Die Service-Public-Revolution

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TRUMPUTINISMUS – DIE NATIONALISTISCHE SACKGASSE

Es gibt keine »wahre Natur des Menschen«, die verhindert, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch gestalten. Wer behauptet, es gebe zu einer Welt der freien Marktwirtschaft, der globalen Konkurrenz und des schlanken Staats keine Alternative, dem ist vielmehr daran gelegen, den demokratischen Entscheidungsspielraum massiv einzuengen. Damit kommt sie oder er in einen unlösbaren Konflikt mit dem Grundkonzept der Demokratie, nämlich mit dem Postulat der aktiven Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Betroffenen. Demokratie ist dann nur noch »marktkonform« (Angela Merkel) denkbar. Doch genau dieses Diktat der Märkte macht die Menschen ohnmächtig, liefert sie dem Konkurrenzkampf aus und bringt sie dabei gegeneinander in Stellung: als Individuen auf den Arbeitsmärkten, als Belegschaften im Unternehmenswettbewerb, als Nationen im Kampf der Wirtschaftsstandorte. Damit geht dann tatsächlich jede Bemühung verloren, die Weltverhältnisse zivilisiert zu gestalten.

Für eine dauerhafte Etablierung demokratischer Prozesse sind verlässliche Daten unabdingbar. Wir müssen seriös ermitteln, ob und wie schnell die durchschnittliche Temperatur auf der Erde ansteigt. Wir brauchen überprüfbare Erklärungen dafür, warum dies geschieht. Wir benötigen belastbare Modelle über die Wirkungen auf die Ökosphäre und auf die Lebensbedingungen für die Menschen. Erst auf einer solchen Grundlage kann über sinnvolle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Klimaerhitzung diskutiert, können zielgerichtete Maßnahmen identifiziert und entsprechende Entscheide gefällt werden. Nur auf dieser Grundlage können verschiedene Interessen eingeordnet und demokratisch legitimierte Entscheide ausgehandelt werden. Dazu hat der sozialkritische Thinktank Denknetz 2019 Thesen mit dem Titel »Wahr sagen: Kritische Öffentlichkeit, Demokratie und Macht« publiziert. In der Einleitung heißt es: »Wahr zu sagen ist die Bemühung, alle relevanten Fakten auf den Tisch zu bekommen und diese Fakten kritisch zu analysieren. Eine widerstandsfähige Kultur des Wahr Sagens ist der Lackmustest für eine Gesellschaft, die auf der demokratischen Regelung der öffentlichen Angelegenheiten basiert. Ein solche Kultur des Wahr Sagens steht von Seiten der Mächtigen schon seit je unter Druck. In den letzten Jahren ist nun aber ein eigentlicher Zerfallsprozess in Gang gekommen, der mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der weltweit mächtigsten Nation eine neue Stufe erreicht hat. Dabei geht es nicht mehr ›nur‹ um Druck und Zensur, also darum, wer sich im Kampf um die publizierten Fakten und deren Bewertung durchsetzt. Vielmehr wird in Frage gestellt, dass das Bemühen um Faktentreue überhaupt noch von Belang sein soll. Offen wird behauptet, wahr sei, was für wahr gehalten wird.«

Trump hat gemäß der Fact-Checker-Website der Washington Post seit dem Beginn seiner Präsidentschaft bis zum zum 9. Juli 2020, also in 1267 Tagen, 20’055 Mal öffentlich gelogen oder Falschinformationen verbreitet. Das sind sechzehn »alternative Fakten« pro Tag. Trump lügt nicht gelegentlich, sondern prinzipiell. Hannah Arendt hat in ihrer Schrift »Wahrheit und Politik« die zentrale Erkenntnis formuliert: Wenn alles nur noch Meinung ist und es keine gemeinsam festgestellten Tatsachen mehr gibt, wird Demokratie unmöglich. Wenn es legitim ist, zu sagen, die Erde sei eine Scheibe, die Juden würden die Welt beherrschen, Muslime seien verantwortlich für Corona oder der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen, dann wird eine öffentliche Debatte unmöglich.

Keine Frage: Leute wie Chelsea Manning, Edward Snowden oder Julian Assange werden nicht erst seit Trump verfolgt und müssen erleben, wie ihre Gesundheit und ihr Leben angegriffen werden, weil sie Wahrheiten ans Licht gebracht haben, die die Mächtigen bloßstellen. Ihr Mut, dies trotz der drohenden Repressalien zu tun, ist von großem Wert. Wenn aber erst einmal die Relevanz einer klaren Unterscheidung von Lüge und Fakten vom Tisch ist, dann wird damit auch jede Bemühung um Wahrheitsfindung belanglos, dann läuft das Engagement von Manning, Snowden oder Assange ins Leere. Nur solange anerkannt wird, dass es Lügen gibt, können diese aufgedeckt werden. Nur solange anerkannt wird, dass es Lügen gibt, kann verlangt werden, dass die Lügenden ihre politischen Ämter niederlegen müssen und sanktioniert werden. Gibt es hingegen keine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge mehr, dann bleibt nur noch das »Recht« des Stärkeren übrig. Dann gilt nur noch das, was durchgesetzt werden kann. Und dann wird Gewalt zum alltäglich normalen politischen Mittel.

Da passt es leider genau ins Bild, dass die Trump-Regierung reihenweise aus internationalen Vertragswerken und Organisationen aussteigt, etwa aus dem Pariser Klimaabkommen, aus der Weltgesundheitsorganisation WHO, aus dem Open-Skies-Abkommen, aus dem Atomabkommen mit Iran, aus dem Vertrag über atomare Mittelstreckenraketen. Dann hat dies nichts mit allfälligen Versuchen zu tun, die Institutionen zu verbessern. Vielmehr ist es eine unverstellte Absage an jede Bemühung, die globalen Herausforderungen auf der Basis von Fakten zu benennen und kooperativ anzugehen. Entsprechend ist es auch wenig überraschend, dass das Bulletin of the Atomic Scientists seine berühmte Weltuntergangsuhr Ende Januar 2020 auf 23:58:20 gesetzt hat, also 100 Sekunden vor zwölf. Seit Beginn der Zählung 1947 war die Welt nach Einschätzung der beteiligten Wissenschaftler*innen noch nie so nahe an einer unkontrollierbaren, gewalttätigen Katastrophe.

PERSPEKTIVE CARE-GESELLSCHAFT

Eine der größten Widerstandsbewegungen der letzten Jahrzehnte wie auch der Gegenwart ist die globale Frauenbewegung. Die feministische Kritik an den Geschlechterhierarchien hat den Weg geebnet für bedeutsame Fortschritte im Bildungswesen, im Erwerbsleben, im Familienrecht, in der Politik und bezüglich der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs. Frauen haben heute im weltweiten Schnitt zum Bildungsniveau der Männer aufgeschlossen. Über 130 Staaten bekennen sich gesetzlich zum Ziel der Geschlechtergerechtigkeit.

Dennoch: Frauen verfügen immer noch über deutlich weniger Einkommen und weniger Vermögen und sind stärker armutsgefährdet. Zum Beispiel liegen die Altersrenten der Frauen in der Schweiz um 37 Prozent unter denjenigen der Männer. Sexuelle, physische und psychische Gewalt und sexistische Diskriminierung sind weiterhin an der Tagesordnung. Weltweit sind erst ein Viertel aller Parlamentsabgeordneten Frauen. Und die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie groß die Diskrepanz ist zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung der vorwiegend von Frauen erbrachten Sorgearbeit (etwa in der Pflege und Betreuung) und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung, zum Beispiel in Form einer angemessenen Entlohnung. Die Gleichberechtigung ist stecken geblieben, mehr noch: Offen antifeministische Kräfte finden verstärkt Zulauf. Die feministische Bewegung hat darauf reagiert und in den letzten Jahren wieder an Schwung aufgenommen. Das hat am 14. Juni 2019 in die größte Mobilisierung der Schweizer Geschichte gemündet, als 500’000 Personen am Frauenstreik teilgenommen haben.

Auch andere Bewegungen, die auf grundlegende Transformationen abzielen, erleben immer wieder kraftvolle Aufschwünge, gerade auch in neuester Zeit. Die brutale Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch einen weißen Polizisten hat zu einer Welle von Kundgebungen gegen Rassismus und Polizeigewalt geführt – in über 140 Städten der USA und an vielen weiteren Orten auf der ganzen Welt.

2019 ist es in vielen Ländern zu sozialen und demokratischen Revolten gekommen, so in Hongkong, Chile, Algerien, Iran, im Irak, in Libanon, im Sudan, in Ecuador und Frankreich. Manche dieser Bewegungen konnten bedeutsame Erfolge verzeichnen. Und 2019 war das Jahr, in dem sich Millionen von Jugendlichen weltweit zur Klimastreikbewegung formiert haben. Diese Bewegung hat innerhalb von wenigen Wochen das umweltpolitische Koordinatensystem erheblich verschoben: Klimapolitik ist zum Topthema geworden und wird dies auch bleiben. Der entschlossene Kampf gegen die Klimaerhitzung ist mit Nachdruck eingefordert. Die Klimajugend wird sich nicht hinters Licht führen und auch nicht mit halbherzigen Maßnahmen abspeisen lassen.

Deshalb muss jetzt eine Wende kommen, und sie muss umfassend sein, um den Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, ernsthaft zu begegnen. Ein paar kleinere Retuschen werden nicht ausreichen. Es geht um nichts weniger als um eine revolutionäre Wende, die an den Wurzeln unserer Gesellschaft anpackt. Eine radikale Wende, die gleichzeitig pragmatischer nicht sein könnte. Sie fordert nichts anderes ein, als dass die Menschen und ihre Bedürfnisse ins Zentrum gesellschaftlicher Bemühungen gestellt werden.

Diese Überzeugung teilen wir mit vielen Menschen. In der Schweiz hat eine Gruppe rund um den Thinktank Denknetz im Mai 2020 das Plädoyer »Perspektive Care-Gesellschaft« lanciert.11 Die Autor*innen des Texts stellen fest, dass die Corona-Krise den Blick auf eine verwundete Welt geschärft hat, »die gleichermaßen globalisiert und zerrissen ist«. Gleichzeitig werden zur Bewältigung der Corona-Krise auch enorme materielle Ressourcen und soziale Energien mobilisiert. »Solidarität und Kooperation erhalten eine Bedeutung, wie sie in der neueren Geschichte beispiellos ist. Gesellschaften und Staaten erweisen sich in einer Weise als handlungs- und wandlungsfähig, die im Umgang mit anderen Krisen neue Perspektiven eröffnet. Diese Perspektiven lassen sich aber nur mit einem entschlossenen politischen Richtungswechsel verwirklichen.« Dieser muss in einen neuen Gesellschaftsvertrag münden, der sich an den Prinzipien von Care, Kooperation, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientiert. Dazu muss eine massive Aufwertung der Care-Arbeit mit einer radikal verstärkten Sorgsamkeit im Umgang mit der Natur und mit den zivilisatorischen Errungenschaften verbunden werden. Die Service-public-Revolution erfasst lange nicht alle Dimensionen einer solchen Care-Gesellschaft, aber sie konkretisiert für viele Bereiche, was geändert werden kann und muss. Darauf gehen wir in Teil III genauer ein. Wir hoffen, mit unserem Buch zur Stärkung dieser Perspektive beizutragen, und wir hoffen, dass die vielen kraftvollen Bewegungen der Gegenwart zusammen mit den sie unterstützenden Organisationen und Parteien eine gemeinsame Dynamik entwickeln und damit wieder Türen öffnen in eine lebenswerte Zukunft.

 

Wer will, dass die Welt kapitalistisch bleibt, will nicht, dass sie bleibt.

FREI NACH ERICH FRIED

There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.

WARREN BUFFET, INVESTOR-IKONE UND DRITTREICHSTER MANN DER WELT IM INTERVIEW MIT BEN STEIN IN DER NEW YORK TIMES, 26. NOVEMBER 2006

Im Folgenden geht es uns darum, zentrale Konzepte für das Verständnis der Krisenhaftigkeit unserer Zeit und die Notwendigkeit einer Service-public-Revolution genauer herauszuarbeiten. Wir gehen zunächst der Frage nach, was Ungleichheit mit unseren Gesellschaften anrichtet. Zweitens versuchen wir zu zeigen, wie uns die Logik des Kapitalismus immer tiefer in den Sog der Krisen hineinzieht. Der dritte Abschnitt widmet sich der Frage, was Care-Ökonomie genau ist und warum sie sich der kapitalistischen Verwertung widersetzt. Abschließend gehen wir in einem kurzen vierten Abschnitt darauf ein, warum wir der Ansicht sind, dass das Bruttoinlandsprodukt und die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ersetzt werden müssen durch neue Messgrößen, die auch ökologische, soziale und internationale Folgen unseres Handelns und Wirtschaftens abbilden.

WIE UNGLEICH IST DIE WELT?

Zu den wichtigen Aspekten der Corona-Krise gehört, dass das Virus alle Menschen gleichermaßen trifft und sie dennoch sehr ungleich davon betroffen sind. Ob jemand zum Beispiel ein Ausgehverbot gut übersteht, hängt wesentlich von den Wohnverhältnissen, der Einkommenssicherheit und der gesellschaftlichen Infrastruktur ab. Für viele Betroffene im globalen Süden waren die Lockdown-Maßnahmen oft ebenso bedrohlich wie das Virus selbst. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Auswirkung von Pandemien auf die Ungleichheit innerhalb von Staaten untersucht, namentlich von SARS (2003), H1N1 (2009), MERS (2012), Ebola (2014) und Zika (2016). Die Forscher*innen stellen für einen Zeitraum von fünf Jahren nach der Pandemie einen erheblichen Effekt auf die Ungleichheit fest. Der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen (nach Steuern und sozialstaatlichen Transfers) lag im Schnitt um 1,5 Prozent höher als vor der Pandemie. Das ist in der Einschätzung des IWF ein ziemlich starker Effekt für eine Kennzahl, die sich normalerweise nur über sehr lange Zeiträume verändert. Die Forscher*innen weisen insbesondere darauf hin, dass das Resultat umso überraschender ist, weil alle Regierungen versucht hätten, der drohenden Zunahme der Ungleichheit mit politischen Maßnahmen entgegenzuwirken.

Die Untersuchung zeigt auch, dass verschiedene Klassen der Bevölkerung ganz unterschiedlich von Pandemien betroffen sind. Tatsächlich verändern sich Einkommen und Arbeitsverhältnis der am besten ausgebildeten Bevölkerungsgruppen (tendenziell jene mit den höchsten Löhnen) auch während Pandemien kaum, während schlechter ausgebildete Menschen (mit tendenziell tieferen Löhnen) deutlich häufiger ihre Arbeit verlieren.12

Ein solcher Verlauf zeigt sich in erschreckender Deutlichkeit auch in der Corona-Krise. In einem Bericht vom 3. Juli 2020 nennt das UN-Welternährungsprogramm die Zahl von 121 Millionen Menschen, die wegen der Folgen der Corona-Pandemie schwerwiegenden Hunger leiden müssen.13 Die Weltbank wiederum geht davon aus, dass die Zahl der Menschen, die mit weniger als 5,5 US-Dollar am Tag auskommen müssen, Covid-19-bedingt um bis zu 560 Millionen ansteigen, die Zahl der Menschen unterhalb der internationalen Grenze für extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag) um bis zu 100 Millionen zunehmen wird. Diese Prognosen haben sich innerhalb eines guten Monats wesentlich verdüstert.14 Am anderen Ende der Skala stehen die reichsten 25 Milliardär*innen der Welt. Gemäß einer Untersuchung des Wirtschaftsmagazins Forbes haben sie ihr gemeinsames Vermögen in nur zwei Krisenmonaten bis Ende Mai um insgesamt 255 Milliarden US-Dollar vergrößert, wenig überraschend allen voran die Tech-Milliardäre Zuckerberg (Facebook, WhatsApp), Jeff Bezos (Amazon) oder Colin Zheng Huang (Gründer des zweitgrößten chinesischen Onlinehandelsplatzes Pinduoduo).15

Globale Ungleichheit

In vielen Bereichen der menschlichen Entwicklung sind in den letzten Jahrzehnten klare Fortschritte erzielt worden. In China sind in den letzten 40 Jahren Hunderte Millionen Menschen der extremen Armut entkommen. Fortschritte gibt es etwa auch bei der Kindersterblichkeit und dem Grad an Alphabetisierung der Bevölkerungen. Doch insgesamt bleibt das Bild düster – wir sind in Teil I bereits darauf eingegangen.

Der »Weltungleichheitsbericht« hat vor zwei Jahren die Daten zur globalen Ungleichheit zusammengetragen. Gemessen am Einkommen und Vermögen hat die Ungleichheit seit den 1980er Jahren praktisch überall massiv zugenommen (siehe auch Abb. 1, S. 22). 1980 gingen noch 16 Prozent aller in einem Jahr verdienten Einkommen an das reichste Prozent der Weltbevölkerung, 8 Prozent an die untere Hälfte der Weltbevölkerung. 2016 waren es bereits über 20 Prozent, die ganz oben »verdient« wurden, knapp 10 Prozent blieben bei der unteren Hälfte der Weltbevölkerung. Ingesamt hat das reichste Prozent vom gesamten Einkommenswachstum seit 1980 27 Prozent für sich verbuchen können.16

Die Datenlage ist bei den Vermögen schlechter als bei den Einkommen. Klar ist, dass die Konzentration von Vermögen ganz oben inzwischen krasse Ausmaße angenommen hat. Nimmt man, wie Oxfam, die Forbes Liste der Reichsten als Basis, dann besaßen 2010 die 388 reichsten Personen gleich viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Schon 2012 war die Zahl der Reichsten, die das gleiche Vermögen besitzen wie die ärmeren 50 Prozent, auf 159 gesunken, 2015 auf 62 und 2017 noch auf ganze 8. Das Bild wird von umfangreicheren Studien bestätigt.

Stark ungleich verteilt sind Einkommen und Vermögen auch zwischen den Geschlechtern. Männer besitzen im weltweiten Schnitt 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen. Die Lohndifferenzen sind immer noch beträchtlich. Kommt dazu, dass Frauen überdurchschnittlich oft in Branchen arbeiten, in denen die Löhne tiefer sind. Und sie leisten den Großteil der unbezahlten Arbeit in der Erziehung, Pflege und Betreuung von Kindern, Betagten und Kranken. Oxfam schätzt, dass dadurch den Frauen fast 11’000 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Einkommen entgehen.

Die Zunahme von Ungleichheit hat viele Gründe, und die Situation hat sich je nach Weltregion in den letzten dreißig, vierzig Jahren auch stark unterschiedlich entwickelt. Offensichtlich ist allerdings, dass wir seit der neoliberalen Wende Mitte der 1980er Jahre weltweit starke Senkungen von Unternehmens- und Vermögenssteuern sehen. So betrug der maximale Grenzsteuersatz auf Einkommen im Vereinigten Königreich 1978 noch 98 Prozent, 1983 bereits nur noch 75 Prozent; heute liegt er mit 45 Prozent massiv tiefer. Die USA senkten ihren maximalen Grenzsteuersatz auf hohe Einkommen von 70 in den 1980er Jahren auf 37 Prozent (seit den Zeiten des New Deal in den 1930er Jahren bis in die 1960er lag der Spitzensteuersatz sogar bei über 90 Prozent). In den europäischen Ländern sieht es ähnlich aus. Ausgeglichen wurden die Steuerausfälle teilweise durch den Abbau öffentlicher Dienste, teilweise durch eine Umverteilung von unten nach oben. So sind die Sozialabgaben und Einkommenssteuern für die mittleren Schichten vielerorts gestiegen, vor allem aber die indirekten Steuern wie die Mehrwertsteuer, von denen Wenigverdienende deutlich stärker betroffen sind als Reiche. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Steuerwüsten, die die weltweite Spirale nach unten bei den Unternehmenssteuern verstärken.

Sehr ungleich sind die globalen Verhältnisse auch in vielen anderen Bereichen. Stellvertretend sei hier die Betroffenheit durch die Klimaerhitzung erwähnt. Die reichsten 10 Prozent der Bewohner*innen unseres Planeten sind für gut die Hälfte aller Co2-Emissionen verantwortlich, die ärmsten 50 Prozent für gerade einmal 10 Prozent. Dieses Verhältnis wiederholt sich übrigens auch innerhalb der reichen Industriegesellschaften: Auch hier sind die Co2-Emissionen der reichsten 10 Prozent drei- bis viermal so hoch wie jene der unteren 50 Prozent.17 Umgekehrt sieht die Situation in Bezug auf die Betroffenheit aus. Der Großteil der Menschen, die von klimatischen Veränderungen besonders stark bedroht sind, leben im globalen Süden: in Regionen, die zunehmend unter unerträglicher Hitze leiden oder von einer Zunahme an Überschwemmungen betroffen sind; Regionen, in denen die Nahrungsmittelproduktion schon heute einbricht; Länder, die einen Anstieg des Meeresspiegels kaum bewältigen können, wie etwa Bangladesch oder viele Inselstaaten der Südsee.

Die Schweiz ist keine Ausnahme

Auch in der Schweiz haben die wirtschaftlichen Folgen der Krise eine Schockwelle ausgelöst. Die Bilder von Tausenden von Menschen, die in den Großstädten für Essensspenden anstehen mussten, haben das Selbstverständnis eines Landes verstört, das sich selbst als Hort des Wohlstands versteht. Das Blitzlicht der Corona-Pandemie hat nicht nur die real existierende Armut vieler Menschen aufgedeckt, es hat auch verdeutlicht, dass der Wohlstand vieler Menschen auf wackeligen Füßen steht. Die Caritas schätzt, dass circa 660’000 Menschen in der Schweiz arm und 1,16 Millionen Menschen armutsgefährdet sind (inklusive Nichterwerbstätige, also Kinder und Rentner*innen). Von Armutsgefährdung spricht die Caritas bei einem Einkommen deutlich unter 60 Prozent des mittleren Einkommens. Das betrifft fast 15 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl dieser Menschen dürfte in den Corona-Monaten stark ansteigen. So befürchtet die schweizerische Konferenz der Sozialdirektor*innen, dass sich allein die Anzahl Menschen in der Sozialhilfe aufgrund der Krise um 20 bis 35 Prozent vergrößern dürfte. In den letzten Jahren waren im Schnitt circa 250’000 Menschen von Sozialhilfe abhängig.

Laut der Lohnstrukturerhebung von 2018 bekommen in der Schweiz 1,3 Millionen Angestellte und Arbeiter*innen am Monatsende weniger als 4000 Franken netto für ihre Arbeit ausbezahlt. Mit diesen Einkommen ist man/frau in der teuren Schweiz arm oder in einer prekären Situation. Der ehemalige Co-Präsident der größten Schweizer Gewerkschaft Unia, Andreas Rieger, hat zusammen mit der aktuellen Präsidentin Vania Alleva und Pascal Pfister die Lohnstrukturen genauer untersucht. Sie prägen in ihrem Buch Verkannte Arbeit den Begriff »Wohlstand auf Abruf«. Damit meinen sie die 1,3 Millionen Lohnabhängigen, die netto pro Monat zwischen 4000 und 6000 Franken verdienen. Mit diesem Einkommen ist man zwar nicht arm, aber die Menschen sind kaum in der Lage, Rücklagen und Sicherheiten zu bilden. Eine etwas teurere Zahnarztrechnung, ein Unterbruch der Erwerbsbiografie oder eine Kürzung des Einkommens – wie zum Beispiel aufgrund von Kurzarbeit – bringt sie schnell an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten.

Die Corona-Krise hat darüber hinaus gezeigt, wie schnell ein großer Teil der 300’000 Einzelunternehmer*innen und vieler Inhaber*innen vor allem kleinerer Betriebe mit anderen Rechtsformen schnell in prekäre Situationen geraten. Viele von ihnen verfügen nur über sehr beschränkte finanzielle Ressourcen und geraten rasch erheblich unter Druck, wenn das Einkommen fehlt, aber die Rechnungen etwa für die Mieten weiterlaufen. Insgesamt waren Ende April 2020 1,9 Millionen Menschen in der Schweiz für Kurzarbeit angemeldet, 153’000 bezogen Arbeitslosengelder und 200’000 Menschen erhielten Leistungen der Erwerbsersatzversicherung. In normalen Zeiten sind Selbständige von der Kurzarbeit und der Erwerbsersatzversicherung ausgeschlossen, in der Krise wurden die Leistungen zumindest kurzfristig ausgeweitet. Insgesamt bezogen also gut 45 Prozent der 5,1 Millionen Erwerbstätigen eine dieser drei Leistungen.

 

Die Krise zeigt, wie sinnvoll sozialstaatliche Leistungen wie die Kurzarbeit sind. Sie schützen Menschen sehr effektiv vor dem schnellen Absturz in die Arbeitslosigkeit. In den USA sind Millionen von Erwerbstätigen von diesem Schicksal betroffen – und verlieren dabei überdies auch gleich noch den Schutz einer Krankenversicherung, weil diese an den Arbeitsvertrag gekoppelt ist.

Effektiv ausbezahlte Nettolöhne in der Schweiz, 12-mal pro Jahr


Quelle: Lohnstrukturerhebung 2018 des Bundesamts für Statistik und aktualisierte Berechnungen durch Andreas Rieger. Vollzeit und Teilzeitangestellte (Löhne nicht auf 100% hochgerechnet).

Für die Schweiz erfasst das »Denknetz« in seinen Jahrbüchern regelmäßig die neusten Verteilungszahlen. Alle zwei Jahre publiziert zudem der Schweizerische Gewerkschaftsbund eine etwas ausführlichere Untersuchung. Die aktuellste Version von 2020 bestätigt den Trend der letzten Jahre. Auch in der Schweiz nimmt demnach die Konzentration der Löhne ganz oben deutlich zu: Die höchsten Löhne (Top 1 Prozent) haben seit 1996 um 48 Prozent zugelegt, die mittleren Löhne um 15 Prozent. Das führt dazu, dass heute das reichste Prozent der Lohnabhängigen zwischen 11 und 12 Prozent der gesamten Lohnsumme beansprucht. Dieser Anteil war in den 1970er und 1980er Jahren deutlich tiefer und steigt erst seit Mitte der 1990er Jahre an. In Sachen Einkommensungleichheit bewegt sich die Schweiz ziemlich genau im europäischen Durchschnitt, hinter Großbritannien, vor Schweden und ungefähr auf dem Level von Frankreich.

Was die Konzentration der Vermögen angeht ist die Schweiz seit Jahrzehnten weltweit Spitze. Das vermögendste Prozent besitzt 42 Prozent aller Vermögen, die reichsten 10 Prozent bereits drei Viertel aller Vermögen (ohne Pensionskassenvermögen; siehe Abb. 2, S. 54). Etwas schwierig zu schätzen sind für die Schweiz die Pensionskassenvermögen und Vermögen in der dritten Säule. Da beide auf der Steuererklärung nicht angegeben werden müssen, liegen keine individuellen Daten vor. In Abbildung 2 wird der Vermögenanteil des reichsten Prozents einmal ohne Pensionskassen geschätzt und einmal, wenn man alle Pensionskassenvermögen gleichmäßig auf alle Versicherten verteilen würde. Da Letzteres sicher eine deutliche Überschätzung der tieferen Pensionskassenvermögen darstellt, kann diese zweite Schätzung als eher konservative Untergrenze einer möglichen Verteilung gelten.

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