Lieber Liebe

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Drang kurz Haralds Stimme an ihr Ohr. Ein gesundes Neues!, sagte er munter. Die Feiertage hast du gut verbracht? - Ja, konnte sie auf so ne Frage nur antworten. Und dir auch ein ... - Jaja, sagte er. Ich melde mich. Musste man sich an ein neues Jahr immer erst gewöhnen. Mit schlechtem Wetter, schlechter Laune hatte es begonnen, alles wie im alten Jahr, nur vorübergehend noch weniger gut zu ertragen. Zum Beispiel die Anrufe des Geliebten, wenn sie endlich kamen und dann doch gar nichts brachten, nicht mal eine kleine Freundlichkeit für sie. Und sie wartete wieder, wann er denn Zeit für sie hätte. Du sollst nicht auf mich warten, sagte er dazu. Ich warte doch auch nicht. Schon paradox. Auf wen sollte er denn dringend warten, wenn sie ja doch nicht anrufen durfte. Jaja, wusste sie schon, wie er's meinte. Er wartet grundsätzlich nicht, dachte sie. Auf niemanden. Ihm ist alles Mögliche wichtig, aber nichts ist ihm so wichtig. Nicht mal seine Arbeit, die ihm das Wichtigste ist.

Endlich winkte sie der Geliebte ins neue Jahr hinein. Ermattet von so viel Tagen ohne ihn legte sie zur Begrüßung ihren Kopf an seine Schulter. Weißt du, wie lange wir uns nicht gesehen haben?, sagte sie. Vier Wochen! Er hielt sie, streichelte sie. Mir war es wie gestern!, sagte er. Klang, als ob er all die Zeit in seinen Gedanken bei ihr gewesen sei. Schon war sie versöhnt. In Süße verwandelte sich Bitterkeit. (Später jedoch sagte sie sich, er hätte es gut heraus, Anklagen zurückzuweisen, und bemäntelte mit solchen Reden, dass er ihre Abwesenheit sogar über Wochen gar nicht bemerkt hatte.) Nach hitziger Begrüßung erging er sich in Betrachtungen. War nun auch über ihn reichlich die Lust des Sehens gekommen. Hab ich dir schon mal gesagt, wie schön sie ist? - Einmal, glaube ich. - Ich bete sie an. - Ich bete ihn an. - Ich mach ihr einen Altar. Mit ihr hat Gott etwas Besonderes geschaffen. Ich bin nicht gläubig. Aber wenn er so was geschaffen hat, dann muss er auch gewollt haben, dass man so was tut, wie wir tun. Es ist Gottesdienst. - Es ist was ganz Heiliges, sagte sie, wunderte sich nicht über ihre gleichen Empfindungen. Sie erinnerte sich an die Abbildung einer steinernen Grabfigur in phallischer Form mit einer Gesichtsdarstellung in Art von Schmucknarben, westafrikanischer steinzeitlicher Fund, sagte ihm davon. Er berichtete von der Phallusanbetung der Griechen. Da wäre ich auch hinterhergetanzt, sagte sie emphatisch. Früher haben die Menschen noch gewusst, was anbetungswürdig war! Nahm es mal nicht so genau mit der Wahrheit, dass Überlebenswille den Fruchtbarkeitskult geschaffen hatte. Und dass der lüsterne Hirtengott Pan ja auch ein Unheilstifter war, denn höchste Form des Schreckens war nach ihm benannt.

Zu Hause in ihrem Bett liegend, formte sich ein Bild wie aus einem Traum: Ein aus gelbem Holz geschnitzter Götze, die Beine übereinandergeschlagen, sehr schlank, hockte -von Affen um turnt - auf einer Lichtung mitten im Urwald, also in üppig wuchernder Vegetation. Grellbunte Vögel flogen über den gelben Götzen hinweg und schrien. Wohl in der Nähe eine mit Grün überwucherte Ruine. Unangegriffen einsamer gelber Götze, betete ihn an, ja doch.

Die Prenzlauer Allee stadtauswärts lief sie, vorbei an weitläufigem Klinkerbaukomplex Nordmarkstraße, ehemaliges Obdachlosenasyl, jetzt unter anderem das Wohnungsamt des Stadtbezirks untergebracht, sie glücklicherweise nicht darauf angewiesen. In einem der Gebäude residierte eine Abteilung der Staatssicherheit, sagte man. Da wechselte sie lieber auf andere Straßenseite. Die belebt: Geschäft an Geschäft, winzige Lädchen dazwischen. Noch kahl die großen Linden. In einer Querstraße wohnte Dorit, die ehemalige Mitschülerin aus der Parallelklasse. War ihr nach Monaten eingekommen, sie zu besuchen. Würde ihr kühler Empfang zuteil, ginge sie gleich. Würde ihr gar keiner zuteil, wollte sie wiederkommen und noch mal wiederkommen. Was sie einmal begann, tat sie weiter. War so ein Mensch, das hatte sie schon gemerkt. Am Ende der Straße Dorits Haus, schräg gegenüber »Offenbachs Stuben«, wo man hingehen konnte, wenn man mal Gutes zu essen vorhatte. Gepflegte Schwule bedienten und verkehrten. In der Durchfahrt fand sie an einem der großen, stark mitgenommenen grauen Briefkästen Dorits Namen. Sie stieg die Treppen des Vorderhauses hinauf, dann die des Seitenflügels. Tastete immer wieder nach einem Lichtschalter. Im dritten Stock des Seitenflügels Dorits Wohnung, mit ordentlichem Türschild und Klingel versehen. Sah das Flurfenster eine halbe Treppe höher an: farbig umrandete ornamentale Felder. Jugendstil hatte sich erhalten in altem Gemäuer. Gerade wollte sie den Knopfdruck wiederholen, da hörte sie es laufen, ganz leicht. Bald erschien Dorit in offener Tür, dünn, die Kleidung lose. Ihre dunkelblauen Augen wurden noch größer und war Frage über plötzlichen Besuch drin. Das Gesicht uneben, doch anziehend. Bleich sah sie aus. Wenn es dir nicht passt?! Dorit zuckte mit den Schultern, griente. Sowie sie sich entschließen konnte, die starke Langeweile aus ihrem Gesicht zu nehmen, kriegte es was Lausbubenhaftes. Komm schon rein. Sie durchschritt hinter Dorit langen Flur, große Wohnküche, einst Aufenthaltsraum einer ganzen Proletarierfamilie. Das Zimmer beinahe quadratisch und nicht besonders groß. Daneben eine nicht beheizbare schmale Kammer. Alles mit Raufasertapete frisch tapeziert und gemalert und so ordentlich, dass sie ein schlechtes Gewissen bekam wegen des Zustandes von Jos Wohnung. Ich bin noch nicht ganz fertig, erklärte Dorit, brühte einen Tee, bot Plätzchen aus einem hohen, verschlossenen Glasbehälter an. Nimm dir ruhig, ich kaufe immer nach, sagte sie, bekam wieder das Lausbubenlächeln, schien sich tatsächlich zu freuen. Steuerte allerdings nichts zur Unterhaltung bei, was sie vorläufig nicht störte. Erzählte gern in dieses lebendige, sich ständig regende Gesicht hinein, zum Beispiel, dass sie sich von ihrem bisherigen Lebensgefährten trennen wollte. Konnte Dorit das Gefühl geben, sie befände sich in ähnlicher Lage. Hatte endlich so lange gesprochen und frei von der Leber weg. Und du? Dachte, nun wäre auch mal ne Frage erlaubt. - Was soll schon sein? Man arbeitet, man lebt. Leicht, doch unverkennbar Dorits Thüringer Akzent. (Tat ihr so wohl, konnte selbst nicht begreifen, wie sehr, da sie doch das Thüringische nicht vermisste.) Dass Dorit nicht redete, war eher eine Unfähigkeit als Verstocktheit. Auf Nachfragen gab sie doch ergiebigere Auskünfte: Fremd noch wäre ihr die Stadt. Die Scheidung hätte sie einigermaßen überstanden. Mit der Arbeit käme sie zurecht, mit den Kollegen. Hätte sich mit einer jungen Frau aus ihrer Abteilung angefreundet. Wenn sie und ihr Mann was vorhaben, kümmere ich mich um die Kinder, sagte sie. - Magst du Kinder? - Ja. - Und du? - Ich auch. Waren mit einem Mal an einem Punkt, wo Mitteilung sparsam wurde. Frauen hatten Kinder, so war es in dieser Gesellschaft üblich. Sie hatten einen Beruf, der Mann unterwegs vielleicht abhanden gekommen, hatten auf jeden Fall Kinder, zwei oder mehr. Die nie verheiratet gewesen waren, wenigstens eins. Wenn nicht, wurde man befremdet gefragt. So ein Fragen wollte sie Dorit nicht zumuten, aber sie ja keine der Frauen, die auf kinderlose mitleidig herabblickte. (Jedenfalls war ihr manchmal so vorgekommen, als ob mit Kindern Versehene das täten.) War ja selbst so eine Kinderlose. In der Familie meines Mannes gab es eine Krankheit. Die hätte ein Kind vielleicht auch bekommen. Zögernd, leise sagte Dorit davon. - Aber dann kannst du noch eins haben! Sie redete sich in Begeisterung. - Mit fünfunddreißig? Bisschen spät, nicht? - Ich würde noch. Ich ja! Ich würde es probieren! Unbedingt! Sie sah: Dorit lächelte über aufgeregte ehemalige Schulgenossin. Mochten sich also wie damals. Hätte sich eine Freundschaft ergeben können, doch hatte die gemeinsame Freundin eifersüchtig gewacht. Kannst immer kommen, sagte Dorit zum Abschied. Wir beiden Thüringer Mädels!

Dorit war an ihr gelegen. Also ging sie einmal wieder in die Stubbenkammerstraße und noch einmal. Wurde in einigen Monaten eine Regel, dass sie jeden Sonntagabend zu Dorit ging. Denn oft war Dorit bei der Familie nicht eingeladen, mit der sie sich befreundet hatte. Und am Wochenende war jeder Mensch, der allein lebte, ganz besonders allein. Sie fühlte sich verantwortlich.

Wieder lief sie zum Telefon und wieder der Anruf für Jo. Der lächelte, nachdem er herangerufen war, brauchte gar nichts zu sagen. Sie wusste sowieso, was er dachte, hatte es inzwischen so oft schon von ihm gehört: die Stimme ihres Herrn. Bei Haralds Anrufen gab's keine Regelmäßigkeit. Mal rief er täglich an, mal Tage nicht. Und dann hieß es mitten in eine Zeit, in eine Arbeit hinein: Komm!

Am Nachmittag lief sie mal nicht umsonst zum Telefon. Ach, du bist's!, hörte sie ihre eigene Stimme, klanglos jämmerlich. Schon Minuten hielt sich ein wohlgelaunter Harald mit ihr auf, fragte, erkundigte sich, lachte. Als seine Langmut am Telefon so gar kein Ende nahm, sagte sie: Du kannst wohl die Woche nicht? - Ich weiß noch nichts!, die seit Minuten befürchtete Antwort. - Aber ... quiekste es hoch aus ihrer Kehle. Tränen quollen. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, erwiderte er. War einer seiner Sprüche, die ihr immer blöder wurden. Kaum hatte sie den Telefonhörer aus der Hand, rannte sie in ihre Kammer, heulte laut auf, hörte sich selbst beim Flennen zu. Wollte nichts wissen von einem Vielleicht-vielleicht-doch in dieser Woche. Hätte sich gern bei schlechter Gewissheit eingerichtet. Aber Herr Harald hielt sich immer kleines Türchen offen. Würde erst am Ende der Woche Endgültiges über Wochenverlauf wissen. Wie das nervte. Und was das für ein Leben war. Um ihre Lage zu verbessern, ging sie zum Kühlschrank und schnitt sich eine Scheibe Katenwurst ab und noch mehrere und beschäftigte ihre wütenden Zähne damit. Lena- Lenka, sagte Jo beim Abendbrot, war ihm das Glück der Freundin nicht recht, so das Unglück auch nicht. Scheiße, Scheiße, Scheiße, antwortete sie weinend-lachend mit verquollenem Gesicht. Konnte sie nur Jo zumuten.

 

Sah Herrn Harald und sein Lächeln in dunklem Flur. Alles Leid entfiel ihr. War ihr, als sei sie eben aus längerem Schlaf erwacht. Ermunterte er die noch schläfrige Person, ein paar Schritte voran zu tun, da sich ja noch weiteres begeben sollte. Erinnerte sie sich sofort ihres Lieblings, legte Hand an ihn und führte Harald zur Lagerstatt, wie es Brauch geworden war. Und war dann so frei von jeder Bedenklichkeit, wusste, auf ihn war Verlass, so dass es sie hintrieb so leicht und überaus schnell- früher nie gekannt - ganz ohne Abmühen bis zu erstem und weiterem Aufseufzen, als sei sie von allen Lasten der Welt befreit. Nickte heftig, damit er bestätigt bekam, was er schon wusste, sagte vielleicht auch was. Es war nun schon so um sie bestellt, dass es ihnen gleichzeitig oder ihm um Zehntelsekunde verzögert geschah, wo doch Rhythmus von Frau und Mann sich eigentlich unterschieden. Er erklärte, was ihm widerfuhr: Wie ein blauer Blitz fuhr es den Rücken hinauf in den Kopf und wieder hinunter. Er brauchte sich nicht zurückzuhalten, weder im Stoß noch in Verausgabung. Wuchsen ihm ja immer Kräfte nach. Diese Erfahrung machte beide sehr freigebig. Hitzig der Anfang. Sie wäre damit schon zu fast jeder Zeit froh gewesen. Hätten sich nun hinsetzen und sprechen können miteinander wie zwei erwachsene Leute. Aber das war erst nur die Einführung in Stunde der Liebe. Leitmotive oder so - anders als in der Oper - noch gar nicht angeklungen. Was für eine Raserei draus entstehen würde. Mal hielt er inne, doch nicht mit Rücksicht auf sie, sondern auf sich selbst und vielleicht auf Nachbarn. So viele Lust konnte sie gar nicht stille bei sich behalten. Sie wird immer verrückter, sagte er. Dieses bissige kleine Biest nagt und beißt mich kaputt. Sollte es dir einfallen, sie auf der Straße auszuführen, so halte sie fest an der Leine, sonst fällt sie Männer an und zerfetzt Hosenbeine. Sie lachte. Gefiel ihr das Bild: ein kraushaariges, igelähnliches kleines Ding an der Leine über eine Brücke laufend, warum über eine Brücke?, an der Leine reißend, bald nach hier, bald nach da, darauf aus, Hosenbeine anzufallen. Man konnte von Glück sagen, dass es dem Biestlein nicht einfiel hinaufzuspringen in gefährlichere Gegenden. Ich Armer, sagte er. Wenn ich's vorher gewusst hätte. - Du Armer, bestätigte sie. - Dabei sieht sie von außen so harmlos aus. Wie du harmlos aussiehst. - Harmlos! Sie lachte, war das doch ein Stichwort aus der Dreigroschenoper für gar nicht Harmloses. Sie küsste, benetzte ihn, um ihn zu besänftigen. Er stöhnte auf vor Wohlbehagen. Aus Wohlbehagen wurde Wollust. Einmal werde ich in dir sterben, sagte er fröhlich-resigniert. Kam ihr auch wahrscheinlich vor. Sie überlegte, was in diesem Fall zu tun sei. Wünschte für ihn, er solle im Zustand höchster Freude von ihr gehen. Wollte Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, ihn - solange das noch möglich war - bekleiden und so weiter, seine Frau sollte geschont werden. Würde noch lieber mit ihm gehen. Wünschte sich ja selbst in Augenblicken höchster Seligkeit ein Auslöschen, ein lautloses Hinübergehen in andere Welt. Wäre ihr dann der unerhörte Skandal gleichgültig, fände man sie beide. Wäre ihr ja sogar fast lieb, dass im Nachhinein ihre unerhörte Liebe offenbar wurde.

Waren eins gewesen, ein Leib, eine Seele. Und doch: Jeden Tag, den sie Harald nicht sah, womöglich auch nicht hörte, wurde das Gefühl von Nähe schwächer. Lag es an ihm, dass er in Zeiten, in denen sie sich nicht sahen, auf gar keinen Fall ein zärtliches Wort gebrauchte? Lag es an ihr, weil sie einfach nicht glauben konnte, sie wäre wichtig für jemanden, außer wenn derjenige es ihr jeden Tag sagte oder sonst zeigte?

Stunden saßen sie und Dorit beieinander, tranken Tee, aßen Gebäck und redeten, jeden Hinweis, jedes Zeichen lange erörternd, das auf Liebe (Lena) schließen ließ oder Interesse, beginnende Zuneigung (Dorit) von Seiten der jeweils Auserwählten. Dorit hatte sich aus der Enttäuschung herausbegeben in neue Hoffnung auf einen Kollegen, ja natürlich verheiratet in dem Alter. Also beide Männer gebunden und sie, die Frauen, nun Schicksalsgefährtinnen. Bisweilen hielten sie in ihren langwierigen Untersuchungen inne. Als hätten wir nichts anderes im Kopf, sagte Dorit schuldbewusst. Worüber unterhalten sich Männer? Über Arbeit? Über Liebe? Über Fußball? Hatten sie aber auch anderes im Kopf. Dorit wollte ihren Ärger im Betrieb an Lena loswerden, eine Freude über eine Begegnung mit Kollegen. Erhitzte sich über Probleme der Produktion, über unzuverlässige und qualitativ mangelhafte Zulieferung, Dorit ein sehr gewissenhaftes Mädchen. Wenn ich eine Arbeit mache, will ich sie ordentlich machen, sagte sie. Und ich würde auch behaupten, unsere Arbeiter wollen ordentlich arbeiten. Die Stammer jedenfalls. (Sie meinte Stammarbeiter.) Sonst hat man keine Befriedigung. Aber wenn man sich nicht auf die Zulieferung verlassen kann! In allgemeines Gejammer artete Dorits Rede nicht aus. Zu sehr war sie der Sache des Sozialismus zugeneigt, aus Liebe zu ihrem Vater, geschieden von der Mutter und ein hohes Tier. Die lästigen, weil fruchtlosen Worte bekam sie von der Freundin also nicht zu hören. Mahnte die Freundin im Gegenteil mit angstweiten Augen: Aber Lena!, erging sie sich in grundsätzlichen Anmerkungen, die zum Allgemeingut denkender Menschen hierzulande gehörten, dachte sie wenigstens.

Jo vor ihr mit verquollenem Morgengesicht wie sie mal mittags oder abends mit verheultem vor ihm, mochte das Essen kaum anrühren. War ein bisschen krank und ein bisschen wehleidig. Wenn du nachher in die Apotheke gehen könntest, sagte der ganz hinfällige Jo. - Ich kann aber erst gehen ... - ... wenn dein Herr Dorisch angerufen hat!, vollendete Jo. - Dorau. Ja. - Kann es auch mal sein, dass du nicht da bist oder nicht kannst? Jo trotz großer Schwäche doch zu Ärger fähig, so dass sie ihm klare Auskunft gab: Nein. Nur wenn ich ihm zeige, dass er ganz wichtig für mich ist, bringe ich ihn dazu, dass er sich mir zuwendet. Kam ihr wieder das Bild vom Hund auf, der gebannt vor der Trichtermuschel hockte (die Stimme ihres Herrn). Neuerdings war ein Hundetier in Haralds Besitz, für den Sohn draußen auf dem Grundstück angeschafft. Seither redete er fortwährend über den Putzhund (von putzig), selbst in Liebesstunden hinein. Sprach leider nie über seine Arbeit, selbstverständlich nicht über seine Frau, mal über den Sohn, aber über diesen Hund. Hatte der sich in wenigen Wochen Haralds Herz erobert: durch den einem jungen Tier eigenen Spieltrieb, Charme, durch Treue, völlige Hingabe. So war Haralds Herz zu gewinnen. Andere Männer bekamen es mit der Angst zu tun, machte man ihnen Zugeneigtheit sehr deutlich, Harald brauchte es, forderte es heraus. Wohl war er uneins mit dieser Gesellschaft, in der patriarchalische, konnte man auch sagen: autoritäre Strukturen herrschten, war aber selbst einer mit Anlagen zum Despoten. Du warst immer souverän, sagte Jo. Schon als junges Mädchen. Es tut einem weh, was mit dir geschieht. Jo redete mit ihr wie ein guter Freund. Sie nahm dies gern an. Du machst dich kaputt und mich mit, fuhr er fort, erneut in Wehseligkeit verfangen. Weil ich dir nicht sofort die Nasentropfen hole? Sagte sie lachend in weinerliches Gesicht hinein. Und wenn ich nicht mehr da bin? Jos Blick wurde nun ganz und gar trübselig. Sie hingegen knüpfte alle Hoffnungen an eine eigene Wohnung. Glaubte, das würde die Beziehung zu Harald entscheidend erleichtern. Dann könnte Harald sie jederzeit besuchen, vor allem am Abend, einer Zeit, die ihr für die Liebe am meisten geeignet erschien. Erträgliche Umstände, wozu eine eigene Wohnung gehörte, bildeten eine Voraussetzung für eine langwährende Beziehung, die endlich in ein Zusammenleben münden würde. (Glaubte fest, was aus ihrer Hand gelesen worden war.) Doch der Umbau von Irenes Haus zog sich hin. Eines Tages stände sie womöglich vor der Entscheidung, eine vom Magistrat vermittelte Wohnung in einem Neubaugebiet anzunehmen oder weiter auf Irenes Auszug zu warten, um dann einen Behördenkampf nur eventuell milderer Art auszufechten.

Und wie lange?, fragte sie - nun schon gewitzter - Harald am Telefon. Eine Stunde, zwei? - Ja etwa. Es kommt doch nicht auf die Länge der Zeit an. - Schon auch. Für mich schon. Stand zu vereinbarter Zeit vor seiner Wohnungstür, konnte wieder mal das Glück nicht fassen, ihn im nächsten Augenblick zu sehen. Blubberte ihr Herz. Ihr Auge fiel auf das Namensschild. Das messingne gegen ein schlichtes ausgetauscht. Nur der Nachname drauf zu lesen. Hatte nie was zum Schild gesagt. So war er eben: zart bei Wesentlichem.

Richtete sich auf, ging mit zärtlichen Augen über ihren Geliebten hinweg. Stellte fest: eine Dreieinigkeit! Überlegte, ob sie was Unrechtes sagte. Dachte dann, Gott - gab es ihn denn - sähe in ihr Herz, das lediglich dankbar lobpries, was er geschaffen hatte. Liebkoste, was sie Dreieinigkeit nannte, den, der sich schließlich und endlich ein wenig beruhigt hatte und schlummerte, der war eingebettet von dieser so sanften, leicht behaarten Haut, reichlich gebreitet über jene, denen sie voller Entzücken nachfühlte und die im Volksmund derb und treffend genannt wurden. Sie sind kühl, sagte sie. Wie dein Professor gesagt hat, dass sie sein müssen. - Erst du machst sie mir zum Genuss. Ich habe sie vorher als zur Produktion Notwendiges angesehen. Du bringst mir bei, auch durch sie kann ich meine Freude haben. Ich spüre sie, wenn wir uns lieben. Es ist wie Glockenläuten. - Und es duftet, sagte sie. Ein wunderbarer Duft. Ganz sauber. Wie von einem frisch gebadeten Baby. Sie nahm den, der ihr zu Willen gewesen war und viel Gutes getan hatte, auf in ihrem Mund, züngelte, sog, ließ Lippen, Zähne drüber gleiten, um den kleinen Liebreizenden auszukosten. Süß ist er, sagte sie. Richtig niedlich. - Du magst ihn auch jetzt noch? - Gerade. So treffe ich ihn selten an.

Geh mit deinem Harald in die Wohnung, hatte Irene empfohlen. Sie wohnte den Sommer über draußen mit ihrem Freund in noch unfertigem Haus. Ja, wäre eine Möglichkeit!, hatte Harald daraufhin gesagt und nicht nein. Aber nutzte das Angebot nicht. Wie sie's schließlich feststellte, schob sie's auf den Ästheten. Der war er in allem. Trotz proletarischer Herkunft. Kam mal vor, dass man sich vom Stamm wegverirrte, traf auf sie ja nicht weniger zu.

Der Geliebte hatte Vorstellungen von Schönheit und Gesundheit und ihr empfohlen: Du musst dich durchbräunen lassen, dich von den Sonnenstrahlen durchwärmen lassen. So stieg sie bei Sonnenschein eben spätnachmittags in die Straßenbahn stadtauswärts Richtung Orankesee, lief einen langen Sandweg, vorbei an Friedhof, Gärten, einem Feld, legte sich auf eine Badewiese. Auf den Bauch zum Lesen, das ging noch. Langweilig, auf dem Rücken zu liegen. Von Zeit zu Zeit durchschwamm sie den kleinen See. Schwamm wirklich gern, spürte: ihre Kräfte waren da, war voll Verlass auf sie. Die sowieso mehrfarbigen Haare kriegten noch blonde Strähnen. Sie flocht sie zum Zopf, fürs Schwimmen einfacher. Haralds wegen hätte sie sowieso immer mit nem Zopf rumlaufen können. (Hatte der die Jungs-Sehnsucht nicht vergessen, an Zöpfen zu ziehen.) Ihre zarte Haut errötete. Schließlich kriegte sie eine bräunliche Pelle, sprossen massenhaft dunkle Pünktchen drauf. Da sie sich für ihn bräunte, beunruhigte sie nicht, er könne vielleicht in der Zeit ihrer Abwesenheit anrufen. Er war auch sehr zufrieden mit ihrem Aussehen. Na siehst du!, sagte er. Warum muss ich dir erst alles sagen! Warum kommst du nicht selbst drauf! Hatte so was Väterliches, als würde ihm ihr Wohlbefinden sehr am Herzen liegen.

Kriegte dann wieder am Telefon eins über den kleinen Nischel, als wäre seine Mitteilung kein Grund zur Freude, sondern Marschbefehl in Kriegsgebiet. Sagte Harald: Kannst kommen!, und legte auf. Hatte zu ihr gesprochen wie Imperator in Ermangelung eines dienstbaren Ministers zu begriffsstutziger Subalterner. Als wären drei weitere Worte an sie schon eine Zumutung. Ein solcher Zorn überkam sie. Wusste ja, der konnte anders. Oft genug wurde er in ihrer Gegenwart ans Telefon gerufen. In Pausen stand er auf. Erwartete er dringende Anrufe, unterbrach er auch mit ihrem Einverständnis fröhliches Treiben. (Konnten ja immer beginnen, wo sie aufgehört hatten, war der Hübsche, der kleine Tiger, ihr ja hörig und wollte, wenn sie wollte.) Mal redete er kurz und bündig, doch immerhin höflich. Meist aber parlierte er, glänzend gelaunt - sie wusste, weswegen -, als hätte er alle Zeit der Welt, alberte, lachte, lachte, war die ganz liebeswürdige Person. Bemüht und geradezu ausschweifend die Gespräche mit dem Sohn auf dem Dorf, buhlte um dessen Anerkennung. Worte, Wortbrocken hingegen nur, der Sinn rätselhaft, eine Stimme, dass man dran erfrieren konnte, so sprach er mit seiner Frau. (Na klar, die war es, mit keinem Menschen ging's in so wenigen Worten ab und dabei noch um Verschiedenes.) Wäre sie wohl nicht froh gewesen, hätte er mit seiner Frau gelacht. Aber die Gleichbehandlung von Frau und Freundin am Telefon beunruhigte sie ebenfalls. Glaubte er, den beiden nächststehenden Frauen am Telefon keine Höflichkeit zu schulden?

 

Der Herr hatte gepfiffen, also lief sie eilends und hatte dabei Gedanken um den, der gepfiffen hatte, der es mitunter - mitunter nur! - so an Höflichkeit mangeln ließ, sonst sehr charmant, sehr galant, jaja. Hatte es wohl einfach nicht gelernt und sich auch nicht danach gesehnt wie sie, die das Mürrische, die Launen ihrer Mutter sich zum schlechten Beispiel genommen hatte, nie andere ihre Stimmung in stärkerem Maß entgelten zu lassen. Meinte Harald - sonst nicht dem in dieser Gesellschaft üblichen Proletkult anhängend - dann vielleicht doch, der raue Ton unter Arbeitern sei ehrlicher? Man streife damit lästige und angeblich überflüssige bürgerliche Konventionen ab? (Waren übrigens die Frauen die Leidtragenden. Die Männer minimierten Höflichkeit ihnen gegenüber, ließen sie nun nicht nur leichte Taschen, sondern auch Kinderwagen allein, zu zweit treppauf und treppab tragen. Waren die Frauen ja nun gleichberechtigt.) Ließ sich Harald alle seine Launen durch. Sah sich selbst wohl als starke Persönlichkeit mit dem Recht auf freie Entfaltung, natürlich im Rahmen derzeitiger gesellschaftlicher Möglichkeiten. Proletarische Umgangsformen kamen seiner Neigung zu Selbstherrlichkeit, zu Despotismus entgegen. Mutmaßte sie jetzt, sein Angestelltenverhältnis in der Redaktion hätte er nicht nur aus politischem Uneins-Sein aufgegeben. Hatte Unterordnung nicht ertragen. Als freier Mitarbeiter wohl auch abhängig. Doch konnte er sich aussuchen, bekam Angebote. Liebten den, der sich in Liebenswürdigkeit gefiel, die Frauen und auch die Männer. Ein Laufen, ein Anbieten nur in Maßen erforderlich. Sprach manchmal über das Entgegenkommen der Frauen, wie sehr sie ihn mochten. Bestätigte sich also, so dass ihm der Gang in die Redaktionen kein mühsamer war. Genauso gut hätte er aber nach einer vorübergehenden Zeit der Anpassung Chef werden und seine Mitarbeiter Macht spüren lassen können, und sein Charme würde sich auf gute Stunden begrenzen. Anfangs hatte ihr seine Arroganz imponiert, hatte sie die zu gern (und wissentlich) verwechselt mit Selbstsicherheit, entsprach ihrem Anlehnungsbedürfnis. Jetzt war sie abgestoßen. Was suche ich bei ihm?, fragte sie sich. Die Straßen in greller Sonne. Da noch hässlicher, kaum zu ertragen die dunklen, verfallenden Fassaden. Von ihrem verzweifelt kalten Blick schließlich sein Haus nicht ausgenommen. Hatte oft geklagt, sie käme mit der Hälfte ihrer Liebe zu ihm aus, es bliebe immer noch genug. Doch nun schien ihr die Hälfte ein bisschen wenig, möglicherweise hatte sie aber auch mehr als die Hälfte ihrer Liebe eingebüßt.

Empfing Herr Harald seine Geliebte geduscht und so weiter, als hätte er nicht vor einer halben Stunde zwei Worte nur und in welchem Ton! mit ihr gesprochen. Brauchte sie wohl grad drei Sekunden des Erstaunens, dann liebte sie ihn so heftig wie eh und je und ging auf alles ein, was er erwartete. Und wie er mit ihr zusammen war, wurde ihr mit einem Mal bewusst: Es hatte ja immer Folgen. Als risse der Herrliche mitten in ihren Körper eine tiefe Wunde. Und durch ihren blutenden Leib eröffnete er sich einen Zugang zu ihrem nun bloßliegenden Herzen, packte es mit festen Händen. Wahrscheinlich war für einen Mann der Beischlaf eine ihn in seinem Mannestum bestärkende Tat. Er drängte sich in fremden Leib, eroberte die Frau wie fremdes Territorium, ließ Siegesfahnen aufstecken und Fanfaren blasen. Sie hingegen gab sich ihm preis, wurde schwach und sehr anhänglich, da er bis zu ihrem Herzen vorgedrungen war. Ja, hatte das auch mal gekonnt - als junges Mädchen -, ihre Seele zu beschützen. Hatte sich geteilt, dem Mann ihren Körper überlassen, aber ihre Seele streng verwahrt, so dass es bei Männern zu Irritationen gekommen war. Doch ausgeschlossen diese Teilung bei Harald! Obwohl sie es als ungerecht empfand, dass Harald wie ein Sieger hervorging, während sie sich ihm auslieferte, wollte sie auch nicht unverletzt und unbeschadet aus ihrer Begegnung herauskommen. Fürchtete zwar das starke Gefühl, die Leidenschaft. Aber jämmerlich erschienen ihr die beliebigen Männergeschichten vor Jo. Sie gehörte ihm, hing ihm an. So war das, sollte es auch sein. Mach mit mir, was du willst, sagte sie. Er hätte sie töten können. Das wäre nur der letzte, vollkommenste Liebesakt gewesen.

Über Tage vergaß sie die köstliche Verwundung nicht, ging herum als Gezeichnete, als eine, die sich selbst nicht mehr gehörte. Dann antwortete sie sich auch wieder selbst und bekam ein gewisses Gefühl von Festigkeit und Eigenständigkeit.

Von Liebe sprach er nicht. Heute nicht und nie. Wie er überhaupt sehr spröde, fast jungfräulich war in der Mitteilung von Gefühlen, was sie eher schätzte. Sie misstraute dem Überschwang aus dem Augenblick heraus. Auch sie hütete sich, dieses Wort auszusprechen. War fast ein Abkommen. Doch verlor sie schon mal die Kontrolle über das, was sie sagte, und es brach aus ihr heraus. Ich lieb dich, sagte sie, ich lieb dich. Und war der Bann erst gebrochen, flüsterte sie mehr für sich: Ich lieb dich so, ich lieb dich so, streichelte seinen Rücken, worin sie nie nachlassen durfte, bis ihm danach war, dass sie anderem ihre Aufmerksamkeit schenkte. Liebe dich selbst, antwortete er mit einem seiner unvermeidlichen Sprüche. Sie entgegnete darauf auch immer dasselbe: Das eben kann ich nicht. Ich kann mich nur lieben, wenn ein anderer mich mag. Ich bin ein Spiegelmensch. Hatte das Wort mal für sich gefunden, als sie über die Verwirrung in ihrer Kindheit nachdachte, wenn sie allein in der Kreisstadt war. Auch heute noch trat solche Verwirrung auf, in einem fremden Stadtteil, in einer fremden Stadt. Wohl hatte sie das undeutliche Gefühl von Körper, weil sie sich in ihm fortbewegte. Aber ihr Kopf weitete sich aus zu einer riesigen Filmleinwand, die die Straße, den Platz wiedergab, in dem sie sich befand. Nichts sonst existierte. Keine Bewertung gab's. Keine Erinnerung außer höchstens einer Art Déja-vue-Erlebnis. Erst in ihrer Wohnung fand sie zu sich. Das Gegenteil geschah und doch aus gleicher Ursache heraus, schaute sie während eines Gesprächs in ein freundliches Gesicht. In den Augen des anderen fand sie ihr Bild, spiegelte sie sich selbst. Lächelte man ihr zu, war das Lächeln aus ihrem Gesicht gar nicht mehr wegzubekommen. Geradezu euphorisch konnte sie nach einer solchen kurzen Begegnung werden. Außerordentlich erstaunlich und bewundernswert erschienen ihr Menschen, die ganz aus sich heraus lebten, andere nicht brauchten. Sie war auf Menschen angewiesen, ein Spiegelmensch eben, wie sie die übertriebene Abhängigkeit nannte. Wollte Harald auch nicht verstehen, wusste er im Grunde wohl, wie sie geartet war. Glaubte sie jedenfalls. Er wehrte nur ab, weil er meinte, sich schützen zu müssen. Gar niemand durfte seiner empfindsamen Seele zu nahe kommen. Männer hatten nicht gelernt, es war ihnen nicht beigebracht worden, Verletzungen dieser Art auszuhalten, mit denen sie täglich zu leben hatte.

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