Lieber Liebe

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Von Jo in seiner Wohnung scheinbar nur noch geduldet, nahm der Gedanke an ein eigenes Zuhause zu, so dass sie sich im Verband bildender Künstler meldete. Man verwies sie an den Magistrat. Sie geriet auf eine Liste für dringende Fälle. Wohl war sie sich dieser Bevorzugung ihres Berufsstandes bewusst, hatten sonst nicht mal geschiedene Ehemänner in absehbarer Zeit Aussicht auf eigene Wohnung. Zogen die nicht zu ihren Geliebten oder wussten anderweitig Unterkunft, hockten sie noch lange bei ihrer Ehemaligen und den gemeinsamen Kindern. Dennoch quälte sie die Aussicht, in eines der gerade am Stadtrand entstehenden Neubaugebiete abgeschoben zu werden. Nie würde Harald sie dort besuchen, und für sich selbst konnte sie sich ein Leben Tag und Nacht in einer Satellitenstadt auch nicht vorstellen. Und über Tausch eine Stadtwohnung zu finden, war heute schwierig. Die Komfortwohnungen draußen schienen den in der Stadt Verbliebenen nicht mehr so anziehend wie vor Jahren. Auf einer Verbandssitzung traf sie Irene. Die wohnte in nächster Nachbarschaft, woraus sich so etwas wie eine Freundschaft ergeben hatte. In letzter Zeit hatten sie sich allerdings wenig gesehen. Kaum fragte Irene, wie es ihr gehe, erzählte sie los auf Teufel komm raus. Du glaubst nicht, wie mir vor diesem Marzahn graut! Ich bin dort vollkommen abgeschnitten! Irene lächelte, was sie sehr hübsch konnte. War überhaupt eine hübsche Person, sehr zierlich, die feinen Haare kurz geschnitten, stark gekraust. Du könntest meine Wohnung haben!, sagte sie. - Deine Wohnung?! - Wir ziehen aufs Land. Sie erfuhr, Irenes Freund war ein Bauernhof im Oderbruch angeboten. Sie wollten den Absprung aus der Stadt wagen, die Wohnung des Freundes allerdings behalten. (Die Miete ja zum Lachen.) Sie dachte an Irenes Wohnung: im fünften Stock gelegen, ein Balkon gegen die Straße hin. Die Straße stiller, abgeschiedener als jede andere im Stadtbezirk. Irene behauptete sogar, es gäbe über die Balkone der Straße hinweg nachbarliche Kontakte. Irene!, sagte sie nach langem Aufatmen. Also wenn ich die Wohnung kriegen würde! Bekam gesagt, sie solle doch noch mal alles in Augenschein nehmen.

Die Besichtigung fiel so aus, wie sie es sich schon im Vorhinein gedacht hatte. Besseres nicht vorstellbar: Ein schmales Zimmer zur dunkleren Hofseite hin. Der Hof klein, die Kastanie reichte bis zum Fenster. Ein sehr großes Zimmer zur Straßenseite. Die Küche bot noch Platz zum Sitzen. Das Bad würde - neu gestrichen - einen nicht ganz so trübseligen Eindruck machen. Also, wenn du da mitmachen würdest, sagte sie zu Irene und meinte das Spiel mit den Ämtern. - Wenn man helfen kann, erwiderte die Freundin-Kollegin mit ihrem hübschen Lächeln. Aber morgen zieh ich natürlich noch nicht. - Ach, Irene! Wenn ich ne Aussicht habe. Sie ließ sich vom Bauernhof im Oderbruch berichten, nahm allerdings nicht nur freundschaftlichen Anteil. Je weiter der Ausbau gedieh, umso näher rückte der Einzug in eine eigene Wohnung mitten in der Stadt. Sie tranken heftig Kaffee, bedienten sich an dem mitgebrachten Kuchen, bedienten sich mit selbsthergestelltem Eierlikör und luden sich - fröhlichster Laune - schon jetzt in ihre zukünftigen Behausungen ein. Das wird meine erste eigene Wohnung, dachte sie. Ich fange ganz neu an und muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Nicht mal den Bäcker musste sie wechseln, blieb in der Gegend, in der Nähe des Friedhofs, der sich über den Berg hinzog, von dem der Stadtbezirk seinen Namen hatte. Eine Kirche an der oberen Allee, nicht zwischen Häuser eingebaut wie viele in der Gegend. Der Alex zwei Straßenbahnstationen weiter, bis zu Haralds Wohnung am Hackeschen Markt noch einmal fünf Minuten Straßenbahnfahrt. Das alles war gut für sie. Wäre am liebsten schon morgen wiedergekommen, um die Tapeten abzureißen und mit dem Renovieren zu beginnen. Wie nimmt Jo es auf?, fragte Irene mitten in schönste Vorstellungen hinein. - Weiß nicht. War mit einem Mal unsicher, ob Jo ihren Auszug wirklich gutheißen würde. Ich zieh ja bloß um die Ecke, beruhigte sie sich und Irene. Die Freundinnen gingen, um nötige Formalitäten gleich zu erledigen. Im Erdgeschoß öffnete ihnen eine schlampig aussehende dicke Frau. Die Wohnung düster. Zwei kleinere Kinder - eigene oder schon Kindeskinder - krochen durch die Räume. Sie trug sich im Hausbuch als Irenes Untermieterin ein. Die Frau keine von der Sorte, die sich als Hüterin der Ordnung bestimmt sah, was nur gutzuheißen war, kümmerte sich jedoch nach Irenes Aussage um den Hof, zog Pflanzen, die trotz starken Schattens der Kastanie und Nährstoffarmut aushielten. Zur Besiegelung des Akts beklebten sie Irenes Briefkasten mit einem Heftpflaster, auf den sie ihren Namen schrieb, wurde so nach außen hin dokumentiert, Irenes Wohnung hatte Untermieterin. War das nur noch der Meldestelle bei der Polizei mitzuteilen.

War Jo zu Hause, kriegte er Mittagessen. Jo war zu Hause. Also kriegte er ein Mittagessen. Sie schälte Kartoffeln, ließ sie durch die Maschine laufen. Wer wird sich dann um Jo kümmern?, dachte sie. Frauen hatte er neuerdings, aber immer andere. (Möglicherweise brauchte er Abwechslung, war die Lust an Neuem ein ermunternder Faktor für liebesmüden Mann.) Noch säuberte sie die Wohnung, wusch die Wäsche, nahm alle ihre Pflichten wahr wie bisher. Ich muss es ihm sagen, dachte sie. Es wird ihm die Laune verderben, aber ich muss es ihm sagen. Angehäuft Kartoffelpuffer. Sie rief Jo. Sah dann auf zufrieden gabelnden Mann. Ich muss es ihm sagen. Jetzt!, dachte sie, öffnete den Mund. Ich hab eine Wohnung in Aussicht. Jo kaute und dann nicht mehr. Wieso?, fragte er endlich. Das ist deine Wohnung, Jo, sagte sie geduldig. Ich hab hier die ganzen Jahre mit dir gelebt. Aber jetzt geht das nicht mehr. Du bringst Frauen mit. Und ich hab einen anderen Mann. – Darauf läuft das also hinaus. Jo nickte. - Wir können uns treffen, wir können gute Freunde sein, Jo, alles. Und vielleicht fängst du ganz neu an. - Wie denn? Jo schrie. Zum dritten Mal?! Sie buk weiter, setzte sich mal hin, um nun auch zu essen. Die fünfzehn Jahre waren also nichts, sagte er nach langer Pause. - Wir sind an einem Punkt angekommen, Jo! - Mein Gott, du hast eine Affäre. Und ich habe Affären. Aber was hat das mit uns zu tun! Jo schrie wieder. Ich liebe dich! Also! Ich sag nichts mehr, dachte sie.

In der folgenden Zeit tat sie alles, um Jo zu beruhigen, umsorgte ihn, versicherte ihm, im Grunde trennten sie sich gar nicht. Sie brauche nur ihre eigenen vier Wände und mehr Platz zum Arbeiten. Seine Wohnung sei zwar groß, aber ungünstig für zwei, die zu Hause arbeiteten. Und er könne dann Frauen mitbringen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Harald rief an. Gegen elf! Hatte schon wieder aufgelegt, ehe sie ihn hatte fragen können, auf wie viel oder wenig Zeit sie sich einzurichten hätte. Zog sich in größter Geschwindigkeit um, stellte da inzwischen Rekorde auf. Ging an Jo im Wohnzimmer vorbei. Die Stimme ihres Herrn!, sagte Jo. - He? - Du musst dir die Werbung für »Grammophon« vorstellen, einer Plattenfirma. Ein Grammophonkasten, ein Trichter. Und mit Schnauze und Ohren in den Trichter hinein lauscht ein Hund. »Die Stimme seines Herrn« steht darunter. »His masters's voice«. Lächelte sie nun über sich böse: Jo hatte recht. Fand sie ja keine Ruhe, bis es Harald einfiel, sie anzurufen. Er bestellte sie irgendwann am Tag, irgendwann in der Woche. Kaum noch am Abend. Es ist unwürdig, sagte Jo. - Es ist unwürdig, wiederholte sie. Was soll ich machen? Rannte die Treppe hinunter, zur Straßenbahn, die so häufig nicht kam. Grämte sich schon, wenn sie fünf Minuten später da war, als Harald ihr angegeben hatte. Glaubte, das ginge von ihrer Zeit ab. Manchmal allerdings dachte sie, er entließ sie sowieso nach einer gewissen Zeit, gleichgültig, wie früh, wie spät sie kam. Wochen war sie in seine Wohnung geschlichen in Erwartung des Schlimmsten: dass er sie für immer wegschicken würde. Wenigstens diese Angst hatte sich verloren. Fiel dem Duftenden, Honigfarbenen um den Hals. Na, na, ich dächte, wir hätten uns in dem Monat schon mal gesehen, scherzte der Gottgleiche. Waren ihre Hände flink inzwischen schon sonst wo und schnell lose der leichte Mantel. Führte, getreuesten Knecht im Griff, zur Lagerstatt, war inzwischen eine Zeremonie, und wenn, dann Tee danach verlangt. Bestand er nicht mehr auf der Berührung durch ihre Hände, war das Pendel der Uhr wieder in Gang gebracht. Er setzte sich auf: das nächste deutliche Zeichen. Eine Stunde nur!, sagte sie. - War es nicht eine schöne Stunde? (Hatte eine Art, immer im Recht zu sein!) - Ja. - Ich versichere dir, wir haben ein Pensum hinter uns, was die Paare in der Straße in drei Monaten abarbeiten. - Aber warum sagst du mir nicht vorher, dass ich nur so kurz bleiben kann? - Du wärst enttäuscht. Das möchte ich nicht. - Sehen wir uns die Woche noch mal? - Kann sein. - Also sehen wir uns nicht? - Doch. Kann durchaus sein, dass wir uns sehen. Gab ihr die Antwort ungewisse Hoffnung. Wie haben es deine Freundinnen vor mir ausgehalten? - Gar nicht! Seine Lippen zogen sich über die Zähne. Viel Freundlichkeit und ein wenig Zynismus dabei. Klärte sie auf: Lediglich auf seinen Fahrten durch das Land oder früher auf Dienstreisen im Ausland hätte er mit allzu bereitwilligen Frauen was gehabt. Seien mal welche aus der Stadt darunter gewesen, hätten die höchstens drei Monate ausgehalten. Sie haben sich wie du beklagt, ich wäre mit meiner Arbeit verheiratet, sagte er. Die Wahrheit ist, ich hab das Interesse verloren. Das wollte sie nun gar nicht glauben. Ein solcher Mann, einer, der den Hals ebenso wenig voll kriegte wie sie, der seit wie viel (vielleicht zehn?) Jahren nichts mehr mit eigener Frau hatte und hatte nie eine feste Freundin gehabt? Ich hab dir doch gesagt, es ist mir immer langweilig geworden. Aber nun geh, mein Schatz. Ich muss noch was tun! Auf der Straße wurde sie ganz froh. Er wollte sie, weiter zählte nichts. Sollte sie ihm vielleicht wirklich glauben, dass ihr Herr Harald doch ein Geschmäckler war, abhing von Kleinigkeiten, die ihn ermunterten oder im Gegenteil, dass er ganz von Frauen abließ.

 

In Jos wie steinernem Gesicht konnte sie doch was lesen, Verachtung nämlich. Man sieht es dir an, sagte er. Und dieser Geruch! Eine Hure machte Jo aus ihr.

War mal ein ganzer Abend versprochen! Hüpfte sie davon, egal, was Jo nun dachte über Hörigkeit, also Aufs-Wort-eines-gewissen-Jemand-Horchen, wie ein Hund Lauscher aufsperrte gegen seinen Herrn hin. Während Auskundschaftens, wie Freude ihrem Liebsten und sich selbst noch zu bereiten sei, machte Herr Harald seine Späße und fragte, wo sie denn in den vergangenen siebenhundert Jahren gewesen sei. China? Indien? Sie lachte über seine Fantasien. Das hatte es in ihrem Leben nie gegeben und im Leben welcher Frau schon?, ein Mann mit solcher Wortlust, von anderer ganz zu schweigen. Haben es nicht auch andere Männer bemerkt? - Nein, gab sie nachdenkend zur Auskunft. Sie waren zufrieden mit sich, mit mir wohl auch. Ich dachte immer, ich brauche zwei Männer auf einmal. - Sechs würde ich denken und mehr, warf Harald ein. Sie versicherte ihm, sie habe nun nicht mehr den Gedanken, zwei Männer haben zu müssen. Sagte ihm aber nicht, vollkommene Sättigung sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erreichen. Aus jahrelangem Mangel war eine Angst gewachsen, nicht genug zu bekommen, und die wurde noch gespeist von der Vorstellung, er würde sie ja doch bald wieder verlassen, so dass dann neuer Mangel sie ereilte. (Hatte ihr ja gesagt, würde seine Frau von ihr erfahren, wäre es aus mit ihnen.) Harald redete weiter. Hatte ja schon mal Vermutung geäußert, sie sei eine Hexe. Folgerte aus unmenschlich hohem Alter zwangsläufig Kontakt zu teuflischen Mächten. Im Mittelalter hätte man dich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, meine Liebe, sagte er. Hast du nicht rotlockige Haare? - Braune oder so. - Sie sind lockig und deutlich rot, beharrte er. - Bei Sonne höchstens ein Schimmer. - Und Hexenaugen hast du. Eins grün, das andere braun und grün. Das ist ganz besonders gefährlich. Man hätte dich verbrannt, ganz klar. - Ich habe Mausaugen und eine spitze Nase und seh aus wie ... als könnte ich nicht ... Sie stotterte, wollte sich durch wenig schonende Selbstdarstellung nicht ganz preisgeben. Musste Harald ja nicht mit ihren Augen auf sie schauen. - Aber der Kenner erkennt, sagte Harald. Du hast zweifarbige Augen, das erste deutliche Indiz, einen kleinen Höcker auf deiner Nase und lockige Rothaare. - Bockig ihre Widerrede: Hätte ich eben eine Sonnenbrille tagsüber getragen, meine Haare geglättet und den Rotschimmer weggemacht! - Sonnenbrillen waren noch nicht üblich!, gab Harald zu bedenken. - Ich hätte behauptet, ich habe braune Augen. - Aber ich hätte dich verraten. Deine zweifarbigen Augen und dass du deine Haare mit sonderbaren Tinkturen färbst, damit man den Rotschein nicht sieht und dass du sie glättest. Und jeder hätte mir geglaubt. Denn nun hätten die Männer gewusst, warum sie nachts nicht schlafen können und einer wie der andere Nacht um Nacht dich besuchen muss. Weinend hätte ich Holzscheite für dich gesammelt. Denn nur so hätte ich mich retten können. Sie dachte nach. Ihr schien auch wahrscheinlich, dass sie auf dem Scheiterhaufen geendet wäre. Vielleicht aus dem Grund, den Harald angab. Denn wenn sie liebte, gab es für sie kein Halten. Oder weil sie überhaupt von dem, was sie einmal wollte, nicht abzubringen war und sich ihre ansonsten große Anpassungsfähigkeit mit einem Mal erschöpfte. Ich hätte Tränen um Tränen um dich vergossen, meine süße Hexe, fuhr Harald fort. Ich hätte die Asche vom Platz gekehrt und sie in einem Kästlein aufbewahrt. Nacht um Nacht hätte ich dich um Verzeihung gebeten. Aber ich hätte meinen Frieden gehabt. Du wärst nicht mehr nachts mit dem Besen zur Feueresse hineingefahren, um mich zu vernichten. - Ich hätte dir verziehen, mein Lieber, antwortete sie ergriffen. Da ich so und so verbrannt worden wäre. - Sei froh, dass du denen damals entkommen bist. - Bin ich auch. - Und ich muss leiden. - Sie lachte. Ist es so schlimm? - Ich war in meinem Leben immer unabhängig. Von jeder Frau bin ich weggegangen und hatte noch etwas für mich und war stolz darauf. Aber du plünderst mich bis zum Letzten aus. - Bis zum Letzten? Sie streichelte ihn über Empfindsamstes. - Ich weiß nicht, wo noch was herkommt. Vielleicht habe ich nur das Gefühl von Orgasmus, und es kommt gerade ein winziges, kleines bisschen, ein Tröpflein. Als sie sich anzog, schlugen ihre Zähne wieder aufeinander. Er lachte. Also habe ich dich befriedet, sagte er. So derbe Ausdrücke er manchmal benutzte, gewöhnliche nahm er nie, spielte mit den Worten. Ja, hast du, sagte sie. - Dann bin ich froh. Denn dann kann ich hoffen, dass du es mal ein paar Wochen ohne mich aushältst. - Was?! - Ich mache Urlaub. Draußen auf dem Grundstück. - Aber! Die Worte gingen ihr aus. Hatte keine Kraft mehr. War offenbar seine Taktik, ihr was Unangenehmes mitzuteilen, wenn sie sich matt getanzt hatte. Du machst doch hoffentlich auch Urlaub!, sagte er, hatte es raus, von sich abzulenken. Wir sehen uns wieder, mein Schatz. Was sind vier Wochen! Heiteren Abschied wollte Harald. Ich bin so müde, ich kann nicht mehr denken, sagte sie. Ging weg von ihm, ganz durcheinander im Kopf von sich widersprechenden Gefühlen. Hatte er sie zu seiner Hexe erkoren und ihr also bindende Kräfte nachgesagt und danach ohne Aufhebens weggestoßen. War wohl doch nicht sie diejenige, welche, sondern er, der zu beliebigen Zeiten in Essen hineinfuhr, um in Küchen ziemliches Unheil anzurichten.

2

Lange gebucht die Schwarzmeer- Reise. Jo bot an, sie mitzunehmen. Wollte zu Schewtars entfernt Verwandten, nicht allein reisen und mit einer anderen offenbar auch nicht. Schewtar ein bulgarischer Kameramann. Zwei Wochen weit weg, dachte sie, wo die Menschen anders aussehen, anders leben, ihre Häuser anders gebaut, die Dächer anders gedeckt. Große Märkte mit fremden Gewürzen. Wenn sie wollte, zu allen möglichen Tageszeiten Schopska-Salat, über Tomaten-Gurken-Paprika Schafskäse gerieben. Frauen betupften sich mit Rosenöl, die Rosen in Tälern kilometerweit gezogen, frühmorgens pflückte man die Blätter. Noch immer wurden die Russen als Befreier vom türkischen Joch gefeiert, die jahrhundertelange Türkenherrschaft nicht im Mindesten vergessen. Gefeiert auch der Tag des slawischen Schrifttums, für dessen Herausbildung die Mönche Kyrill und Method standen. In den Bergen Klöster, in denen sich der Widerstand gegen die Türken gehalten hatte. Und immer Sonne, in der Feigen reiften. Versuchen wir es, sagte sie zu Jo. Und sie beluden sich mit Gastgeschenken, mit Waren, die es im Land dort nicht gab. War mehr wert als Geld, das sie mitbrachten. Zu ihrem Empfang gab es ein Fest. Taten sie vor Schewtars Verwandten, als seien sie die von vor einem Jahr. Die erste Nacht nebeneinander wegen großer Müdigkeit besser erträglich als die nächste. Würde dauern, bis sie die Nähe des einst mal sehr lieben Mannes als nicht bedrohlich wahrnähme. Wusch sie sich mit Brunnenwasser, von ihm geholt, ging er aus dem Raum. Obwohl sie wusste, er schaute nicht, ertrug sie seine Anwesenheit nicht mehr. Frühmorgens, wenn es kühl war, verließen sie das Dorf. Der Weg bis zur Küste, zum Strand eine Stunde zu Fuß, leicht zu bewältigen. Zeit hatte man in diesem Land. Immer gleiche fremde Musik wie fortdauernde Reigentänze, man sah über das ewig blaue Meer. Irgendwo jenseits Griechenland. Konstantinopel nicht so weit weg. Beides unerreichbar für Bürger ihres Kleinlandes. Jo in wenigen Tagen durch südliche Sonne noch dunkler als von den Wochenenden auf dem Grundstück der Mutter. Seine dunkle Hautfarbe, die drahtigen kurzen schwarzgrauen Haare, auf den ersten Blick unterschied ihn lediglich seine Körpergröße von den Einheimischen. Lenas Haut empfindlich, so hielt sie sich nach dem Baden im Schatten auf. Wurde es zu heiß, suchten sie in der Stadt Schutz. Die Stadt von den Griechen erbaut und griechischen Ursprungs der Name. Überall konnte man sitzen. Sie schlürften starken, süßen Kaffee aus winzigen Tassen, ließen sich auch mal aus dem Kaffeesatz lesen, verzehrten sehr süßes Gebäck, was man nirgendwo sonst hätte haben mögen. Abends aßen sie warm. Nachts ließen sie sich mit dem Taxi nach Hause bringen. Manchmal Jo nicht ansprechbar. Sie wartete geduldig, bis er nach Stunden das Wort an sie richtete. Wollte sich nicht beeindrucken lassen von seiner unguten Stimmung. Dachte: Warum habe ich nicht genug an ihm. Wir sind doch auch glücklich gewesen. Meist beherrschte sie und er offenbar auch obere Bewusstseinslage, so dass sie sich recht gute Urlaubstage machten.

Heimkehr in beschädigtes Leben erfolgte. Sie wie angekettet an die Wohnung, hatte Harald den genauen Termin ihrer Ankunft mitgeteilt. Rechnete zunächst jede Stunde mit seinem Anruf. Brachte es nicht über sich, zu Jo hinauszufahren, der restlichen Urlaub auf dem Grundstück seiner Mutter verbrachte. Kalt der Sommer, regnerisch. Das konnte ihr nur recht sein. Sie hatte Sonne genug gehabt. Und die Stadt würde bei Hitze nur unerträglich. Abends um eine bestimmte Zeit meldete sich Jo von einer Telefonzelle aus. Von Harald hörte sie nichts. Endlich entschloss sie sich, die Stadt ganz zu verlassen. Sollten mindestens ein paar hundert Kilometer sein zwischen ihr und dem, der ihr Herz so übermäßig beschwerte. Sagte Jo beim abendlichen Gespräch Bescheid. Wäre auch rausgefahren zu ihm, hätte er sich nicht gemeldet.

Ihre Familie im Thüringischen immer anzutreffen. Des Gartens wegen reisten die Eltern nie im Sommer. Sicher auch der Bruder zu Hause. Am Bruder hing sie. Mehr als der Bruder an ihr. Wusste der neun Jahre Jüngere nichts von ersten Jahren schwesterlicher Fürsorge. Du warst ja nie da!, hatte er mal auf ihre Frage hin behauptet, ob er sich nicht erinnere. Abwesenheiten seit Oberschulzeit hatte sich ihm eingeprägt und nicht die Jahre bis dahin. Die Eltern hatten beide tagsüber in der Stadt gearbeitet. So war ihr die Aufgabe zugefallen, ihn zu versorgen. Hatte den kleinen Kerl mit der Liebe überschüttet, die bei der Mutter keinen Nährboden fand und es ihm nicht angelastet, dass er bei der Mutter so viel mehr galt als sie.

(Was das gewesen war, dass die Mutter sie klein halten wollte. Du denkst nur an dich! Hatte das so oft von der Mutter zu hören bekommen. War auch häufig davon die Rede gewesen, sie müsse einen Dämpfer bekommen, damit sie nicht zu übermütig werde. Aber weshalb musste man sie dämpfen? Wegen des Lobs der Lehrer und ihrem Drängen, sie auf die Oberschule zu schicken? Oder weil die Mutter nie recht klug aus ihr wurde? Ich hab mich mit dir nicht zurechtgefunden, hatte die Mutter später zugegeben. Zu allem Unglück schoss sie noch lang auf, was in der Familie nicht üblich war und wahrscheinlich auch noch als Zeichen von Hochmut angesehen wurde. Vor allem hatte es den Nachteil: Sie wurde für älter und weniger hilfsbedürftig genommen, als sie war. Hatte sich dabei so bemüht, es der Mutter recht zu machen, wenn sich auch Gehorsam nicht so behände einstellte, wie die Mutter wollte. Hatte sich die christlichen Lehren - aus dem Religionsunterricht und der Mutter Munde vernommen - zu Herzen gehen lassen. Jedenfalls, solange sie bei den Eltern gelebt hatte.) Fuhr nicht allzu oft ins Thüringische. Mochte die Erinnerung an die Landschaft, die Wälder, das Bergige, die Wiesenhügel, die Rinnsale in Tälern vor allem. Musste die aber nicht ständig auffrischen.

Nach umständlicher Fahrt stand sie abends vor elterlichem Haus und Vorgarten. Die Mutter hatte es so eingerichtet, dass immer was blühte, um die Zeit überreichlich (die Augen ertranken fast in den Farben), ohne dass sie viel mehr dafür tat, als bei Trockenheit zu gießen. Sie ging um das Haus. Näher als die Menschen, zunächst das Stück Land: gehegt, gepflegt Jahr um Jahr, hatte sie selbst auch mal mitgetan. Doch was man auch tat, es war nur Hilfe. Das Wachsen, Blühen, Reifen blieb ihr immer ein unerklärlicher, wunderbarer Vorgang. Der Garten auch wie ein Spiegel der Mutter, ein wunderlicher zwar. Dagegen der Vater in seinem Nutzgarten gut zu erkennen. Er hatte dort nach Feierabend und sonnabends Gott sei Dank seine Arbeit - die Sonntagsruhe den Eltern heilig -, so dass sie sich darauf einrichtete, ihn gleich zu sehen. Erblickte ihn dann auch auf der Obstwiese hinter bestelltem Land. Mit gleichmäßig scharfem Geräusch sauste die Sense ins Gras, geführt von kleinem, zähem Mann, das Gesicht von der Sonne verbrannt, spärlich bedeckt sein Kopf von rötlichem Haar. (Da konnte sie vielleicht doch den Rotschimmer her haben, den Harald gern an ihr sehen wollte.) War der Vater so weit weg und beschäftigt, dass Begrüßung noch nicht notwendig wurde. Sie besah stattdessen mit kleinem Lachen, was gartenbildnerische Seele des Vaters angerichtet hatte: akkurate Beete, die Bohnenstangen gesteckt, die Schnüre gezogen, an denen sich die Erbsen heraufhangelten. Die Stachelbeer- und Johannisbeerbäumchen in Reih und Glied gepflanzt, die Tomaten an Stöcke gebunden und wie zum Appell angetreten. Kartoffeln auf einem Viereck, da ein Gurkenbeet, da ein Kräuterbeet. Am wenigsten ließ sich der Rhabarber in eine Disziplin zwingen. Angesichts des überwuchernden Lebenswillens der Natur das Streben nach Ordnung etwas lächerlich. Der Vater brauchte es eben ganz genau, war für Richtschnuren aller Art dankbar. Hatte sie sich nun vergewissert: Alles war wie von jeher, hätte nun beinahe wieder wegfahren können, musste sich ein wenig überwinden, um ins Haus zu gehen. Am liebsten erst hinauf zum Bruder, den kleinen Kindern. Aber zunächst verlangt - da gab es Rangordnung, war Reihenfolge einzuhalten - die Begrüßung der Mutter. Die liebte Überraschungen nicht. Sie fand die Mutter in der Küche. Natürlich. Die Mutter hob den Kopf und schaute ihre Tochter an wie etwas, das man erst lange in Augenschein nehmen musste, ehe man einen Sinn drin erkannte. So hatte die Tochter auch Zeit, die Mutter anzusehen, das spitzige Gesicht, die Augen nüchtern-hellwach, die frisörgekrausten Haare noch dunkel und voll. Schreiben kann heute wohl keiner mehr, sagte die Mutter. Jo ist nicht mit?, der zweite Satz, auf den viele weitere folgten. Reichte die Mutter den Ellenbogen zur Begrüßung. Sie wusch grade Salat im Abwaschbecken, folglich ihre Hände nass. Wurde sie zunächst über Versorgungslage auf geklärt (Hier ist nicht Berlin!), als befürchte die Mutter, Ansprüchen nicht gewachsen zu sein. Aber dann stand was viel Bessres auf dem Abendbrottisch als in der Stadt, nämlich eingeweckte Wurst und selbst eingelegte Gurken. Die Haustür klappte. Wir haben einen Gast!, rief die Mutter in den Hausflur hinaus, vermutete offenbar den Vater. Sie konnte sich schon das lachende Gesicht zum Rufen denken, denn die Mutter hatte sich gefasst und freute sich auf den Mann, dem jetzt Überraschung bevorstand und der besser als sie dazu geeignet war. Sagte der Vater dann im Anblick seiner großen Tochter mit ordentlichem Erstaunen: Na so was aber auch! Der Vater ein stiller Mann. Überließ alles seiner Frau, weswegen sie ihn als Kind nach vielen Versuchen als Halt nicht hatte ausmachen und seine Freundlichkeit nicht so ernst hatte nehmen können. Sollte jetzt sein: vergangen, vergessen. War in der Wohnküche daheim. Für heute und mal sehen für wie lange noch. Es entstand in ihr heftiges Sehnen, dass Harald sie bloß bei den Eltern sehen sollte. Nachher erfolgte der Besuch im oberen Stockwerk. Das hatte sich der Bruder mit Hilfe des Vaters ausgebaut. Der eine Elektriker, der andere Klempner, fanden sich beide in jedes Gewerk ein. Die Wohnungstür abgeschlossen, damit sich die dreijährige Tochter nicht davon machte und vielleicht die steile Treppe hinunterstürzte. Musste erst der Familienvater kommen, sie zu öffnen. Bei der Ansicht der Schwester lief so ein Lächeln über das kernige, kantige Gesicht des Bruders Jürgen, bildete sich einseitiges Grübchen von einem der unvermeidlichen Stürze in früher Kindheit her. (War ein neugieriger, unerschrockener kleiner Kerl gewesen, dass sie manchmal mit dem Aufpassen nicht nachgekommen war.) Jeder war ihm gut für so ein Lächeln und sie sowieso überwältigt davon, egal, woran er sich nicht mehr erinnerte. Hatte seine Frau für sie auch ein zu Herzen gehendes Lächeln einfacher Frau vom Lande übrig. Klar, komm nur, is' immer wer da!, sagte sie auf die Entschuldigung nun wenigstens der Schwägerin gegenüber, dass sie sich nicht angemeldet hatte. Die blonde Mara guckte scheu aus schmalen, hellen Augen heraus, brauchte Zeit. Fand sich schon noch zu ihr und wusste immerhin den Namen, als ihn der Vater abverlangte. Und Katja?, fragte sie. Da musste der Bruder gleich die Tür zum Schlafzimmer öffnen, damit sie die Kleine sah. Dunkle, noch weiche Haare, der Mund stand offen, niedliches Gesichtchen. Tat ihr gut und auch wehe, das Kind zu sehen. War ihr bei Mara während des ersten Lebensjahrs auch so gegangen. Hatte beim allerersten Hinsehen auf jeweiligen Winzling gar nicht begreifen können, warum der nicht (oder ein anderer solcher) in ihrem Arm lag und ihres war, und Zeit gebraucht, um sich an Besitzverhältnisse zu gewöhnen. Hätte so gern ein eigenes Kind gehabt. Aber konnte keines bekommen.

 

Die Tage füllte sie mit Märschen, Cape gegen Regen und Skizzenblock dabei. War immer was, das man notieren konnte. Während man in der Ebene nur ungefähr ging, alles auf sich zukommen ließ, wollte hier erobert werden, hatte man üblicherweise einen Zielpunkt. Lange hatte sie sich an das Brandenburgische nicht gewöhnen können mit den weiten Flächen, den sandigen Böden und den Katendörfern und gemeint, man müsse doch irgendwo hinaufschauen oder hinab, um sich überraschen zu lassen. Jetzt hatte sie sich in die Weite eingesehen und fand auch darin Aufregendes und war die Mark doch so reich durch viele Seen. Während sie wanderte, sah sie oft Harald neben sich. Konnte ihn ganz deutlich ausmachen in Kleidung und der Art zu gehen, in allen Einzelheiten. Wollte ihm alles sagen, sollte er alles anschauen. Glaubte mit einem Mal, sie sei doch wichtig für ihn und er wolle sie wiedersehen. Abends schaute sie nach einem im Dorf verbliebenen Freund aus der Grundschulzeit her, ließ sich erzählen, von ihm selbst und was er von anderen wusste, war vor allem aber bei der Familie des Bruders, den Kindern, achtete darauf, dass die Eltern sich nicht vernachlässigt fühlten. Jeden Abend, jede Nacht die Unruhe größer, dass Harald doch anrufen könnte und keiner, der ihm Bescheid sagte. Hielt es endlich nicht mehr aus. Der Abschied von der Familie freundlich, doch ohne Barmen. Hier lebte man so, und ganz anders lebte man in der Großstadt, und sie eben eine Großstädterin.

Abends kam sie an, frühmorgens machte sie sich auf den Weg zu Jo auf das Grundstück seiner Mutter am nördlichen Stadtrand, damit er Bescheid wüsste. Jo eigentümlich still. Vielleicht wäre es ihr in Tagen gelungen, ihn wieder für sich einzunehmen. Aber es zog sie zurück in die Stadt, wo dann eigentlich niemand war. Auch nicht Irene, was sie gutheißen musste. Denn sicher richtete sie mit ihrem Freund den Bauernhof her. Wenigstens rief Jo um gewohnte Zeit an. Ohne seine Anrufe hätte sie sich sehr allein gefühlt. Eines späten Abends lief sie die heruntergekommenen Straßen um den Hackeschen Markt nach Haralds Auto ab. Die Nummer wusste sie ebenso auswendig wie die vom Telefon. Wartete vor seinem Haus, bis die Lichter in den Wohnungen angingen, in seiner nicht und noch immer nicht. Wurde gewiss: In der Stadt war er nicht, sie auch nicht, die Frau Thea. Die Nacht ließ das Ziehen und Zerren herzseitig nach. Bei so viel Abwesenheit von der Stadt war ihm Geldverdienen wohl wenig wichtig.

Mal in der Straßenbahn fiel ihr Blick auf eine junge gegen eine Haltestange lehnende Frau. Überschlank, die dichten Haare zu einem Knoten gewunden, die Augen von sehr dunklem Blau und groß, die Lippen aufgeworfen, die Nase wie aus Übermut klein wenig stupsig, doch dagegen stand der Missmut ihres Gesichts, durch abfallendes Kinn noch verstärkt. Den Ausdruck kannte sie, das Gesicht auch. Nach kurzem Herumkramen im Kopf wusste sie woher: War ein Mädchen aus der Parallelklasse, Freundin ihrer Freundin und Banknachbarin. Die beiden kannten sich von Grundschulzeiten her. Sie ging die paar Schritte auf Freundin der Freundin zu. Dorit? Ein Fragen kam in die Augen, der Name passte, so sagte sie wie einen Code ihren Namen, die Stadt, in der sie die Oberschule besucht hatten, die Zeit und den Namen der Freundin. Ja, sagte Dorit. Quälte sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Doch ja. Ich erinnere mich. Fragte sie nun schnell Dorit aus, ehe die vielleicht ausstieg, erfuhr, Dorit war noch nicht lange in der Stadt, hatte nach ihrer Scheidung weggewollt und ein Angebot von einem Berliner Großbetrieb bekommen. Dorit war Ingenieurin. (Hatte den naturwissenschaftlichen Zweig an der Oberschule belegt.) Bevor Dorit ausstieg, nannte sie ihre Adresse und ihren geänderten Nachnamen, stellte es ihr anheim, ob sie was draus machen wollte.