New Order, Joy Division und ich

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Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch entschieden, Terry – nach seinem gescheiterten Versuch als Drummer – eine Chance als zweiten Gitarristen zu geben. Ich hatte einen Gitarrenverstärker von Zenith erstanden, aber er klang abscheulich. Dieses beschissene Transistor-Ding hatte nämlich einen echt dünnen, sauberen Sound. Schließlich wollte ich Punk spielen. Damit klangen wir aber mehr wie Mark Knopfler. Ich drehte ihn immer mehr auf, aber egal, wie hart ich ihn rannahm, er klang immer noch sauberer und tat einem richtig in den Ohren weh. Unverständlicherweise habe ich mir auf E-Bay gerade noch einmal einen gekauft. Keine Ahnung wieso. Vielleicht aus Nostalgie?

Ians Verstärkeranlage war ebenso Mist. Es klang schrecklich und verzerrt, aber dafür waren die Lautsprecher in Ordnung. Wir organisierten einen neuen Verstärker für den Gesang und Terry übernahm Ians alten für seine Gitarre. Allerdings spielte er absichtlich leise, damit man ihn nicht hören konnte.

Der nächste Schritt bestand darin, einen Drummer zu finden, um die klassische Punk-Besetzung – Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug – zu vervollkommnen. Wie sich bald herausstellte, meldete sich auch diesmal eine Reihe von Knallköpfen, Wahnsinnigen und Arschlöchern. Es zeigte sich, dass Drummer in dieser Hinsicht sogar noch schlimmer sind als Sänger, und wir probierten es mit ziemlich vielen aus. Ein paar waren ganz gute Schlagzeuger, aber dafür totale Nervensägen. Ich erinnere mich da an einen Typen, der zu denken schien, dass er uns vorspielen ließ – ob wir denn gut genug für ihn wären. Wieder ein anderer, ein angehender Sportlehrer, schien eigentlich ganz vielversprechend zu sein, aber irgendwie hatten wir dennoch das Gefühl, dass er nicht dazupassen würde. Blöd war nur, dass wir ihm schon zugesagt hatten. Hooky und ich fuhren also nach Middleton, um uns mit ihm zu treffen und die Sache zu klären. Als wir auf dem Weg zu ihm waren – wir fühlten uns einigermaßen schlecht deswegen –, besorgten wir eine Schachtel Pralinen, quasi als Trost. Wir kamen schließlich beim College, wo er studierte, an, spazierten hinein und fanden ihn vor, wie er gerade mit seinen Mitstudenten herumalberte – sie verdroschen sich gegenseitig mit nassen Handtüchern, das Übliche eben.

Wir riefen ihn zu uns, setzten uns hin und sagten ihm, dass wir schlechte Nachrichten für ihn hätten. Da wir nicht die Eier hatten, ihm zu erklären, warum wir ihn nicht wollten, teilten wir ihm mit, dass wir die Band überhaupt bleiben lassen würden. Wir entschuldigten uns dafür, dass wir falsche Erwartungen in ihm geweckt hätten, und überreichten ihm die doppellagige Box mit Pralinen als Zeichen unserer Anerkennung. Er war – gelinde gesagt – ein wenig perplex, aber damals schien es uns die richtige Geste zu sein. Wir waren eigentlich ziemlich nette Leute, weshalb wir uns auch schlecht wegen der Sache fühlten, besonders weil wir zuvor noch nie jemanden gefeuert hatten.

Nun hatten wir aber immer noch keinen Drummer, eine Situation, die rasch zur Zwangslage wurde, als uns schließlich unser erster Gig – als Vorgruppe der Buzzcocks am 29. Mai 1977 im Electric Circus – angeboten wurde. Wir hatten uns mit ihnen angefreundet und wandten uns an sie, wenn wir Rat brauchten. Immerhin hatten wir keine Ahnung in Bezug auf Verstärker, Gitarren und all die anderen Dinge, über die man Bescheid wissen sollte, wenn man in einer Band spielte. Manchmal fuhren wir mit ihnen auch in Terrys Auto durch die Gegend. Das war eine echte Scheißkarre, ein Vauxhall Viva. Die Sitze waren nicht verstellbar, es gab keine Zentralverriegelung, keine Getränkehalter. Eines Tages saßen also die Buzzcocks auf der Rückbank, Terry hinterm Steuer und ich war Beifahrer. Im Türfach bewahrte Terry jede Menge Schleifpapier auf. Der Wagen war nämlich seine Bastelkarre, die er gerade auf Vordermann bringen wollte. Sogar während er damit herumfuhr. Jedes Mal, wenn wir bei einer Ampel anhielten, kurbelte er das Fenster runter, schnappte sich eine Lage Schleifpapier, lehnte sich hinaus und begann die Karosserie abzuschmirgeln. Die Rostlaube war so im Eimer, dass der Motor bei jeder zweiten Ampel absoff. Der einzige Weg, das Auto wieder in Gang zu bekommen, war, mit einem Gummischlauch Benzin aus dem Tank anzusaugen, während gleichzeitig jemand die Zündung betätigte. Dann musste man den Treibstoff in den Vergaser blasen. Gott, wie uns die Buzzcocks hochleben ließen, wann immer solche Sachen passierten. Sie nannten Terry „Benzinsauger“, aber Terry nannte Pete Shelley ja auch „Abgelaufene-Butter-Atem“. Keiner von beiden wusste jedoch über seinen jeweiligen Spitznamen Bescheid. Die Buzzcocks konnten aber selbst auch ziemlich schräg drauf sein. Einmal zog Pete Shelley dieses abartige, schuppenförmige Ding, das an ein altes Cornflake erinnerte, aus seiner Geldtasche hervor und hielt es mir unter die Nase. Ich fragte ihn: „Was zum Geier ist das denn?“ Er antwortete: „Ich fiel unlängst hin und schürfte mir den Ellbogen auf. Das ist der Schorf.“ Egal, Richard Boon, ihr Manager, unterstützte uns sehr und hatte uns diesen Gig im Electric Circus verschafft, worüber wir sehr aufgeregt waren. Leider hatten wir eben zu diesem Zeitpunkt weder einen Namen noch einen Drummer. Nachdem sie uns schon geholfen hatten, unseren ersten Gig an Land zu ziehen, versuchten die Buzzcocks nun auch, uns mit dem Namen unserer Band behilflich zu sein, und auch uns selbst waren schon ein paar eingefallen, die wir nun diskutierten. Hooky etwa hatte The Out of Town Torpedoes vorgeschlagen. Auch The Slaves of Venus stand als Name im Raum. Stellt euch nur vor, wir hätten uns für einen davon entschieden.

Wir brauchten aber dringend einen Namen. Richard Boon schlug uns daraufhin Stiff Kittens vor, was uns anfänglich gut gefiel, weil es ein brauchbarer Punk-Name war. Aber wir waren uns unsicher, wie lange so ein Name gut klingen würde. Außerdem, wenn ich ehrlich bin, trug auch der Umstand, dass er von außen kam, dazu bei, dass wir uns letztendlich dagegen entschieden. Der Name, den wir uns selbst ausdachten und mit dem wir alle einverstanden waren, lautete schließlich Warsaw. Wir fanden nämlich, dass unsere Musik eine kühle, strenge Atmosphäre ausstrahlte – und die Stadt Warschau, auf Englich Warsaw, schien uns ein kühler, strenger Ort zu sein. Natürlich war noch nie jemand von uns je dort gewesen. Und so wurde Warsaw der Name, der nicht mehr sein sollte als ein Platzhalter. Fürs Erste musste das jedenfalls reichen.

Damals beabsichtigten wir noch nicht, unmittelbar einen bleibenden, tiefschürfenden Eindruck auf die Welt zu machen, sondern einfach nur, unseren ersten Gig zu spielen, Live-Erfahrung zu sammeln und herauszufinden, wie es sich anfühlte, vor einem Publikum aufzutreten. Es wäre einfach nur unser erster Schritt, ein unspektakulärer erster Schritt auf dem Weg, der uns bevorstand. Außerdem stellte sich heraus, dass es bereits eine Band namens Warsaw Pakt gab, weshalb wir ohnehin bald mal unseren Namen würden ändern müssen, aber fürs Erste waren wir jetzt Warsaw. Ich weiß aber noch, dass diese Entscheidung zu spät fiel, um auf den Konzertplakaten noch berücksichtigt zu werden, denn da wurden wir als Stiff Kittens angekündigt.

Und so machten wir uns startklar und heuerten kurz vor dem Gig einen Schlagzeuger namens Tony Tabac an. Wir waren bereit für unser erstes Konzert. Nun ja, mehr oder weniger zumindest.


Das Electric Circus befand sich in einer Gegend von Manchester namens Collyhurst. Ich glaube, dass in dem Gebäude ursprünglich ein Varieté-Club und ein Kino untergebracht gewesen waren, aber ab 1977 war es dann schließlich eine bekannte Location für Punk-Gigs. Ich denke, dass auch The Clash dort auftraten. Auf jeden Fall spielten dort viele der Punkbands, die nach Manchester kamen. Es war eine ziemlich raue Gegend. Der Club lag gegenüber der Wohnanlage Collyhurst Flats, von deren Balkonen Kids Flaschen auf die Punks, die sich für Konzerte anstellten, warfen. Die Punks konnten sich darüber nicht wirklich beschweren, weil Flaschenwerfen vom Balkon ein ziemliches Punk-Ding war und abgesehen davon recht spaßig wirkte. Das Electric Circus war dennoch eine echt gute Location und es gab definitiv schlimmere Kaschemmen, um seine erste Live-Performance abzuliefern.

Am Abend des 29. Mai 1977, während draußen Punks den Flaschen, die vom Himmel auf sie niederfielen, auszuweichen versuchten, beendeten wir unseren ersten Soundcheck, nippten an unserem Catering-Bier und zählten die Minuten bis zu unserem allerersten Auftritt. Unser Set würde heute nicht darauf schließen lassen, um welche Band es sich da handelte, so viel sei gesagt. Ich denke, dass keiner der Songs, die wir an diesem Abend spielten, die Zeit, die seither vergangen ist, überstanden haben dürfte. Während unserer Sessions im Grey Mare hatten wir im Verlauf von ein paar Wochen ein paar Songs geschrieben und eingeprobt –

es waren etwa acht oder neun und alle sehr punkig, sehr „one-two-three-four!“.

Sie waren echt beschissen, aber schon damals war mir bewusst, dass sie zu einem Lernprozess gehörten und die Songs mit der Zeit besser werden und über mehr Tiefe verfügen würden. Sie würden irgendwann nach uns klingen und nicht nach jeder anderen Punkband, die mit 150 Stundenkilometern unterwegs war. Wir waren wie Maurerlehrlinge: Mit diesen ersten Songs errichteten wir eine Mauer, nur um zu sehen, wie das gemacht wurde, im vollen Wissen, dass wir sie im Anschluss wieder niederreißen würden, um anzufangen, ein Haus zu bauen. Die Nummern, die wir an jenem Abend im Electric Circus spielten, repräsentierten diese „Übungsmauer“, und das Haus, das wir danach begannen aufzubauen, wurde später unser erstes Album, Unknown Pleasures.

Wir traten als erste Band auf, nach uns kam dann eine Band namens Penetration. Die Buzzcocks würden den Abend abschließen. Wenn ich nicht falschliege, stand auch John Cooper Clarke auf dem Programm. Auf den ersten Blick sah es nicht besonders gut für uns aus: Wir hießen anders als auf dem Plakat, hatten einen Drummer, den wir kaum kannten, und ein Set mit Songs, von denen wir selbst wussten, dass sie keine Klassiker werden würden. Es war sicher nicht das strukturierteste und minutiös ausgearbeiteste Debüt in der Musikgeschichte.

 

Da es sich um einen sehr wichtigen Moment zu Beginn einer langen und bemerkenswerten Geschichte handelte, nehmt ihr vermutlich an, dass ich mich noch an jeden einzelnen Augenblick dieses Abends erinnern kann. Allerdings habe ich seither buchstäblich Tausende von Konzerten in allen möglichen Ausprägungen gespielt, weshalb es für mich sehr schwer ist, mich in diese Situation, als ich zum ersten Mal vor Leuten spielte, zurückzuversetzen. Dies vorausgeschickt, kann ich euch versichern, dass ich mich allerdings trotzdem an ein paar Dinge erinnern kann. Als ich als Kind in der Alfred Street wohnte, hat mein Großvater mir gezeigt, wie man schwimmt, indem er einen Hocker nahm, mich darauf legte und mir dann die verschiedenen Schwimmstile zeigte. Ich lag flach auf dem Hocker, zappelte mit Armen und Beinen in der Luft, während er mich in den Grundlagen unterrichtete. Dann gingen wir ins Schwimmbad, wo ich ins Wasser stieg, um das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Dieser Gig war ein bisschen so wie der Augenblick, in dem ich mich zum ersten Mal vom Beckenrand abstieß. Ich konnte mich nirgendwo mehr festhalten, es gab kein Zurück, ich musste an mich selbst glauben, meinen Kopf über Wasser halten und die andere Seite erreichen. So lässt sich ungefähr das Gefühl beschreiben, das ich mit diesem Gig in Verbindung bringe.

Bezüglich irgendwelcher Details erinnere ich mich nur mehr an sehr wenig, etwa daran, dass mir während eines Gitarrensolos bei einem Song namens „Novelty“ eine Saite riss.

Wenn ich ehrlich bin, dann bedeutet mir dieser erste Gig nicht sehr viel. Wenn ich mein Leben mit dem Aufstieg auf einen Berg vergleiche, dann bot sich mir durch dieses Konzert allerhöchstens ein erster Blick auf diesen Berg – aber das ist auch schon alles. Ich hatte nicht das Gefühl, als wäre es das, für das was ich geboren worden war. Natürlich war es eine wichtige Erfahrung und unsere erste Lektion in puncto Bühne: Wer steht wo beim Konzert, wo bauen wir unsere Ausrüstung auf, wie macht man einen Soundcheck und stellt eine Liste von Dingen zusammen, die der Veranstalter bereitstellen muss. Wir erfuhren, wie es war, vor einem Raum mit Menschen aufzutreten. Auch wurden ein paar der Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten, beantwortet, etwa: „Möchte ich das wirklich tun? Worum geht es, wenn man in einer Band ist? Was bedeutet das alles eigentlich?“ Aber es warf auch ganz neue Fragen auf. Es gab zu jener Zeit enorm viel Musik, die ich nicht mochte – zeitgenössischen Mainstream-Pop, das meiste, was untertags so im Radio lief, solche Scheiße eben – und plötzlich bestand die Möglichkeit, dass ich zu einem Teil dieser Welt und dieses Systems wurde. Würde ich mich davon absorbieren lassen und ein Rädchen in dieser Maschine namens Musikbusiness werden? Inwiefern würde ich die Fäden in der Hand halten können? Somit war der erste Gig zwar nicht lebensverändernd, aber ich hatte zumindest herausgefunden, dass ich auch im tiefen Wasser schwimmen kann. Vielleicht nur mit großer Müh und Not, zugegeben, aber ich hielt meinen Kopf über der Wasseroberfläche. Obwohl ich noch ein paar Schwimmstunden benötigte, wusste ich, dass ich es draufhätte. Ich wollte es tun und ich wollte es auf meine Art tun. Außerdem wollte ich gut darin werden.

Nach unserem Debüt erschienen auch zwei Kritiken. Eine davon war gut. Ich denke, dass Paul Morley dagewesen war und schrieb, dass er uns mochte, aber auch davon ausging, dass er uns sechs Monate später noch mehr mögen würde – was dann auch genau so eintraf. Ich las mir aber auch die andere durch, und die war echt vernichtend. Sie war total abschätzig geschrieben und ich wurde ganz besonders hart rangenommen, weil ich zu jung aussah, um in einer Band zu spielen, beziehungsweise dass ich rüberkäme wie ein Junge von einer Privatschule. Ich fragte mich, was denn falsch daran sei, jung auszusehen. Außerdem war ich nun wirklich nicht auf einer Privatschule gewesen. Inverser Snobismus dieser Prägung war immer schon eines meiner liebsten Feindbilder gewesen. Ich lernte somit schon sehr früh, dass es besser für einen ist, sich Kritiken –

egal, ob gut oder schlecht – gar nicht erst durchzulesen. Ich kann mir ja nicht einmal Fotos von mir ansehen, geschweige denn Interviews mit mir durchlesen.

Zu dieser Zeit mussten wir uns von den Büffelhäuten und dem Grey Mare verabschieden und uns nach einem neuen Proberaum umsehen. Ein neuer Vermieter hatte nun das Sagen und – seltsamerweise – etwas dagegen, eine Punkband über seinem Pub einen Heidenlärm veranstalten zu lassen, und setzte uns auf die Straße. Wir versuchten es als Nächstes in einem Irish Pub. Der dortige Vermieter meinte, wir dürften bei ihm spielen, aber als wir schließlich unsere Sachen bei ihm aufstellen wollten, hatte er es sich anders überlegt und sagte, dass wir uns verpissen sollten. Dann versuchten wir es mit einem Raum der Kirchengemeinde, bis man uns auch dort nahelegte, uns nach etwas anderem umzusehen, weil auch sie nichts mit einem Haufen dahergelaufener Taugenichtse mit lärmigen Gitarren zu tun haben wollten. Danach landeten wir, wenn ich mich nicht täusche, wieder in einem Pub, vom Grey Mare die Straße hinunter. In unseren Anfangstagen zogen wir einige Male um. Erst unlängst bin ich im Internet über eine Bewertung des Grey Mare gestolpert. Da hieß es, es sei eine Spelunke, „aber wahrscheinlich die beste in der Eccles New Road“. Der Verfasser schrieb, dass er das letzte Mal, als er daran vorbeigegangen sei, „zwei betrunkenen alten Männern“ ausweichen habe müssen, die „nach einer Barschlägerei, nach draußen stolperten und auf die Straßenbahngeleise bluteten“. Online-Besprechungen müssen nicht immer der Wahrheit entsprechen, aber ich denke, dass wir dennoch noch etwas abwarten, bis die Gegend ein wenig „gentrifizierter“ ist, bevor wir uns mit New Order dort um einen Proberaum bemühen.

Trotz unseres Nomadendaseins probten wir sehr viel und lernten sehr schnell dazu. Zusätzlich fanden wir auch heraus, wie ernst wir an die Sache tatsächlich herangehen beziehungsweise was wir damit erreichen wollten. Zwar erlebten wir keinen unmittelbaren Augenblick der Katharsis, jedoch nahm uns das, was wir langsam auf die Beine zu stellen vermochten, stufenweise immer mehr in Beschlag, bis es schließlich zur wichtigsten Sache in unserem Leben wurde. Uns wurde bewusst, dass es das Größte für uns war, uns neue Ideen für Songs einfallen zu lassen, und wir liebten es, unsere Instrumente zu spielen, sogar auf unserem bescheidenen Niveau. Außerdem behagte uns die soziale Komponente: auf Gigs zu gehen, andere Bands zu treffen, ihnen zuzuschauen und zuzuhören und zu lernen. Immerhin blieben wir unterm Strich im Herzen einfache Musikfans. Musik füllte das Loch, das unsere Existenz im Salford der Siebzigerjahre in uns aufgerissen hatte.

Das Verdienst der Sex Pistols bestand darin, dass sie uns gezeigt hatten, dass man kein Virtuose sein musste, um Musik und Texte zu schreiben, die jene, die sie hörten, zu berühren vermochten; dass es möglich war, Songs zu erschaffen, die Menschen etwas bedeuten konnten. Die Energie der Interpreten war einer der Schlüsselfaktoren, nicht die Geschicklichkeit des Leadgitarristen oder wie viel Synthesizer-Tastaturen der Keyboarder um sich herum aufgebaut hatte. Wir wurden getragen von einer Attitüde, die allen Elementen der Gesellschaft, die sich uns entgegen zu stellen schienen, herzhaft „fuck you“ entgegenschrie: den Lehrern, der Polizei und all den Leuten, die uns sagten, wie wir zu sein hätten und was wir mit unseren Leben anzustellen hätten. Es ist jedoch eine unangenehme Tatsache, dass es stets die Jugend ist, die im Recht ist: Der Läufer, der den Staffelstab übernimmt, ist derjenige, der ihn braucht, und nicht der Läufer, der ihn übergibt. Zu diesem Zeitpunkt in der gesellschaftlichen und kulturellen Geschichte Großbritanniens war es zur Abwechslung nicht nur ein Vorteil, unangepasst zu sein, sondern sogar eine große Chance – und gewöhnlichen Kids aus der Arbeiterklasse von Salford, die über wenige bis gar keine Qualifikationen verfügten, boten sich im Gegensatz dazu nur in sehr eingeschränktem Maße Möglichkeiten. Wir hingegen ließen es richtig krachen.

Musik war schnell zu einem sehr wichtigen, wenn nicht sogar maßgeblichen Faktor in meinem Leben geworden. Es war fast ein wenig so, als sei ich blind zur Welt gekommen und hätte mit knapp 16 Jahren das Geschenk des Sehens erhalten, was zur Folge hatte, dass ich nun schier überwältigt war vom Licht, den Farben, den Kontrasten und der Schönheit, die mich umgab. Bei uns zuhause war zwar auch Musik gespielt worden, aber nicht gerade in rauen Mengen. Die wenige Musik, die bei uns lief, orientierte sich stets an dem Geschmack meiner Großeltern. Meine Großmutter sang mitunter und erzählte mir sogar, dass sie in jungen Jahren mit dem Gedanken gespielt habe, eine professionelle Sängerin zu werden. Ihr Repertoire bestand allerdings aus alten Varieté-Nummern, was nicht wirklich dem entsprach, was ein kleiner Junge in den Sixties gerne gehört hätte. Manchmal hörte ich Musik im Radio, aber die meisten Nummern, die dort liefen, also die Schmachtfetzen und Schnulzen des BBC Light Programmes, waren in meinen Ohren Mist. Wir hatten, als ich dann ein wenig älter war, zwar auch ein Fernsehgerät, aber mit dem konnten wir nur einen Kanal, nämlich ITV, empfangen. Ich glaube, dass mein Großvater mithilfe einer Leiter die Fernsehantenne so einstellen hätte können, dass wir BBC reinbekommen hätten, aber aus irgendeinem Grund konnte ihn niemand dazu bewegen. Wir konnten zwar den Ton des BBC-Fernsehens empfangen, aber kein Bild. Auf diese Weise erfuhr ich 1966 zum Beispiel von der Katastrophe von Aberfan, bei der in Wales eine ganze Schule mitsamt den Schülern verschüttet worden war. Ich hörte die Tonspur der Fernsehnachrichten, sah aber gleichzeitig nur verzerrte Bilder, während alle im Haus angesichts dieser schrecklichen Neuigkeit verstummten.

Obwohl sie also keine große Rolle bei uns spielte, wurde Musik zur treibenden Kraft in meinem Leben. Und mittlerweile fasste die Band zusehends Tritt und fand so heraus, was zu tun und – ebenso wichtig – was zu unterlassen sei. Wir besuchten so oft wie möglich Konzerte anderer Bands, um zu hören, was bei ihnen so abging, während wir uns gleichzeitig fest bemühten, selbst mehr Gigs zu ergattern. Schließlich, ein paar Monate nach dem Gig im Electric Circus, fanden wir endlich unsere perfekte Besetzung. Ein großer Schritt in die richtige Richtung. Tony Tabac war ein guter Drummer, aber aus irgendeinem Grund blieb er nicht bei uns, und wir ersetzten ihn durch einen Typen namens Steve Brotherdale, der bei einer anderen lokalen Band mit dem Namen The Panik trommelte. Auch er war ein kompetenter Schlagzeuger, schien allerdings ebensowenig zu uns zu passen. Zum einen nahm er zu allen unseren Gigs seine Freundin mit, was uns irgendwie nicht zusagte. Wir dachten nämlich, dass es bei der Band ausschließlich um die Band gehen sollte. Es war, als würde man seine Freundin in die Arbeit mitbringen.

Zum Glück fanden wir Steve Morris, der sich auf einen Zettel hin gemeldet hatte, den Ian im Fenster von Jones Music Store in Maccelsfield gemeldet hatte – diesen Laden gibt es übrigens immer noch. Es war auf jeden Fall von Anfang an klar, dass er der richtige Typ für uns war. Er war nicht nur ein toller Schlagzeuger, sondern schien den Rest von uns perfekt auszubalancieren.

Steve ist als Charakter schwer zu beschreiben. Trotzdem werde ich es versuchen. Er steht überhaupt nicht auf Konfrontationen. Das geht so weit, dass er kaum einmal mit Ja oder Nein auf eine klare Frage antworten kann. Statt dir zu sagen, was er denkt, wird er dir eher mitteilen, was er sich nicht denkt. Wenn du Glück hast. Er ist relativ exzentrisch, fast schon auf eine Art, die an John Cleese erinnert. Er sammelt zum Beispiel Panzer. Keine Modelle, sondern echte Panzer. Ich kann mir vorstellen, dass er in seiner Schulzeit ziemlich wild war. Er war auch in der Band ziemlich wild, aber ich möchte seinem Buch, falls er denn einmal eines schreiben möchte, nicht vorgreifen. Er ist ein Drummer und das sind seltsame Leute. Ihr Beruf ist es, auf Dinge einzuprügeln, und Steve macht das sehr, sehr gut.

Als er uns zum ersten Mal traf, sagte Brandon Flowers von The Killers: „Ich durchschaue jeden, aber nicht Steve. Ich glaube nicht, dass er mich mag.“ Das stimmt nicht, Brandon! Steve ist einfach … nun … Steve. Und eigentlich ist er sogar witzig. Als wir ihn kennenlernten, war er sehr entspannt, ganz typisch Macclesfield, so wie Ian auch. Eine typische Macclesfield-Mentalität, die sich aber nur schwer beschreiben lässt. Ich kann das bis heute nicht wirklich definieren, aber was auch immer es war, sie hatten es beide – und in Kombination mit Hooky und mir, den beiden Salfordern, ergab das eine gute Kombination. Steve war jedenfalls ein großartiger Schlagzeuger. Er wohnte in Macclesfield nicht weit entfernt von Ian und hatte sein eigenes Schlagzeug und ein Auto. Außerdem war ein sympathischer Zeitgenosse. Perfekt. Er war – und ist nach wie vor – ein bisschen ein Kauz, aber auf eine echt gute Art. Ian Curtis, Steve Morris, Peter Hook und ich. Das Puzzle war nun vollständig.

 

Somit waren auch Terrys Tage als Bandmitglied gezählt, was bedeutete, dass wir eine neue Aufgabe für ihn finden mussten, weshalb wir ihn zu unserem Manager machten. Die Resultate, die diese Entscheidung mit sich brachte, kann man durchaus als „durchwachsen“ bezeichnen. Höflich ausgedrückt. Irgendwann in diesem Sommer 1977, zum Beispiel, nahmen wir ein paar Demos auf und Ian fragte Terry, ob er nicht ein paar Kopien anfertigen und diese an Plattenfirmen verschicken könne. Eine Frage von Tagen. Jedoch wurden aus Tagen schließlich Wochen – und wir wunderten uns bereits, warum wir noch keine Antwort erhalten hatten. Ian schäumte förmlich: „Diese Songs waren in Ordnung, was geht da vor sich?“ Ich nahm Terry beiseite und fragte ihn, ob der denn die Tapes tatsächlich verschickt habe. Er bejahte dies und zog ein Exemplar aus seiner Tasche. Er legte es ein und die Qualität war beschissen. Es pfiff, kratzte und klickte von der ersten Sekunde an. Dann, nach wenigen Augenblicken setzte die Titelmelodie von Coronation Street ein. Aber das war nicht alles. Als Nächstes hörte man die Stimme von Terrys Mum, die sagte: „Terry, komm und trink deinen Tee, bevor er kalt wird.“ Ich sah ihn an. „Terry“, sagte ich, „wie hast du diese Kopien gemacht?“

„Nun“, antwortete er, „ich habe zwei Kassettenrekorder nebeneinander gestellt, damit ich das Zeug mit einem Mikro überspielen konnte. Ich dachte mir, dass ich so ein wenig Geld sparen würde.“

Und diese Tapes verschickte er dann an ein paar der größten Plattenfirmen des Landes. Nun, er war nicht gerade Brian Epstein. Wir schrieben mittlerweile so viele Songs, dass jene Songs, die sich auf dem Demo befanden, wahrscheinlich gar nicht mehr repräsentativ gewesen wären, als Terry seine eigentümlichen Mitschnitte davon versandte.

Die Songs von Joy Division waren immer eine Gemeinschaftsarbeit gewesen. Ich dachte mir Parts für Gitarre und Keyboard aus, Hooky schrieb seine Basslines und Steve überlegte sich etwas für sein Schlagzeug. Obwohl Ian keine rein musikalischen Beiträge lieferte, hatte er doch ein unglaubliches Gehör: Er war brillant darin, ein tolles Riff oder eine passende Melodie für einen Song zu erkennen, was hieß, dass auch er Input gab. Üblicherweise war ich für das vorläufige Arrangement eines Songs verantwortlich. Ich sagte etwa: „Das ist ein guter Teil für den Refrain“ oder „Dieser Teil eignet sich gut für die Strophe“. Dann stand zumindest einmal das Gerüst für eine Nummer, die wir dann auf dem schlechtesten Kassettenrekorder der Welt mithilfe des schlechtesten Mikrophons der Welt aufnahmen. Als Nächstes zog sich Ian dann mit dem Tape zurück, um die Lyrics zu schreiben. Ian war ein wunderbarer Texter. Er liebte Worte und hatte ein natürliches Gespür für sie. Seine Vorliebe galt dem Schreiben und er hatte eine Ablagebox mit Zeug, das er verfasst hatte. Dabei handelte es sich um ein Wirrwarr aus Zetteln, auf die er Ideen und Phrasen gekritzelt hatte, die er dann zu einem späteren Zeitpunkt hervorkramte. Aber auch fertige, ausgefeilte Sachen befanden sich darunter. In der Regel hatte er eine Flasche neben sich stehen, wenn er schrieb – ihm schmeckte Carlsberg Special Brew, was ein ganz elendiges Gebräu war, wie Hustensaft mit Kohlensäure. Er suchte sich für unsere Songs entweder Zeilen aus, die er schon irgendwo niedergeschrieben hatte, oder schrieb ein paar neue. Das ging alles sehr schnell, weil Ian dabei in seinem Element war. Wenn ich an einem Songtext arbeite, ist das eine sehr koordinierte Arbeit, da es mir nicht sonderlich leicht fällt. Ich muss mich förmlich dazu zwingen, die passenden Worte und Phrasen zu finden und sie mit der Musik in Einklang bringen. Ian war hingegen ein richtiger Vulkan in Bezug auf Worte. Sie schossen geradezu aus ihm heraus. Er schrieb auch, wenn wir keinen Song hatten, an dem wir gerade bastelten, und wenn Ian nicht in einer Band gewesen wäre, hätte er trotzdem gedichtet, ganz egal was. Freilich ignorierten wir das, worüber er schrieb, schließlich klang es so verdammt persönlich.

Vielleicht ist euch aufgefallen, dass Ian auf ein paar Tracks Gitarre spielt, etwa bei „Love Will Tear Us Apart“, aber auch bei „Heart and Soul“. Wir ließen ihn nämlich in die Saiten greifen, weil wir uns davon erhofften, dass er sich mehr beteiligte. Also spielte er gar nicht einmal freiwillig. Seine Gitarre war eine Vox Phantom, ein wunderlich geformtes Ding, das seinen ganz eigenen Sound sowie etliche Druckknöpfe hatte, von denen er aber nicht einmal ansatzweise wusste, wozu sie gedacht waren. Er hatte sie sich gekauft, weil er cool fand, wie sie aussah. Auf ein paar der Regler waren sogar die Beschriftungen falsch buchstabiert. Sie sah verrückt aus, diese Gitarre, was der Hauptgrund war, warum sie Ian so zusagte. Später verwendete ich seine Gitarre, als wir mit New Order „Everything’s Gone Green“ aufnahmen, weil sie diesen speziellen, dünnen Sound hatte, den man nirgendwo sonst finden konnte.

Sein Gitarrenspiel war ziemlich rudimentär. Auf „Heart and Soul“ etwa schlug er unentwegt einen D-Moll-Akkord an. Er war ein Gitarrist wider Willen. Man muss ihm aber zugutehalten, dass er es probierte. Seine wahre Stärke, sein Gabe, lag jedoch im Umgang mit Worten.

Ian las sehr viel. Zum Beispiel über Philosophie. Auch William Burroughs mochte er sehr und Junkie war eines seiner Lieblingsbücher. Aber wir unterhielten uns nie wirklich über Bücher. Allerdings auch nie über Musik, keiner von uns. Wir dachten, je mehr man darüber sprach, desto schlechter würde die Musik, die wir komponierten. Manchmal legten wir bei den Proben eine Schallplatte auf und schwärmten über Iggys oder Bowies oder irgendjemandes neue Scheibe und schlugen vor, doch etwas in der Richtung zu schreiben. Allerdings wurde das dann nie so wie das, was wir da gehört hatten. Im Allgemeinen vermieden wir es, uns über Musik und Bands zu unterhalten, was vielleicht dazu beitrug, dass wir so einen einzigartigen Sound entwickelten.

Wir spielten auch nie andere Songs als unsere eigenen. Als Rob Gretton unser Manager wurde, verbat er uns de facto, Coverversionen zu spielen, allerdings war das ohnehin nie unser Ding gewesen. Warum sollte man die Zeit aufwenden, den Song jemandes anderen zu spielen, wenn man stattdessen einen eigenen fabrizieren konnte? Wir versuchten uns einmal an „7 And 7 Is“ von Love, aber wir kamen vielleicht ganze acht Takte weit, bevor wir das Handtuch warfen. Ich denke, dass wir beim ersten Hindernis, das sich vor uns auftat, mit den Schultern zuckten und uns lieber wieder unserem eigenen Material widmeten.

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