Chronik von Eden

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Kapitel VII - Die Wege des Herrn

Am nächsten Morgen drängte Sandra zum Aufbruch: »Los, packt eure Sachen zusammen, wir wollen gehen.«

»Ich würde es vorziehen, wenn wir zuerst noch ein wenig Unterricht halten könnten.« Patrick sah sie fragend an. »Wer weiß, wann wir das nächste Mal einen geeigneten Ort dafür finden.«

»Das Unterrichten muss warten.« Sandras Miene verfinsterte sich. »Ich will heute den Fliegerhorst erreichen, dann sind alle in Sicherheit. Dort können Sie dann unterrichten, soviel Sie wollen.«

»Gabi geht es nicht gut«, ließ sich Tom in diesem Moment vernehmen. »Sie bekommt wieder keine Luft.«

»Dann gib ihr noch etwas von dem Spray.«

Tom schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon. Es wirkt nicht richtig.«

»Ein Grund mehr, den Fliegerhorst so schnell wie möglich zu erreichen. Dort gibt es sicher auch Medikamente.«

»Und wenn nicht?«, zeigte sich Stephan skeptisch. »Was macht dich so sicher, dass dort noch so etwas wie ›normaler Betrieb‹ herrscht, also gesunde Leute da sind, die noch über Vorräte verfügen und all das?«

»Er hat recht«, beteiligte sich nun auch Martin an dem Gespräch. »Was, wenn du mit der vermeintlichen Sicherheit des Fliegerhorstes einem Hirngespinst nachjagst?«

»Was gibt das denn hier?« Sandra schaute grimmig von einem zum anderen, dann schnaubte sie. »Probt ihr den Aufstand, oder was?«

»Vielleicht sollten wir doch erst einmal in Ruhe darüber …«, setzte Patrick an.

»Da gibt es nichts zu reden!« Jetzt wurde Sandra laut. »Ich habe euch alle heil hierher gebracht, und jetzt sorge ich dafür, dass ihr vollends in Sicherheit kommt. Ist das denn so schwer zu verstehen? Nicht genug damit, dass ich die Verantwortung für mittlerweile fünfzehn Kinder habe, anscheinend muss ich jetzt auch noch den Babysitter für drei ›große Jungs‹ spielen, die eigentlich alt genug sind, um auf sich selbst aufpassen zu können. Und zum Dank nähen mir diese drei dann auch noch eine Diskussion über die beste Vorgehensweise an die Backe. Na prima! Genau das kann ich jetzt am allermeisten gebrauchen.«

»Aber Sandra, so beruhige dich doch erst einmal«, versuchte Patrick, die Wogen zu glätten. »So wie du es gerade darstellst, ist es nun auch wieder nicht.«

»Ach nein? Wie ist es denn dann? Wobei: Ich frage mich gerade, ob mich das überhaupt noch interessiert. Irgendwie könnt ihr mich so langsam alle mal. Ich brauche jetzt dringend frische Luft. Wenn ihr euren Mumm wiedergefunden habt, könnt ihr mich ja vor der Tür besuchen kommen.«

Damit rauschte sie hinaus. Die Haustür fiel hinter ihr dermaßen heftig ins Schloss, dass im Wohnzimmer die Fensterscheiben bebten. Tom und die Männer sahen ihr mit offenem Mund hinterher.

*

Sandra lehnte sich mit dem Rücken an die Außenwand des Hauses und schloss die Augen. Ihr Körper bebte. Sie versuchte, bewusste, tiefe Atemzüge zu machen, um sich wieder zu beruhigen, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.

Was dachten sich diese drei Holzköpfe nur? Hatte ihnen die scheinbare Sicherheit das Gehirn vernebelt? Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis auch hier wieder Zombies auftauchen würden. Irgendwann würden sie deren schierer Anzahl nicht mehr widerstehen können, und dann war alles umsonst gewesen.

Herrgottnochmal! Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Sandra verstand sich selbst nicht mehr. Sie und Kinder hüten, das passte ja wie die Faust aufs Auge! Kein normaler Mensch würde jemandem wie ihr seine Kinder anvertrauen, nicht einmal für fünf Minuten. Und verdammt, die Leute hatten recht!

Hätten sie zumindest, wenn das hier noch normale Zeiten wären. Waren sie aber nicht, ätsch!

Ätsch?!?

Sandra schüttelte unwillig den Kopf. Was war auf einmal mit ihr los? Verlor sie den Verstand? Fühlte es sich etwa so an, wenn sich ein Teil des Ichs vom Rest abspaltete und damit begann, ein Eigenleben zu führen? Tauchten dann in den eigenen Gedanken plötzlich Wörter auf, die man gar nicht hatte denken wollen und die nicht wirklich passend waren?

Sandra fand den Gedanken faszinierend, dass in ihr ein böser Zwilling erwachen könnte. Dieser würde immer dann die Kontrolle übernehmen, wenn es brenzlig wurde. Er wäre tough, würde ohne mit der Wimper zu zucken die richtigen Entscheidungen fällen, egal wie hart diese auch sein mochten. Und sie konnte dann endlich das brave Mädchen sein, die angesehene und ruhige Bürgerin, die freundlich zu den Menschen und bei allen beliebt war.

Ein Kichern stieg Sandras Kehle empor. Aber es klang nicht heiter, sondern irgendwie kratzig und auch viel zu schrill. Es erinnerte an eine alte Hexe, die gerade dabei war, den Kessel für die frisch gemästeten Kinder anzuheizen.

Da waren sie schon wieder, diese unpassenden Gedanken! Sandra schüttelte erneut den Kopf, aber diese hielten sich hartnäckig darin fest.

Selbstmord, was war damit? War das vielleicht eine Lösung? Einfach die Pistole an den Kopf ansetzen, abdrücken, und alles wäre vorbei. Schluss. Aus. Ende. Einfach so.

Aber was wurde dann aus den Kindern? Richtig, die Kinder! Nur wegen ihnen nahm sie das alles hier auf sich. Alleine hätte sie vermutlich viel bessere Chancen. So war es bisher immer gewesen. Sandra konnte sich auf sich selbst verlassen, jemand anderen brauchte sie nicht. Früher nicht, und jetzt auch nicht.

Ein Geräusch schreckte sie aus ihren Gedanken auf.

*

»Sandra, wir sind soweit.« Das war Martins Stimme.

Die Angesprochene schaute hoch. In ihrem Gesicht schien es für einen Moment zu flackern, dann sah sie wieder aus wie immer.

»Habt ihr euch also doch eines Besserem besonnen, ja?«

»Nenne es wie du willst.« Auf Martins Stirn bildete sich eine Unmutsfalte. »Wichtig ist erst einmal nur, dass wir alle zusammenbleiben.«

»Schafft du das denn, mit uns mitzuhalten?« Sandra taxierte ihn mit einem eisigen Blick. »Aber wenn ich es mir recht überlege, sollten wir dich auf jeden Fall mitnehmen.«

»Weil ich mich bisher bewährt habe?«

»Nein, weil wir dich prima brauchen können, wenn uns das nächste Mal eine Horde Untoter nachjagt. Wir könnten dich dann zum Beispiel einfach liegen lassen, wenn du wieder einen Turkey-Schub bekommst, sozusagen als kleinen Snack. Das würde sie bestimmt ein paar Minuten aufhalten und unseren Vorsprung sichern.«

»Ich weiß zwar nicht, was ich dir getan habe, aber ich gewöhne mich langsam daran, wie du mich behandelst. Tu mir aber bitte wenigstens den Gefallen, und sei nett zu den Kindern, okay?«

»War ich das jemals nicht?«

»Zumindest warst du ihnen gegenüber nicht unfreundlich. Für deine Verhältnisse warst du also vermutlich nett zu ihnen.«

»Bevor du anfängst zu flennen, gehe ich lieber meine Sachen holen. Und du solltest das ebenfalls tun, wenn du mitkommen willst, denn wir brechen jetzt auf.«

*

Gut eine halbe Stunde später hatten sie den Ortsrand von Kerpen erreicht. Gabi bekam nur mühsam Luft und musste immer wieder stehenbleiben, um Atem schöpfen zu können. Martin hatte versucht, sie zu tragen, das Unterfangen dann aber schnell aufgeben müssen, da auch er erheblich geschwächt war. Er hatte damit gerechnet, dass von Sandra wieder ein spitzer Kommentar kommen würde, diese hatte die Situation jedoch zur Überraschung aller achselzuckend akzeptiert.

Sandra hatte eigentlich vorgehabt, die kürzeste Strecke zu nehmen und die Wege zwischen den Feldern zu benutzen. Nun kamen ihr Zweifel, den speziell an den Stellen, wo der Mais noch nicht abgeerntet war, bot sich das Gelände höchst unübersichtlich dar. Für die Zombies war das geradezu ideal, um sich auf die Lauer zu legen.

Während sie noch zögerte, tauchte etwa hundert Meter vor der Gruppe ein weißer Hund aus einem seitlichen Feldweg auf. Dort blieb er stehen und sah die Pilger an.

»Da ist der Köter schon wieder«, sagte Sandra mehr zu sich selbst.

»Du glaubst also inzwischen auch, dass es immer derselbe ist?« Tom sah sie fragend an.

»Was ich glaube, spielt keine Rolle. Und ebenso egal ist es, ob es immer der gleiche Wauwau ist, oder ob dessen Mutter ein ganzes Rudel davon in die Welt gesetzt hat, das nun über die Gegend verstreut lebt.«

»Bislang sind immer arme Seelen aufgetaucht, wenn der Hund in der Nähe war.« Patrick fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das stoppelige Kinn, was ein schabendes Geräusch verursachte.

»Dann ist er vielleicht mit ihnen im Bunde.« Stephan hob seinen Baseballschläger und machte sich schlagbereit.

»Nein, ist er nicht.« Tom schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. »Er hat uns bisher immer vor ihnen gewarnt.«

»Das kann genauso gut ein Trick gewesen sein, um uns in Sicherheit zu wiegen«, knurrte Stephan. »Erst hilft er uns zum Schein zwei- oder dreimal, und am Ende lockt er uns dann in die Falle.«

»Wir sind uns aber schon einig, dass wir über einen Hund und nicht über einen ausgebufften Superschurken reden, ja?« Sandra sah Stephan von der Seite an.

»Was weiß denn ich?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich konnte Hunde noch nie leiden, also habe ich mich auch nicht mit ihnen beschäftigt. Von daher habe ich keine Ahnung, ob und wieviel so ein Vieh planen oder denken kann.«

»Vielleicht sollten wir ja versuchen, ihn herzulocken«, schlug Patrick vor. »Der Hund war schon immer der treueste Freund des Menschen, und unserer Gruppe könnte es sicher nicht schaden, auch einen dabei zu haben. Wenn uns der Herr schon dieses Zeichen schickt, sollte wir auch darauf hören.«

»Ich denke, mit Gott hat das recht wenig zu tun«, zeigte sich Martin deutlich erdverbundener. »Das Tier wird einfach nur Hunger haben.«

 

»Die Wege des Herrn sind unergründlich, und wir alle sind seine Diener.«

Man konnte Martin ansehen, was er davon hielt, aber er zog es vor, diese Meinung für sich zu behalten.

»Wenn die Herren dann genug philosophiert haben, würde ich gerne weitergehen.« In Sandras Stimme lag ein spitzer Unterton. »Oder hat jemand etwas dagegen?«

Als ihr dreifaches Kopfschütteln antwortete, setzte sie sich wieder in Bewegung. In diesem Moment begann der Hund zu bellen.

»Ich sage doch, dass er uns vor etwas warnen will«. Tom war unwillkürlich stehengeblieben, ebenso die anderen Kinder.

Noch bevor einer der Erwachsenen etwas antworten konnte, waren plötzlich Geräusche zu hören. Dann tauchten die ersten Zombies am Rand des Ackers auf.

»Das Mistvieh hat sie angelockt!« In Stephans Stimme lag Triumph. »Ich wusste es doch gleich, dass er gemeinsame Sache mit ihnen macht!«

»Und wenn schon!« Sandra hatte auf dem Absatz kehrtgemacht. »Lauft!«

*

»Ich kann nicht mehr!« Japsend rang Gabi nach Luft. »Ich brauche eine Pause. Das buchsta…«

»Ja, ich weiß, wie man das buchstabiert«, fiel ihr Sandra ins Wort. »Spar dir deine Luft lieber, denn ein paar Meter musst du noch durchhalten.«

In Gabis Gesicht trat ein weinerlicher Ausdruck. Der Rotz in ihrer Nase begann, Blasen zu werfen.

Martin nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Wie selbstverständlich packte Tom die andere und half.

»Wir müssen dort vorne nach rechts«, ließ sich Mark vernehmen.

»Das führt uns aber noch weiter von unserem eigentlichen Ziel weg«, widersprach Sandra.

»Trotzdem ist es richtig, denn …«

In diesem Moment gellte ein »Nein, sag es ihr nicht!« durch Martins Kopf. Es war Toms geistige Stimme gewesen.

Erst jetzt wurde Martin bewusst, dass er Tom hatte seit einiger Zeit nicht mehr »hören« können. Mit Erstaunen stellte er dabei fest, dass er diese Art der Kommunikation zu vermissen begann.

Was soll er ihr nicht sagen?

Martin konzentrierte sich mit aller Macht auf diesen einen Gedanken, doch es kam keine Antwort.

»Es ist richtig weil?«, hakte Sandra in diesem Moment nach.

»Weil … weil es eine Sackgasse ist.«

»Eine Sackgasse? Bist du sicher?«

»Klar doch. Schließlich bin ich hier aufgewachsen. Oder willst du es darauf ankommen lassen, dass die Knirscher uns dort festsetzen?«

Sandra schüttelte den Kopf, dann schlug sie die Richtung ein, die Mark ihr genannt hatte. Ein paar Minuten später war sie sich sicher, die Zombies abgehängt zu haben. Keuchend blieb die Gruppe stehen.

*

»Die wären wir fürs erste los«, stellte Sandra fest. »Allerdings sind wir jetzt so weit wie heute Morgen.«

»Die Wege des Herrn sind unergründlich, …«, setzte Patrick an.

»Ja, ja, und wir alle sind seine Diener, ich weiß. Das hatten wir gerade schon einmal.« Sandra sah den Pfarrer mit einer schwer zu deutenden Miene an.

»Hatten wir?« Patrick kratzte sich am Kopf. »Kann es sein, dass ich langsam vergesslich werde? So alt bin ich doch noch gar nicht.«

»Und was hast du jetzt vor?«, wollte Stephan von Sandra wissen.

»Wir suchen uns einen anderen Weg, was denn sonst?«

»Wir hätten uns auch einfach den Weg freiprügeln können. Was hältst du davon?«

»Nichts.«

»Und warum nicht, wenn man fragen darf?«

»Weil wir zum einen nicht über unendlich viel Munition verfügen und zum anderen die Gefahr viel zu groß ist, dass einer von uns bei dem Versuch gebissen wird. Sonst noch Fragen?«

»Nee, soweit ist’s klar.« Stephan grinste schief.

»Das bringt mich überhaupt darauf: Du bist immer noch okay. Das scheint mir ein kleines Wunder zu sein.«

»Lobpreiset den Herrn!«, kam es reflexhaft aus Patricks Mund.

»Vielleicht macht es ja gar nichts aus, wenn man gebissen wird.« Stephan zuckte mit den Schultern. »Wir alle scheinen immun zu sein, andernfalls wären wir doch längst ebenfalls zu Freaks geworden. Also wird uns auch der Biss nichts anhaben können, das ist doch nur logisch. Schau ruhig genau hin, ich bin noch so normal wie eh und je, und mich haben diese Viecher definitiv gebissen.«

»Bitte, sprich nicht so despektierlich von diesen armen Seelen.« Patrick sah Stephan tadelnd an. »Sie mögen uns zwar nicht mehr menschlich erscheinen, aber trotzdem gehören sie zu Gottes Schöpfung und waren einmal Menschen und keine ›Viecher‹.«

»Dann würde ich vorschlagen, Sie beten für deren Erlösung, Hochwürden, und lassen uns solange in Ruhe über harte Fakten reden.«

Patricks Mundwinkel zuckten. Er schien einen Moment mit sich zu ringen, dann nickte er. »Also gut, reden wir über die Fakten. Was wissen wir?«

»Wir haben jetzt keine Zeit, die ganze Geschichte beginnend bei Adam und Eva durchzukauen.« Sandra sah die Männer fassungslos an. »Falls ihr es vergessen haben solltet: Wir wollten heute noch zum Fliegerhorst kommen, und wie es ausschaut, haben unsere Freunde genau in dieser Richtung einen kleinen Ausflug ins Grüne unternommen.«

»Ich finde es schon wichtig, ob deren Bisse für uns nun gefährlich sind oder nicht«, beharrte Stephan.

»Pass auf, mein Lieber, ich sage dir jetzt etwas, und ich sage es nur einmal, also hör besser ganz genau zu: Ich bringe diese Kinder in Sicherheit, und wenn es das letzte ist, was ich tue. Jeder der sich mir dabei in den Weg stellt, mich über Gebühr behindert oder aufhält, läuft Gefahr, sich eine Kugel zwischen den Augen einzufangen. Capiche?«

»Du hast eine unnachahmliche Art, deinen Standpunkt klarzumachen.« Stephan strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Also lass uns meinetwegen weitergehen. Wir können auch unterwegs darüber reden.«

*

Mark hatte die Führung der Gruppe übernommen und leitete sie über kleine Sträßchen zum nordwestlichen Rand der Ortschaft. Währenddessen hatten Stephan und Patrick eifrig darüber geredet, wie immun man als Immuner sein konnte, waren aber nicht wirklich zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen. Klar war nur, dass Stephan die Bisse der Zombies bislang nichts hatten anhaben können. Aber keiner wusste, ob dieser Zustand von Dauer war und ob das auch auf alle anderen Mitglieder der Gruppe zutreffen würde. Merkwürdigerweise wollte sich niemand freiwillig für einen Selbstversuch melden.

Nun standen die Pilger erneut am Ortsrand und schauten auf die Felder, die vor ihnen lagen. In etwa einem halben Kilometer Entfernung waren wieder Gebäude zu sehen. Es schien sich um ein Industriegebiet zu handeln.

»Mein Gefühl sagt mir, dass wir dem Gewerbegebiet besser nicht zu nahe kommen sollten.« Sandra sah ihre Begleiter an. »Dort vorne scheint eine Straße zu sein. Zu der schlagen wir uns querfeldein durch und sehen dann, wo sie uns hinführt.«

Da niemand Einwände erhob, setzte sich die Gruppe in Bewegung. Dabei nahmen sie wieder die alte Marschordnung ein. Sandra und Martin ging links und rechts von den Kindern, Stephan vorne und Patrick am Ende.

Sie schlugen ein mäßiges Tempo an, denn Gabis Atembeschwerden wurden immer schlimmer. Auf der einen Seite tat Martin das Mädchen leid, auf der anderen war er aber auch froh darüber, dass nicht er der »Bremsklotz« der Gruppe war. Sandra würde nie soweit gehen, eines der Kinder als »Snack« zurückzulassen, so wie sie es ihm heute Morgen indirekt angedroht hatte, dessen war er sich sicher.

»Wir könnten gemeinsam etwas singen, um uns das Gehen zu erleichtern«, schlug Patrick vor. »Wie wäre es zum Beispiel mit Lied 257 ›Großer Gott wir loben Dich‹?«

Sandra warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Einmal ganz davon abgesehen, dass ich dieses Lied früher schon nicht sehr mochte, fürchte ich, dass uns die Singerei ›Freunde der Musik‹ auf den Hals hetzen könnte, von denen uns bereits ihr Mundgeruch mehr als unangenehm wäre. Sie verstehen, was ich meine?«

»Ja, vermutlich hast du recht. Aber dann lasst uns wenigstens leise beten.«

Sandra verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr.

Patrick sagte leise ein Gebet vor und forderte die Kinder auf, es nachzusprechen. Diese blickten unsicher zu den anderen Erwachsenen, schließlich taten sie dann aber, was der Pfarrer von ihnen wollte.

*

Nach einer Weile machten sie eine Rast. Melanie versuchte noch einmal, Gabis Atembeschwerden mit dem Rest des Asthmasprays zu lindern, doch der Erfolg hielt sich in Grenzen. Patrick nutzte die Pause, um erneut über die Bibel zu referieren, was zumindest den Erwachsenen langsam sichtlich auf die Nerven ging.

»Ich dachte, sie wollten die Kinder auch in etwas Anderem als nur Religion unterrichten?« Stephan sah den Pfarrer an. »Oder glauben Sie etwa, wenn man nur lange genug betet, stellt sich der Rest des Wissens von ganz alleine ein?«

»Natürlich nicht.« Patricks Miene verfinsterte sich. »Das ist blasphemischer Unfug, was du da redest.«

»Ich wollte ihre religiösen Gefühle nicht verletzten, es tut mir leid. Aber was ist denn jetzt mit dem anderen Unterricht?«

»Dafür benötigt man eine Möglichkeit, um schreiben zu können. Ich habe ja heute Morgen nicht ohne Grund darum gebeten, noch ein wenig in dem Haus zu bleiben, aber mein Wunsch wurde abgelehnt.« Patrick sah Sandra tadelnd an.

»Dann üben sie doch das kleine Einmaleins mit den Kindern«, schlug diese vor. »Das geht auch ohne Schreibzeug. Und lauter als Beten ist es auch nicht.«

»Gut, der Vorschlag ist nicht von der Hand zu weisen. Und über die Grundlagen von Mathematik und Rechtschreibung sprechen kann man auch. Da gibt es durchaus das eine oder andere an theoretischem Stoff, den man so vermitteln kann. Trotzdem sollte uns allen klar sein, dass auch das nur auf der Güte des Herrn und seiner allumfassenden Weisheit gründet.«

Überraschend fing Martin wieder einen Gedanken von Tom auf: Langsam weiß ich nicht mehr, wer mir mehr Angst macht, Stephan oder der Pfarrer.

Erneut versuchte Martin zu antworten, doch er scheiterte ein weiters Mal. Es war, als ob irgendetwas verhindern würde, dass er sich auf diesem Weg mitteilen konnte. Dann wurde ihm schlecht.

*

»Kannst du nicht aufpassen?« Sandras Augen blitzten Martin böse an. »Beinahe hättest du mir die Schuhe vollgekotzt!«

»Du hättest es ihn ja sauberlecken lassen können.« Stephan grinste gehässig. »Das hätte ihm sicher gefallen.«

»Was willst du denn damit sagen?« Sandra sah überrascht drein. »Hältst du ihn etwa für pervers oder sowas?«

»Das hat mit pervers nichts zu tun. Sag bloß, dir ist noch nicht aufgefallen, wie dich unser Held immer anschaut? Wie ein treues Hündchen seinen Herrn – Pardon – seine Herrin.«

»Spinnst du jetzt vollends?« Martins Blick war entgeistert. »Was quatscht du denn da für einen Blödsinn?«

»Bitte reißt euch ein wenig zusammen.« In Patricks Stimme lag Strenge. »Es sind Kinder zugegen, und ihr seid im Moment kein wirklich gutes Vorbild.«

»Ich habe nichts gesagt.« Stephans Gesicht war von einem Moment auf den anderen die personifizierte Unschuld. »Von meiner Seite aus ist alles bestens.«

»Aber von meiner nicht!« Martin richtete sich drohend auf. »Du hast doch von Anfang an gegen mich gestänkert, seit du zu uns gestoßen bist. Wenn’s mir im Moment nicht so dreckig ginge, dann würde ich dir mit meinen Fäusten zeigen, was ich davon halte!«

»Oh, tu dir nur keinen Zwang an. Den ersten Schlag hast du frei.«

»Schluss jetzt!«, donnerte Sandra. »Ich habe euch schon einmal gesagt, was ich von diesem ›Männer-Ding‹ halte. Entweder das hört jetzt auf, oder ich ent-manne euch, klar?«

»Ist schon gut, du bist der Chef.« Stephan machte eine entschuldigende Geste. »Ich hab’s ja nicht böse gemeint.«

»Und was ist mit dir?« Sandras Frage war an Martin gerichtet gewesen.

»Er soll mich einfach in Ruhe lassen, dann ist es für mich auch okay.«

»Na, das ist doch ein Anfang.« Sandra lächelte sarkastisch. »Und in zwei bis sieben Jahren habt ihr euch zu einer klassischen Männerfreundschaft zusammengerauft. Falls wir dann noch leben …«

Der Rest der Pause verging, ohne dass noch jemand sprach. Als Gabi sich einigermaßen erholt hatte, setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Patrick verzichtete sogar darauf, neuerlich Unterricht halten zu wollen. Stattdessen sahen seine Augen ein wenig glasig aus.

*

Gegen Abend erreichten die Pilger die Ausläufer der nächsten Ortschaft. Die häufigen Pausen hatten sie erheblich aufgehalten, zusätzlich hatten sie zweimal einen Umweg in Kauf nehmen müssen, um größeren Gruppen von Zombies auszuweichen. Der Fliegerhorst, der eigentlich ihr Ziel war, musste sich nun grob südlich von ihnen befinden.

 

»Wir werden unsere Plan leider ändern müssen«, stellte Sandra mir säuerlicher Miene fest. »Bis zum Militärgelände schaffen wir es heute nicht mehr. Wenn es dunkel ist, sind die Untoten wieder viel zu schnell, das ist einfach zu gefährlich. Also suchen wir uns hier eine Übernachtungsmöglichkeit.«

»Schau, da ist wieder der weiße Hund!« Tom hatte den Arm ausgestreckt und deutete die Straße entlang. »Jetzt geht er in das Haus dort vorne.«

»Dann sollten wir um das Gebäude wohl besser einen großen Bogen machen«, knurrte Stephan. »Wo der Köter ist, sind unsere ›Freunde‹ nicht weit.«

»Bislang hat er immer gebellt, wenn Zombies in der Nähe waren«, überlegte Martin laut. »Diesmal war er ganz still. Kann es sein, dass er uns dieses Haus für die Nacht empfehlen will?«

»Ja klar, erst warnt er uns, dann sucht er nach geeigneten Übernachtungsmöglichkeiten für uns.« Stephan lachte trocken auf. »Was kommt als nächstes? Der Sechser im Lotto?«

»Wenn wir nicht nachsehen, finden wir es auch nicht heraus.« Sandra wirkte entschlossen. »Wir schauen uns die Hütte an, und wenn sie zombiefreie Zone ist, dann pennen wir heute dort. Außerdem würde ich mir das Tierchen zu gerne einmal aus der Nähe betrachten.«

Tatsächlich erwies sich das Haus als geeignet für ein Nachtlager. Weit und breit waren keine Zombies zu sehen, Fenster und Türen machten einen stabilen und intakten Eindruck. Allerdings fehlte auch von dem Hund jegliche Spur. Vermutlich war er durch die Terrassentür verschwunden.