Der Ausschluss des Gattenwohls als Ehenichtigkeitsgrund

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Der Ausschluss des Gattenwohls als Ehenichtigkeitsgrund
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Benjamin Vogel

Der Ausschluss

des Gattenwohls

als Ehenichtigkeitsgrund

Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft

Band 40

Begründet von

Hubert Müller und Rudolf Weigand

Herausgegeben von

Bernhard Sven Anuth und Georg Bier

Benjamin Vogel

Der Ausschluss des Gattenwohls als Ehenichtigkeitsgrund

echter

D 25

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04401-5 (Print)

978-3-429-04941-6 (PDF)

978-3-429-06361-0 (ePub)

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/2017 als Dissertation von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen. Für die Publikation wurde sie geringfügig überarbeitet.

Danken möchte ich allen, die Anteil am Entstehen dieser Studie hatten. Besonderer Dank gilt meinem Erstgutachter Herrn Prof. Dr. Georg Bier für seine ermutigende und konstruktive Betreuung sowie für die hilfreichen Gespräche und Rückmeldungen. Ihm und Herrn Prof. Dr. Bernhard Anuth danke ich zudem für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft. Herrn Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff danke ich für die freundliche Übernahme der Zweitbetreuung und für die Erstellung des Zweitgutachtens.

Zahlreiche Offizialate waren freundlicherweise bereit, Angaben zur eigenen Praxis mit dem Klagegrund „Ausschluss des bonum coniugum“ zu machen und haben für diese Studie Urteile oder Urteilsauszüge zur Verfügung gestellt. Für die unterschiedlichen Formen der Unterstützung bedanke ich mich.

Das Erzbistum Freiburg hat die Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert. Dafür bin ich sehr dankbar.

Den ehemaligen und aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsbereichs Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte in Freiburg fühle ich mich verbunden. Bei und mit ihnen wuchs und wächst meine Faszination am Kirchenrecht und seinen Eigentümlichkeiten. Meinem langjährigen Kollegen Herrn Benedikt Steenberg danke ich für seine Freundschaft und die gemeinsame Zeit in Freiburg. Vielen Dank allen Korrekturleserinnen, besonders Frau Valeska Prenschke.

Ich bedanke mich bei meiner ganzen Familie, ohne deren Unterstützung ich diese Arbeit nicht hätte schreiben können. Von Herzen danke ich meiner Frau Sabine. Für meine Beschäftigung mit dem abstrakten Wohl der Gatten hat sie manche Einschränkung des Gattinenwohls in Kauf genommen. Ihr und unseren beiden Töchtern Nora und Nele widme ich diese Arbeit.

Freiburg im Breisgau, im Juni 2017

INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

1.1 Einführung und Forschungsüberblick

1.2 Ziel und Aufbau

2. Sinngehalte der Ehe bis zum CIC/1983

2.1 Lehramtliche Festlegungen und theologische Entwürfe vor dem II. Vatikanischen Konzil

2.2 Sinngehalte der Ehe in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes

2.3 Der personale Sinngehalt der Ehe bei der Revision des Codex Iuris Canonici

3. Das bonum coniugum im CIC/1983

3.1 Die Hinordnung auf das bonum coniugum in c. 1055 § 1

3.2 Formale Bestimmung des bonum coniugum

3.3 Bonum coniugum und Ehenichtigkeit

4. Ausschluss des bonum coniugum in der Rechtsprechung der Rota Romana

4.1 Bonum coniugum in der Rota-Judikatur bis zum Jahr 2000

4.2 Ausschluss des bonum coniugum in ausgewählten Urteilen der Rota

4.2.1 Sententia coram P. V. Pinto v. 09.06.2000

4.2.2 Sententia coram Civili v. 08.11.2000

4.2.3 Sententia coram Serrano Ruiz v. 23.01.2004

4.2.4 Sententia coram Turnaturi v. 13.05.2004

4.2.5 Sententia coram McKay v. 19.05.2005

4.2.6 Sententia coram Ferreira Pena v. 09.06.2006

4.2.7 Sententia coram Monier v. 27.10.2006

4.2.8 Sententia coram Defilippi v. 26.02.2009

4.2.9 Sententia coram Heredia Esteban v. 26.02.2013

4.3 Ergebnis

5. Ausschluss des bonum coniugum in der deutschsprachigen Judikatur

5.1 Formale und inhaltliche Bestimmung des bonum coniugum

5.2 Worin sieht die deutschsprachige Judikatur einen Ausschluss des bonum coniugum gegeben?

5.3 Fallbeispiele

5.4 Ergebnis

6. Rechtsdogmatische Positionsbestimmung

6.1 Unzulängliche Konzepte einer inhaltlichen Bestimmung

6.1.1 Altkodikarische Sekundärzwecke?

6.1.2 „Liebe“?

6.1.3 Flexible Übereinkunft der Partner?

6.1.4 Anhängig von der Kultur?

6.2 Gegenseitige Vervollkommnung und Heiligung

6.3 Achtung der Personenwürde

6.4 Achtung der Rechtsgleichheit der Gatten

6.5 Ergebnis

7. Konkretionen

7.1 Gewalt in der Partnerschaft

7.1.1 Begriffsbestimmung von „Gewalt“ und „Partnergewalt“

7.1.2 Partnergewalt und Ehenichtigkeit

7.1.3 Partnergewalt mit Kontrollabsicht

7.1.4 Partnergewalt und Ausschluss der Hinordnung auf das bonum coniugum

7.2 Alleinentscheidung im Bereich der Sexualität in der Ehe

7.2.1 Dimensionen der Sexualität und ihre Bedeutung für die Paarbeziehung

7.2.2 Eheliche Sexualität in den Aussagen des kirchlichen Lehramtes vom CIC/1917 bis zum CIC/1983

7.2.3 Eheliche Sexualität im CIC/1983 und ihr Zusammenhang mit dem Ausschluss des bonum coniugum

7.3 Verweigerung der Ko-Evolution in der Ehe

7.3.1 Ko-Evolution als „Kunst gemeinsamen Wachsens in der Partnerschaft“

 

7.3.2 Verweigerung der Ko-Evolution als Ausschluss des bonum coniugum.

7.3.3 Kollusion als pathologische Form der Ko-Evolution

8. Ertrag für die Praxis

8.1 Simulation und positiver Willensakt

8.2 Der Ausschluss der Hinordnung der Ehe auf das Gattenwohl

8.2.1 Abgrenzung zur Totalsimulation

8.2.2 Abgrenzung zur Ehenichtigkeit wegen fehlenden Mindestwillens zur Ehe (absentia consensus)

8.2.3 Abgrenzung zur Unfähigkeit zur Eheführung nach c. 1095, n. 3 im Zusammenhang mit dem bonum coniugum

8.3 Beweis des Ausschlusses der Hinordnung auf das bonum coniugum

9. Zusammenfassung und Ausblick

9.1 Zusammenfassung

9.2 Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Sekundärliteratur

Stellenregister

Gerichtsurteile

Personenregister

Sachregister

1. EINLEITUNG

1.1 Einführung und Forschungsüberblick

„Kurzer Prozess für katholische Ehen“1. Mit dieser Schlagzeile reagierte die WELT auf die Veröffentlichung des Motu Proprio Mitis iudex Dominus Iesus, mit dem Papst Franziskus im August 2015 das Eheprozessrecht der lateinischen Kirche änderte. Erklärte Absicht des Papstes war es, das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren zu vereinfachen und dafür Sorge zu tragen, möglichst zügig und unkompliziert die Nichtigkeit von Ehen feststellen zu können.2 Für Christen, deren sakramentale und vollzogene Ehe gescheitert ist, stellt ein solches Verfahren nach kirchlichem Selbstverständnis nach wie vor die einzige Möglichkeit dar, für eine neue kirchlich gültige Ehe frei zu werden und so den sakramenten- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu entgehen, die andernfalls mit einer (nur) zivilen Wiederheirat nach Scheidung verbunden sind.3

Änderungen des kirchlichen Eheprozessrechts sind zweifellos ein Ansatzpunkt, um das Ehenichtigkeitsverfahren für Betroffene attraktiv(er) zu machen. Vorbehalte gegenüber dem Verfahren werden dadurch möglicherweise abgebaut sowie Hemmschwellen verringert. Dies kann die Akzeptanz des Eheprozesses unter Betroffenen erhöhen. Die Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens werden dadurch – anders als der mehrdeutige Hinweis auf einen „kurzen Prozess“ suggerieren kann – nicht verändert. Auch ein optimal organisiertes Gerichtsverfahren führt nicht zu den von den Antragstellern erwünschten Ergebnissen, wenn es für die Nichtigerklärung der Ehe keine sachliche Grundlage gibt.

Sollen die Erfolgsaussichten eines Ehenichtigkeitsverfahrens verbessert werden, ist bei den Gründen anzusetzen, die das kanonische Eherecht für die Nichtigerklärung einer Ehe bereithält. Insbesondere ist zu fragen, ob die kirchlichen Gerichte bislang alle Möglichkeiten berücksichtigen, die der Gesetzgeber im Codex Iuris Canonici eröffnet. Wer dieser Frage nachgeht, dessen Blick fällt auch auf einen Klagegrund, der mehr als dreißig Jahre nach der Promulgation des CIC noch ein Schattendasein fristet: der Ausschluss der Hinordnung der Ehe auf das Gattenwohl.

Das Gattenwohl (bonum coniugum) begegnet im CIC an herausragender Stelle, in der programmatischen Norm, die das Eherecht einleitet. Dort wird der Ehebund als eine Gemeinschaft des ganzen Lebens beschrieben, die „durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Gatten und auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist“.4 Der Begriff „Wohl der Gatten“ wurde 1983 neu in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen, als möglicher Anknüpfungspunkt für die Nichtigkeit von Ehen jedoch eher zögerlich wahrgenommen. 1995, mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten des CIC, konstatierte Norbert Lüdecke „Startschwierigkeiten“5 für den Klagegrund „Ausschluss des bonum coniugum“ und ermutigte dazu, ihn an kirchlichen Gerichten zu berücksichtigen. Weitere 20 Jahre später gibt es zwar einzelne einschlägige Urteile, von einer routinierten Anwendung kann aber längst noch keine Rede sein. Aus diesem Grund ist eine neuerliche Starthilfe angezeigt.

Die Kirchenrechtswissenschaft hat sich unmittelbar nach der Promulgation des CIC von 1983 mit dem bonum coniugum nur sehr selten eigens befasst.6 Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik beginnt erst Mitte der 90er Jahre.7 Die Zahl der in der Folgezeit veröffentlichten Arbeiten belegt, dass das bonum coniugum stärker in den Fokus der Kanonistik rückte. Teils unter Rückgriff auf die Ehezwecklehre des CIC/1917, teils in deutlicher Abgrenzung davon wurde versucht, dieses neuartige Konzept formal einzuordnen, den Begriff inhaltlich zu konturieren und mögliche Perspektiven für ein Ehenichtigkeitsverfahren zu benennen. Nach ersten einschlägigen Urteilen der Rota Romana um das Jahr 2000 erhöhte sich die Zahl der Beiträge etwas.8 Bei den wenigen zum bonum coniugum publizierten Monographien handelt es sich um italienische oder englische Studien, darunter mehrere an den päpstlichen Universitäten in Rom erarbeitete Dissertationen.9 Sie werden jedoch bisher nicht breiter rezipiert und gehen zumeist auch nicht auf die jüngere Rechtsprechung der Rota ein.10 Diese wurde bisher allein von Giacomo Bertolini ausführlich dargestellt und erörtert.11 Der Umgang mit dem Klagegrund an den Gerichten des deutschen Sprachraums wurde bis heute noch nicht untersucht, eine deutschsprachige Monographie zum Ausschluss des Gattenwohls steht ebenfalls noch aus.12

1.2 Ziel und Aufbau

Die vorliegende Untersuchung möchte diesem Mangel abhelfen. Sie nimmt eine formale und inhaltliche Bestimmung des bonum coniugum vor und zeigt auf, dass es sich beim „Ausschluss der Hinordnung auf das Gattenwohl“ um einen justiziablen Klagegrund handelt.

Dazu wird zunächst der Hintergrund der Fragestellung ausgeleuchtet, um die Aufnahme des bonum coniugum in das kirchliche Gesetzbuch einordnen zu können. So wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die damalige lehramtliche Verhältnisbestimmung der ehelichen Sinngehalte vonseiten der akademischen Theologie angefragt und auf dem II. Vatikanischen Konzil das Thema erneut behandelt. Diese Debatten prägten die Revisionsarbeiten am CIC maßgeblich.

Darauf aufbauend werden Vorkommen und Bedeutung des Begriffs bonum coniugum im geltenden Recht untersucht, um eine formale Bestimmung des Gattenwohls vornehmen zu können. Diese Abgrenzung ist erforderlich, damit gezeigt werden kann, dass der Ausschluss der Hinordnung auf das bonum coniugum eine eigenständige Form der Partialsimulation darstellt und in Ehenichtigkeitsverfahren herangezogen werden kann.

Es folgt eine Erörterung der Judikatur, um die formale Bestimmung zu überprüfen und erste Hinweise auf eine inhaltliche Konturierung des Gattenwohls zu erhalten. Hierfür wird zuerst die Rechtsauffassung der Rota Romana, des päpstlichen Berufungsgerichts, anhand ausgewählter Urteile zum Ausschluss des Gattenwohls analysiert. Danach folgt eine Darstellung der Rechtsprechung der Gerichte des deutschen Sprachraums, die im Rahmen dieser Studie gebeten wurden, Angaben zu ihrem Umgang mit dem Klagegrund zu machen. Mittels der Beispiele aus der Judikatur werden verschiedene Tatbestände vorgestellt, die nach Auffassung des jeweiligen Gerichts einen Ausschluss des bonum coniugum darstellen. Somit wird deutlich, dass ein Vorbehalt im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wohl der Gatten nicht nur auf Extremfälle beschränkt ist, sondern durchaus praktische Relevanz besitzt.

In der kanonistischen Doktrin werden unterschiedliche Aspekte des bonum coniugum benannt bzw. verschiedene Konzepte aufgegriffen, um den Begriff inhaltlich zu füllen. Die gängigen Bestimmungsversuche werden vorgestellt und vor dem Hintergrund ihrer kodikarischen und bisweilen außerkodikarischen Grundlagen daraufhin überprüft, ob sie eine rechtliche Konkretion erbringen. Auf diese Weise soll ermittelt werden, welche Teilaspekte das Gattenwohl ausmachen.

Sicherlich hat das Fehlen einer griffigen inhaltlichen Bestimmung des bonum coniugum die Entwicklung einer konsolidierten Judikatur verzögert und erschwert. Daher werden die herausgearbeiteten Teilaspekte jeweils anhand eines Beispielfeldes vertieft. Hierfür werden Fragestellungen hinsichtlich Partnergewalt, Gestaltung der ehelichen Sexualität und partnerschaftlicher Ko-Evolution behandelt. Dadurch werden sowohl verschiedene Varianten eines Ausschlusses des bonum coniugum vorgestellt als auch konkrete Anknüpfungspunkte für die Rechtsprechung markiert.

Abschließend soll der Ertrag der vorangehenden Ausführungen für die Rechtspraxis erhoben werden. Dabei ist neben dem grundsätzlichen Erfordernis eines positiven Willensaktes darauf einzugehen, was genau einen Ausschluss der Hinordnung auf das Gattenwohl darstellt und welche Formen dieser annehmen kann. Des Weiteren sind Abgrenzungen von anderen Konsensmängeln vorzunehmen, die ebenfalls das bonum coniugum betreffen. Zuletzt werden Fragen im Zusammenhang mit dem Beweis des Klagegrundes geklärt.

Neben der Partialsimulation ist das bonum coniugum auch für andere Ehenichtigkeitsgründe von Bedeutung bspw. hinsichtlich einer Unfähigkeit zur Eheführung gemäß c. 1095, n. 3. Eine solche Unfähigkeit besteht dann, wenn ein Partner aus psychischen Gründen nicht in der Lage ist, wesentliche Pflichten der Ehe zu übernehmen. Dass sich aus der Hinordnung auf das bonum coniugum eigenständige Pflichten ergeben, wird weitgehend bejaht. Die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit das Gattenwohl Objekt einer Unfähigkeit sein kann, stellt jedoch ein eigenes Thema dar und wird daher in der vorliegenden Arbeit nur dort berücksichtigt, wo sich konkrete Verbindungen ergeben.

1Kamann: Prozess, 6.

2So sind bspw. nicht mehr in jedem Fall mehrere Instanzen zu durchlaufen, die Verfahren sollen für die Gläubigen kostenlos sein und – so erklärt sich obiges Zitat – es wurde die Möglichkeit eines kürzeren Eheprozesses vor dem Bischof geschaffen; vgl. Franziskus: Mitis iudex.

3Bereits 1994 verwies die Kongregation für die Glaubenslehre hinsichtlich der Frage des Eucharistieempfangs von Gläubigen nach Scheidung und ziviler Wiederheirat auf eine Klärung des Personenstandes im Rahmen eines Ehenichtigkeitsverfahrens; vgl. C DocFid: Epistula, n. 9. Auf der außerordentlichen Bischofssynode von 2014 sowie auf der ordentlichen Bischofsynode von 2015 wurde das Thema erneut aufgegriffen; vgl. Relatio synodi 2014, n. 48; Relatio synodi 2015, n. 82. Zuletzt hat Papst Franziskus das Verfahren als eine Form von Begleitung nach einer gescheiterten Ehe genannt; vgl. Franziskus: Amoris laetitia, n. 244.

4Vgl. c. 1055 § 1: „Matrimoniale foedus, quo vir et mulier inter se totius vitae consortium constituunt, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est. – Der Ehebund, durch den Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben.“

5Lüdecke: Ausschluß, 117.

6Vgl etwa Burke: Bonum; Sztychmiler: Ius.

 

7Bspw. hielt die Associazione Canonistica Italiana 1994 einen Kongress zu diesem Thema ab. Die Beitrage sind veröffentlicht in: Associazione Canonistica Italiana (Hg.): Il «bonum coniugum» nel matrimonio canonico: Atti del XXVI congresso nazionale di diritto canonico Bressanone-Brixen 12–15 settembre 1994. Vatikanstadt, 1996. Vgl. auch Barrett: Reflections; Pompedda: Bonum.

8Vgl. etwa Aznar Gil: Exclusión; Boccafola: Reflections; Ewering: Ausschluss; Kowal: Annotazione; Lüdicke: Bonum; Mendonça: Developments; Robitaille: Exclusion.

9Vgl. Banjo: Relevance; Bertolini: Bonum; Bertolino: Matrimonio; Bwambale: Bonum; Kimengich: Bonum; Posa: Bonum.

10Die Mehrheit der genannten Monographien ist erschienen, bevor die Rota erstmals ein Urteil in Bezug auf einen Ausschluss des Gattenwohls fällte. Michael A. Banjo befasste sich schwerpunktmäßig mit bonum coniugum und der Gleichheit der Gatten in der Ehe und behandelt vor diesem Hintergrund nur ein Urteil ausführlicher; vgl. Banjo: Relevance, 151–155.

11Vgl. Bertolini: Bonum, 57–298.

12Der bislang umfangreichste deutsche Beitrag stammt von Norbert Lüdecke aus dem Jahr 1995; vgl. Lüdecke: Ausschluß.

2. SINNGEHALTE DER EHE BIS ZUM CIC/1983

C. 1055 § 1, die das Eherecht einleitende Norm des CIC/1983, nennt zwei Bereiche, auf welche die Ehe hingeordnet ist: das Wohl der Ehegatten (bonum coniugum) und die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft (procreatio et educatio prolis).13 Beide Hinordnungen scheinen gleichberechtigt nebeneinander zu stehen. In ihrer heutigen Gestalt ist die Norm das (vorläufige) Ergebnis eines langwierigen Ringens. Es soll in Grundzügen nachgezeichnet werden, bevor in Kapitel 3 der Gesetzestext eingehend untersucht wird.

2.1 Lehramtliche Festlegungen und theologische Entwürfe vor dem II. Vatikanischen Konzil

Welche Sinngehalte14 gehören zum Wesen der Ehe? Stehen sie gleichrangig nebeneinander oder besteht unter ihnen eine Hierarchie? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen lässt sich bis ins 4. Jh. n. Chr. zurückverfolgen. Sowohl die Paarbeziehung der Eheleute als auch ihre Aufgabe als Eltern waren dabei Gegenstand theologischer Erörterung.15 Beide Dimensionen finden sich auch in der Eheenzyklika Arcanum divinae sapientiae von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1880. Als Zwecke der Ehe werden dort genannt: Fortpflanzung des Menschengeschlechts, die Verbesserung des Lebens der Eheleute und das Wohlergehen der Familie. Die Fortpflanzung und damit der prokreative Sinngehalt der Ehe steht in dieser Aufzählung zwar an erster Stelle, doch gibt es keine Anzeichen für eine Überordnung über die anderen Zwecke.16 Eine eindeutige lehramtliche Festlegung lässt sich zu dieser Zeit nicht erkennen, auch bei den Kodifikationsarbeiten zum CIC/1917 wurde das Verhältnis der Ehezwecke noch diskutiert: Die einen sprachen sich für eine Nennung der Ehezwecke aus, ohne eine Rangfolge festzulegen; die anderen lehnten die Gleichstellung der Ehezwecke ab: Unter Verweis auf Thomas von Aquin betrachteten sie die Fortpflanzung als primär, während den Sekundärzwecken mutuum adiutorium bzw. remedium concupiscentiae keine rechtliche Bedeutung für die Gültigkeit der Ehe beigemessen wurde.17

Die letztgenannte Position setzte sich durch und fand ihren rechtlichen Niederschlag in c. 1013 § 1 CIC/1917: „Matrimonii finis primarius est procreatio atque educatio prolis; secundarius mutuum adiutorium et remedium concupiscentiae.“ Das Nebeneinander von partnerschaftlicher und prokreativer Dimension wurde im piobenediktinischen Codex zugunsten einer alleinigen Vorrangstellung der Elternschaft verstanden. Papst Pius XI. hielt 1930 in seiner Eheenzyklika Casti connubii an dieser Rangfolge fest und betonte die Unterordnung der Sekundärzwecke unter den Hauptzweck der Fortpflanzung.18 Zugleich würdigte er aber auch den Stellenwert der partnerschaftlichen Beziehung:

„Diese wechselseitige innere Formung der Gatten, das beharrliche Bemühen, sich gegenseitig zu vollenden, kann in einer gewissen sehr richtigen Weise, wie es der Catechismus Romanus lehrt, auch als erste Ursache und Begründung der Ehe bezeichnet werden, wenn die Ehe nicht im engeren Sinn als Einrichtung zur ordnungsgemäßen Zeugung und Erziehung von Nachkommen verstanden wird, sondern im weiteren als Gemeinschaft, Vertrautheit und Verbindung des ganzen Lebens.“19

Somit stehen in der Enzyklika zwei Ansätze nebeneinander: auf der einen Seite die Bekräftigung einer Zweckhierarchie mit dem allein rechtsrelevanten Primärzweck der Fortpflanzung, wie sie dem CIC/1917 entspricht, auf der anderen Seite die Wertschätzung der Paarbeziehung der Eheleute. Die Spannung zwischen diesen Ansätzen sollte durch die Unterscheidung der Definition der Ehe in einem engeren bzw. einem weiteren Sinn überwunden werden: Die Ehe im engeren Sinn wird primär als Zeugungsgemeinschaft angesehen, nur in einem weiteren Sinn komme der Paarbeziehung grundlegende Bedeutung zu.20 Da aus der Definition im weiteren Sinn jedoch keine Konsequenz für die rechtliche Umsetzung bzw. das hinter der kodikarischen Norm stehende Eheverständnis erfolgte, wurde diese Divergenz nicht aufgelöst.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde auch vonseiten der akademischen Theologie das Verhältnis der ehelichen Sinngehalte thematisiert. Bereits 1905 schrieb der Tübinger Moraltheologe Anton Koch der Lebensgemeinschaft der Gatten noch vor der Elternschaft die erste Stelle zu.21 Ausführlich widmete sich Herbert Doms22 dieser Fragestellung: Dabei legte er u. a. die ehepsychologische Erkenntnis zugrunde, dass meist nicht die Fortpflanzung ausschlaggebendes Ehemotiv sei, sondern der Wunsch der Gatten nach gegenseitiger Vollendung. Diese werde zwar auch durch die Kinder bewirkt, in erster Linie jedoch durch die Gemeinschaft der Partner.23 Diese „zweieinige Lebensgemeinschaft“24 sei der innere Sinngehalt der Ehe, sie sei „zunächst etwas tief Sinnhaftes in sich selbst, bevor sie ‚zu etwas‘ ist […].“25 Doms unterschied diesen Ehesinn von den Ehezwecken (Vollendung der Gatten bzw. Zeugung von Nachkommen) und plädierte dafür, auf die Festlegung einer Rangfolge dieser Zwecke zu verzichten.26 Von diesen Überlegungen auf der metaphysischen Ebene trennte er die rechtliche Ebene der Ehe ab und erreichte so eine Kompatibilität mit der lehramtlichen bzw. kodikarischen Auffassung. Ähnlich wie in Casti connubii stehen in diesem Entwurf die beiden Sphären unvermittelt nebeneinander und der personale Zweck wird rechtlich nicht relevant.27

Auch der Berliner Jesuit Hermann Muckermann bejahte die Bedeutung der personalen Dimension neben der prokreativen, nahm die Verhältnisbestimmung jedoch anders vor als die beiden zuvor genannten Autoren. Er ging von einem doppelten Sinn der Ehe aus28 und sah die „unmittelbare Aufgabe“ des ehelichen Zusammenlebens darin, „aus der Ergänzungsfähigkeit heraus durch den seelischen Austausch die Entwicklung zu einem höheren Menschentum zu erreichen“29. Die Zeugung und Erziehung von Nachkommen seien diesem Sinngehalt jedoch nicht gleich-, sondern übergeordnet: Er betonte, dass „der tiefste Sinn der Ehe nicht nur in der Lebensgemeinschaft von Gatte und Gattin [liege], sondern vor allem in der ehelichen Fruchtbarkeit.“30 Die Ergänzung der Partner könne erst dann als vollkommen betrachtet werden, wenn ein Kind aus der Ehe hervorgehe.31 Zusammengefasst bestehe die Ehe

„ganz allgemein in der Ergänzung der beiden geschlechtlich verschiedenen Menschen, um der gegenseitigen Vervollkommnung zu dienen und die gesamte Lebensaufgabe – jeder auf seine Art – gemeinsam zu lösen. Dieser allgemeine Sinn, den als solchen auch der römische Katechismus anerkennt, schließt den zweiten Sinn ein, der, von der Natur sowohl als von der Übernatur aus gesehen, der wichtigste ist. Man bezeichnet ihn als finis primarius. Dieser Sinn betrifft das Kind, und zwar seine Entstehung und seine Gestaltung und Erziehung […].“32

Auch hier ergibt sich aus der Anerkennung des Eigenwerts der Paarbeziehung keine Konsequenz in rechtlicher Hinsicht.

Die damaligen Versuche stimmen im Bemühen überein, die traditionelle Engführung auf den Fortpflanzungszweck durch die Würdigung eines eigenständigen personalen Zieles zu überwinden. Neben diesem Anliegen waren die Autoren bestrebt, eine Anschlussfähigkeit an die lehramtlichen und kodikarischen Vorgaben zu bewahren. Damit lässt sich auch der Verzicht auf rechtliche Folgerungen erklären. Ferner ist zu beachten, dass die Autoren einen genuin sakramenten- bzw. moraltheologischen Ansatz verfolgten; daher standen Grundlegung und Darstellung des Ehelebens im Vordergrund und nicht die Anforderungen an den Ehewillen.33

Dennoch sah sich das kirchliche Lehramt zu Klarstellungen veranlasst: In seiner Ansprache vor dem Apostolischen Gericht der Rota Romana vom 03.10.1941 verurteilte Papst Pius XII. die Auffassung, Primär- und Sekundärzweck seien „ugualmente principale“.34 Der Sekundärzweck dürfe zwar nicht bestritten werden, doch sei er dem Primärzweck wesentlich unter- und seiner intrinsischen Struktur nach auf diesen hingeordnet.35 Das Hl. Offizium mahnte dies in einem von Pius XII. approbierten Dekret vom 30.04.1944 ebenfalls an. Anstoß gaben nicht näher genannte Veröffentlichungen, welche verneinten, dass die Zeugung von Nachkommen den Primärzweck darstelle, oder die Unterordnung der Sekundärzwecke unter den Primärzweck ablehnten.36 Exemplarisch wird die Behauptung angeführt, die Ehe sei vorrangig zur persönlichen Ergänzung und Vervollkommnung der Partner eingerichtet.37 Weil aus solchen Ansichten Irrtümer und Unsicherheiten entstehen könnten, sah sich die Kongregation veranlasst, einzuschärfen, dass diese Positionen nicht geduldet werden könnten.38 Pius XII. wiederholte das in mehreren Ansprachen, besonders deutlich und mit ausdrücklicher Berufung auf das Dekret des Hl. Offiziums in seiner Ansprache bei der Versammlung der katholischen Hebammen Italiens vom 29.10.1951.39 Obwohl das kirchliche Lehramt die personale Dimension der Ehe in den o. g. Lehrschreiben anerkannte, betonte es, diese sei vom Fortpflanzungszweck abhängig und ihr komme rechtliche Bedeutung nicht zu. Insofern wurde den ehe- und moraltheologischen Vorstößen, die Ehezwecklehre zu modifizieren, eine klare Absage erteilt. Eine Weiterentwicklung der Ehetheologie, die der Paarbeziehung einen Eigenwert einräumte, und das lehramtliche Beharren auf der Hierarchie der Ehezwecke standen einander unversöhnlich gegenüber.

Der italienische Kanonist Arturo C. Jemolo zeigte an einem fiktiven Fall eindrücklich die Diskrepanz zwischen dem personalen Eheverständnis und der damals geltenden Rechtslage auf: In diesem Beispiel will ein Mann eine Frau mit dem Ziel heiraten, an ihrer Familie Rache zu nehmen. Er hat vor, seine Braut in der Ehe zu quälen, um so deren Familie leiden zu lassen und sie zu demütigen. Wie war ein solcher Ehewille nach der Rechtslage des CIC/1917 zu beurteilen? Jemolo konstatierte: Solange der Mann nicht durch positiven Willensakt eines der drei augustinischen Ehegüter oder die gegenseitige Übertragung des Rechts auf zeugungsgeeigneten Geschlechtsverkehr (ius in corpus) ausschlösse, wäre der Ehewille in rechtlicher Hinsicht ausreichend, um eine gültige Ehe einzugehen.40 Das wäre sogar dann der Fall, wenn der Mann darüber nachdächte, seine Braut zu töten.41 Technisch gesehen, würde es sich um eine gültige Ehe handeln, doch sei gleichermaßen klar, dass es sich bei dieser Heirat zur Erfüllung einer vendetta um etwas handle, das keinesfalls dem entspreche und dessen würdig sei, was gemeinhin als Ehe angesehen werde.42

2.2 Sinngehalte der Ehe in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes

Die lehramtlichen Zurückweisungen neuer ehetheologischer Entwürfe vermochten weder die Diskussion um das Zueinander der Sinngehalte der Ehe gänzlich zu unterbrechen, noch boten sie eine Lösung für das zugrundeliegende Problem.43 Der Fragenkomplex wurde im Kontext der Vorbereitungen und Beratungen des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) erneut behandelt und kontrovers diskutiert.