindest in der mittleren Kindheit auftreten und bei Kindern und Jugendlichen die gleichen Formen annehmen können wie bei Erwachsenen. Allerdings sind bei Kindern häufiger psychosomatische Anzeichen beobachtbar und der Schwerpunkt liegt auf ihren Schwierigkeiten, mit eigenen Emotionen umzugehen. In den letzten Jahren wurden auch wichtige Erkenntnisse über die Behandlung von Depressionen erworben. Es liegen zuverlässige Befunde vor, die zeigen, dass psychotherapeutische Verfahren in vielen Fällen langfristig positive Entwicklungen bewirken. Hingegen sind mit medikamentösen Behandlungen teilweise hohe Risiken verbunden, wenn die Jugendlichen nicht auch psychotherapeutisch betreut werden. Während es im DSM-IV keine für Kinder spezifischen Formen depressiver Störungen gab, wurde im DSM-5 eine neue Diagnose spezifisch für Kinder bis zum 12. Lebensjahr eingeführt („Disruptive Affektregulationsstörung“, siehe Abschnitt 5.2.3). Im internationalen Klassifikationssystem der WHO, der ICD-10, wird nach wie vor davon ausgegangen, dass depressive Störungen bei Kindern oft weniger umschrieben und Teil einer allgemeineren emotionalen Störung sind. Darüber hinaus berücksichtigt die ICD-10, dass depressive Störungen bei Kindern häufig gemeinsam mit Störungen des Sozialverhaltens (also dissozialen Störungen) auftreten.

5.1 Symptome der Depression bei Kindern und Jugendlichen

Auch wenn sich depressive Störungen bei Kindern prinzipiell in der gleichen Weise äußern wie bei Erwachsenen, so bestehen doch einige Unterschiede in Abhängigkeit vom Alter und damit vom Entwicklungsstand der Kinder. Bei der Depression stehen neben den Affektveränderungen im engeren Sinn, die von den Kindern und Jugendlichen berichtet werden und in ihrem Verhalten erkennbar sind, auch Veränderungen der Motivation und des Antriebs sowie Veränderungen des Denkens und des körperlichen Befindens im Vordergrund.

5.1.1 Depressive Verstimmung

Im Gespräch können Kinder und Jugendliche meist eine Stimmungsbeeinträchtigung mit Gefühlen der Niedergeschlagenheit und Traurigkeit angeben. Jüngeren Kindern bereitet es manchmal Probleme, ihre Stimmungslage und ihre emotionalen Reaktionen genau zu benennen. Die depressive Stimmung zeigt sich bei Kindern und Jugendlichen oft in erster Linie als Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit durch äußere Ereignisse. Auch stärkere Stimmungsschwankungen sind zu beobachten.

5.1.2 Andere Affektveränderungen

Neben der depressiven Verstimmung zeigen betroffene Kinder und Jugendliche noch andere belastende emotionale Reaktionen:

– In vielen Fällen ist die gedrückte Stimmung von einer starken Ängstlichkeit überschattet. Die Kinder und Jugendlichen haben vor Situationen Angst, die sie früher ohne Scheu und ohne erkennbare Belastung aufsuchen konnten. Oft kann die Ängstlichkeit auch der depressiven Stimmung vorausgehen und der depressive Affekt gesellt sich erst allmählich zu einer erhöhten Ängstlichkeit hinzu.

– Ähnlich wie Erwachsene können auch depressive Kinder und Jugendliche mit auftauchendem Ärger schlechter umgehen und sind auffallend reizbar. Speziell bei Jugendlichen ist diese erhöhte Reizbarkeit auffälliger als der depressive Affekt und wird daher bei der Diagnose als besonders markanter Hinweis auf eine depressive Störung gewertet.

– Viele depressive Kinder und Jugendliche fühlen sich einsam und haben das Gefühl, dass sie keine Freunde haben und ihnen niemand wirklich nahesteht. Zudem ist mit der Depression das Gefühl verbunden, von niemandem (auch nicht von den Eltern) geliebt zu werden. Dies hängt eng mit der Empfindung von Wert- und Bedeutungslosigkeit zusammen und bedeutet auch, dass die Kinder keinen Halt mehr haben und sich an nichts gebunden fühlen.

– Das Vorkommen von Schuldgefühlen dürfte vom kognitiven Entwicklungsstand der Kinder abhängen. Hier werden altersspezifische Unterschiede in der Ausprägung deutlich.

– Depressive Kinder und Jugendliche berichten, dass ihnen nichts mehr Spaß macht, dass sie an nichts mehr Freude finden können. Sie erscheinen lustlos und gelangweilt.

Die Affektveränderungen werden von den Kindern und Jugendlichen mehr oder weniger deutlich beschrieben. Sie sind ihnen aber auch äußerlich anzumerken, etwa in der Körperhaltung und der Mimik.

5.1.3 Beeinträchtigungen im Selbstwertgefühl

Häufige Selbstkritik, die Tendenz, sich selbst herabzusetzen, und Selbsthass sind Ausdruck einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Im Verhalten wirken die Kinder und Jugendlichen wenig selbstsicher und sind nicht in der Lage, sich selbst bzw. ihre Interessen durchzusetzen. Im extremen Fall kann dies mit der Tendenz einhergehen, sich selbst zu verletzen oder Dinge zu zerstören, die einem gehören.

5.1.4 Beeinträchtigung der Motivation und des Verhaltens

Depressive Kinder und Jugendliche verlieren die Lust an Dingen, die ihnen früher Freude gemacht haben, sie sind antriebslos und apathisch. Weiters fällt eine allgemeine Beeinträchtigung der Spontaneität des Verhaltens auf, die sich meist in einer Verlangsamung vieler Verhaltensabläufe manifestiert. Auf der anderen Seite sind manche auch extrem unruhig und getrieben (agitiert). Sie können dann kaum stillsitzen, sondern wandern dauernd umher, sodass ihr Verhalten dem hyperaktiven ähnelt.

Besonders auffallend ist der Rückzug aus sozialen Beziehungen. Dies zeigt sich v. a. in der Gruppe der Gleichaltrigen. Die Kinder werden zunehmend zu AußenseiterInnen ohne Freunde/Freundinnen. Zudem fällt die Tendenz zum Rückzug auch in der Familie auf, wo sie sich weniger an den Gesprächen beteiligen, sondern sich in ihr Zimmer oder vor den Fernseher, den PC oder das Handy zurückziehen.