Lauritz’ Hund und andere Weihnachtsgeschichten

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Hier wird meine Erinnerung etwas verschwommen. Irgendwie war es uns dann gelungen, die Gans mit vereinten Anstrengungen in den Garten zu jagen. Ich baute noch am selben Tage zunächst einen provisorischen und später einen richtig schönen Zwinger, oder wie auch immer man einen Gänsestall nennt, für unser Danaergeschenk. Unser feindlich gesinnter Nachbar schaute mir dabei, fröhlich seine Pfeife rauchend, über den Zaun blickend, zu. Seitdem werfe ich jedes Jahr zu Silvester Knallfrösche in seinen Garten, was meine Frau kindisch findet und nur von indirekter Wirkung ist, weil die Nachbarn nach Weihnachten immer für vierzehn Tage verreisen, also Silvester gar nicht da sind. Ein positiver Effekt dieser Affäre besteht darin, dass sie uns jetzt nicht mehr bitten, in dieser Zeit auf ihr Haus aufzupassen. Feige sind sie auch noch.

Das alles ist, wie gesagt, über drei Jahre her und seitdem heißt der Weihnachtsbraten Adelheid und ist aus unserer Familie nicht mehr wegzudenken. Gänsebraten ist natürlich auch passé, es gibt Schweinefilets nach einem alten Familienrezept meiner Frau. Bis einer auf die drollige Idee kommen wird, uns zum Neuen Jahr ein kleines, niedliches Glücksferkelchen zu schenken. Dann wird es bei uns vegetarisch zugehen, da bin ich mir sicher. Meine Frau hat in letzter Zeit, je näher das Weihnachtsfest bevorstand, so seltsame Bemerkungen wie „Ich brauche nicht jeden Tag Fleisch zu essen“ gemacht. Also: Als ob jeden Tag Weihnachtsgänseessen angesagt wäre. Außerdem essen wir ohnehin nicht jeden Tag Fleisch. Aber: Broccoli und Möhren mag ich nicht. Da kenne ich auch keine Kompromisse. Über meinen schüchtern vorgetragenen Vorschlag, auf Ente auszuweichen, wurde nicht einmal diskutiert.

Auch unser Hund hat sich nach längerer Gewöhnungszeit und mit sehr kostenintensiver Unterstützung eines Tierpsychiaters an Adelheid angepasst. Dieselbe hat in den Jahren ihr Gewicht fast verdoppelt und meine Frau, die immer so originelle Ideen hat, meinte vor ein paar Tagen, was ich davon hielte, für unseren Hund ein kleines Sulky zu bauen, damit dieser mit Adelheid spazieren fahren könne. Weil der Guten das Gehen doch so schwerfalle. Und das sähe bestimmt sehr lustig aus und käme vielleicht sogar ins Fernsehen.

Nun bin ich ausgesprochen konfliktscheu, aber alles hat seine Grenzen. Auch ich kann sehr energisch werden, ich meine so richtig entschlossen, also nicht nur frech irgendwo rausgucken. Das dürfen Sie mir ruhig glauben. Da hat sich schon mancher gewundert, das kann ich Ihnen versichern. Und das Thema Sulky für dieses fette, faule, watschelnde und klecksende Weihnachtsdiner ist ein für alle Mal vom Tisch.

Na ja, irgendwie habe ich Adelheid natürlich auch in mein Herz geschlossen. So habe ich im vorigen Jahr zu Weihnachten ihren langen Hals mit einer dunkelgrünen Schleife schmücken wollen. Ich habe dabei zwar einige Verletzungen davongetragen, aber es ist mir gelungen, dieselbe anzubringen. Dass das undankbare Tier bei dem Versuch, die Schleife aufzufressen, fast erstickt wäre und wir es mit Blaulicht zum Tierarzt bringen mussten, ändert nichts an der Tatsache, dass mir Adelheid lieb und wert geworden ist. Weitergehende Unterstellungen der Familie hinsichtlich meiner Motive, die mich angeblich zum Anbringen der Schleife veranlasst hätten, weise ich empört von mir. Als es darauf ankam, konnte ich es einfach nicht fertigbringen, den Knoten ein wenig fester zu ziehen.

Ich erwähnte zu Beginn meiner Geschichte, dass unserem Weihnachtsfest etwas Bleibendes anhaftet. Jetzt wissen Sie, was ich meine: Neben allen zu pflegenden Traditionen gehören jetzt auch Adelheid – kein Mensch kann mir verbindlich sagen, wie alt eine Gans wird – und ein schlechter und immer schlechter werdendes Gewissen, das wir selbst beim Verzehren der Schweinefilets verspüren, zum Bleibenden.

Ich wünsche allen, die dies gelesen oder gehört und mit mir gelitten haben, ein frohes und friedliches Weihnachtsfest. Lassen Sie sich keine Gänse schenken und lieben Sie Ihre Nächsten. Auch wenn es nur die Nachbarn sind. Und jetzt wollen wir gemeinsam singen: „Alle Jahre wieder …“

LAURITZ’ HUND

Eine Weihnachtsgeschichte

Ich möchte eine Geschichte erzählen, eine wahre Geschichte, eine weihnachtliche Geschichte, so wie ich sie erlebt habe. Es war mal wieder die Zeit gekommen, wo sich die Leute „schöne Feiertage“ wünschten. Sicherlich war hiervon nicht die ganze Menschheit betroffen, obwohl dieses Fest der Freude sich längst über das Christentum hinaus ausgebreitet hatte. Es war die Zeit der mit treuem Augenaufschlag vorgetragenen guten Wünsche, an welche die meisten Menschen aber wahrscheinlich nicht viele Gedanken verschwendeten, sei es aus Gleichgültigkeit, sei es, weil sie ohnehin nicht an ihre Erfüllung glaubten.

Was nun die frohen Festtage anbelangte, die jeder jedem nachrief, war dies auch die Zeit der großen Annäherungen: Die Reichen gaben etwas von ihrem Reichtum an die Armen ab, die guten Menschen etwas von ihrer Güte an die schlechten und die Richter – … erudimini qui judicatis terram1 – fällten ein milderes Urteil, „weil Weihnachten ist“.

Hiergegen ist sicherlich nichts einzuwenden und wenn ein armer Sünder etwas milder abgeurteilt wird, so dürfte dies genau den Vorstellungen eines kleinen Schreihalses entsprechen, dessen Geburt wahrscheinlich mit dem Ausbruch einer Supernova zusammenfiel, der sich aber bei seinem Eintritt ins Leben, welches Ereignis wir jedes Jahr kräftig feiern, darüber wahrscheinlich noch keine Gedanken gemacht hatte. Was den Stern von Bethlehem anbelangt, geht eine andere Theorie von einer Annäherung Jupiters an den Saturn, im Sternbild Fische, aus.

Wenn man der Legende glauben darf, wird damals allerdings der glückliche Vater ziemlich verwirrt darüber nachgegrübelt haben, wie denn dies freudige Ereignis in seine Wiege gekommen ist. Allerdings dürfte die Zeit auch dieses Mirakel bald eingeholt haben: Parthenogenese als pharmazeutischer Verkaufsschlager, die Gentechnik macht’s möglich. Jungfräuliche Mütter aller Länder, vereinigt euch.

Nun müssen Sie nicht denken, dass ich etwas gegen Festtage, Geschenke oder gar gute Wünsche hätte. Nicht einmal gegen Jungfrauen habe ich was. Ich habe auch nichts gegen die Leute im Allgemeinen, sind doch ihre besinnlichen Gedanken und Wünsche meistens ehrlich gemeint, zumindest in dem Augenblick, in welchem sie ausgesprochen wurden. Und sicherlich verdienen auch viele Geschenke diesen Namen. Also, mit den Leuten komme ich klar. Mit den Menschen im Allgemeinen habe ich da schon mehr Schwierigkeiten.

Vor allem habe ich mit den „-heiten“ so meine Probleme. Sie haben mich richtig verstanden, „-heiten“, nicht etwa „Heiden“, denn die können nichts dafür, für was auch immer. Aber die Menschheit und die Christenheit, die können schon was dafür, und es fällt mir auch gar nicht schwer zu sagen, wofür. Wie heißt es in einem Gedicht von Erich Kästner: „Die Menschheit wurde nicht gescheit, am wenigsten die Christenheit, trotz allem Händefalten …“ Also, beim Stern von Bethlehem, kein Jesuskind und kein Mensch gewordener Gottessohn, der sich als Erwachsener für seine Überzeugung ans Kreuz nageln ließ, haben verdient, was die „-heiten“, die seitdem die Erde bevölkerten, aus sich und dieser Erde gemacht haben.

Um es noch einmal klarzustellen: Ich bin kein Misanthrop, der die üblichen Vorbehalte gegen Weihnachten oder andere hohe Festtage im Herzen trägt. Und auch sonst nirgendwo. Ganz im Gegenteil, obwohl ich bekennen muss, dass mich solche Anlässe immer ein wenig traurig stimmen. Und dann fühle ich mich allein gelassen, auch von dem kleinen Jesuskind, obwohl dies später alles getan hat, was möglich war, und sogar noch erheblich mehr. Aber allein gelassen hat es mich trotzdem und wenn ich in einer sternklaren Winterweihnachtsnacht in den Himmel blicke, erfahre ich von dort oben auch keine Antworten, es strömen nur immer neue Fragen auf mich ein. Kein neuer Stern geht auf, nicht einmal eine Sternschnuppe lässt sich blicken.

Aber dies wollte ich Ihnen eigentlich gar nicht erzählen. Es geht in meiner Geschichte um ganz alltägliche, ja banale Dinge. Meine Frau hatte nämlich einen Einfall, weshalb ich das Wort ‚banal‘ zurücknehme. Schließlich ist Weihnachten ja ein Fest des Friedens. Es ging also darum, dass meine Frau eine Idee hatte und meinte, unser bescheidenes Heim sollte auch nach außen hin eine weihnachtliche Stimmung ausstrahlen. Und sie möchte deshalb die Konifere, die neben unserer Haustür steht, im Lichterglanz erstrahlen lassen. Und ihre beste Freundin Gisela sei der gleichen Meinung. Was aus meiner Sicht dem Ansinnen einen endgültigen Charakter verlieh. Es gebe da heutzutage ganz tolle Sachen, ich würde schon das richtige aussuchen. So weit meine Frau.

Nun ist gegen ein solches Vorhaben im Prinzip nichts einzuwenden, der Zeitpunkt schien mir allerdings nicht sehr glücklich gewählt, denn wir schrieben den 24. Dezember, neun Uhr morgens. Die Familie saß zwieträchtig vereint am Frühstückstisch, ich trank gerade einen Schluck Kaffee und war mit mir und der Welt so richtig zufrieden. Als ich mich von dem Hustenanfall erholt hatte, wagte ich den zarten Einwand, dass sich besagter Baum wegen seiner Größe – er war immerhin fast vier Meter hoch – als problematisch erweisen könnte, zumal wir nur über eine handelsübliche Küchenleiter verfügten. Dieses Argument ließ meine Frau mit dem Hinweis, die Kinder könnten mir ja helfen, nicht gelten. Ich weiß nicht, was sie sich genau unter dieser Hilfe vorgestellt hatte, vielleicht, dass wir eine Pyramide machten? Jedenfalls blickten sich beide Jungen erschrocken an.

Auch die Tatsache, dass draußen kein Stromanschluss vorhanden war, konnte sie nicht umstimmen. Man könne den Strom ja von der Lampe über der Garage abzapfen, das müsse ich ja wohl können. Inzwischen hatten die Kinder klammheimlich den Frühstückstisch verlassen und auch unser Hund, Tiere höherer Ordnung haben ja bekanntlich einen gut ausgeprägten Instinkt, was Stimmungen angeht, trottete mit eingezogenem Schwanz aus dem Zimmer.

 

„Es ist aber schon ziemlich spät und die Stadt bestimmt fürchterlich voll“, hörte ich mich sagen.

Diese lapidare Feststellung drang offensichtlich nicht bis an die Ohren meiner Gattin. Nur meine Schwiegermutter, die eine Art passive Neutralität demonstrierte, blickte mich mitleidig an. Als ich mich schließlich erhob, weil denn nun kein Beistand mehr zu erwarten war, meinte meine Frau, wenn ich schon einmal in der Stadt sei, solle ich noch etwas Lametta und ein Dutzend Eier mitbringen. Und dann könne ich noch bei der Reinigung vorbeischauen, sie sei gestern nicht mehr dazu gekommen, und schließlich wolle sie das Kleid heute Abend anziehen. „Extra für dich, es ist dein Lieblingskleid“, rief sie mir beim Hinausgehen nach.

Ob das nicht wenigstens die Kinder erledigen könnten, wagte ich zu fragen. Also, das hätte ich besser nicht getan. Schließlich seien es noch Kinder, wurde mir beschieden, und sie würden sich so auf das Weihnachtsfest freuen. Die Erklärung, was das eine mit dem anderen zu tun habe, blieb mir meine Frau schuldig. Ich dachte, wenn sie schon bereit war, unseren Nachwuchs zum Lichterkettenanbringen abzukommandieren, könnten die Jungs vielleicht stattdessen … Außerdem müssten sie noch üben, unterbrach Frau Gattin meinen Gedankengang, weil sie die Familie mit einigen Weihnachtsliedern erfreuen wollten, die sie gemeinsam auf ihren Blockflöten zu spielen gedächten. Das war mir neu, zumal diesbezügliche Versuche in der Vergangenheit regelmäßig fehlgeschlagen waren. Meine Frau hatte diese Schnapsidee zwar vor einiger Zeit noch mal unverbindlich vorgetragen, aber weder die Kinder noch ich waren in seltener Einmütigkeit darauf eingegangen, und ich dachte – obwohl ich es besser hätte wissen müssen – damit sei das Thema erledigt.

Jetzt sah ich allerdings das bevorstehende Fest ernsthaft gefährdet und wünschte – das Christkind möge mir verzeihen – Erfinder und Hersteller dieses albernen Instrumentes in die tiefste Hölle. Dorthin, wo es am heißesten ist. Obwohl dies ein törichter und sehr unchristlicher Weihnachtswunsch war, konnte ich mich doch bei dem Gedanken, wie diese Holzblasinstrumentenerfinder in einem großen Kessel vor sich hinköchelten, erwärmen. Und so machte ich mich schließlich, durch warme Gedanken zusätzlich gegen die Kälte geschützt, auf den Weg.

Auf der Straße traf ich unseren Nachbarn. „Na, in letzter Minute ein paar Einkäufe machen?“, fragte er mich hämisch. Eine echte Frohnatur. Ich wünschte ihm schöne Weihnachten und ging, ohne wegen dieser Heuchelei ein schlechtes Gewissen zu haben, in die festlich geschmückte Stadt.

So ein christlich geprägtes Stadtbild, kurz vor der Niederkunft des Heilsbringers, ist schon etwas ganz Besonderes. Eigentlich sollte kein normaler Mensch – von einigen bedauerlichen Ausnahmen abgesehen – zu dieser Zeit hier herumrennen. Aber es schien, als hätten sich alle verschworen, Haus oder Wohnung zu verlassen, um in der Stadt umherzuirren und Straßen und Läden zu bevölkern. Die Menschen gingen, als hätten sie Scheuklappen vor den Augen, und waren auf eine seltsame Weise orientierungslos. Sie sahen einander nicht, rempelten sich an und hasteten grußlos und päckchenbepackt weiter. Also, ein Gott für die Armen war das Kindlein in der kargen Krippe sicherlich nicht mehr. Oder nicht nur oder für wen sonst?

Ich war allerdings nicht freiwillig in dieses Chaos geraten und hatte schon gar nicht die Absicht, psychologische Studien zu betreiben, was immerhin nicht leichtfiel. Das Lametta hatte ich inzwischen bei einem frierenden Straßenhändler erworben und nach zwei vergeblichen Versuchen beschloss ich, die Eier zu vergessen. Schließlich war nicht Ostern. Jetzt galt es also, gezielt die Lichterketten anzugehen.

Gleich im ersten Geschäft fragte mich ein total gestresster Verkäufer: „Wissen Sie eigentlich, was Sie da verlangen?“ Ich war da ganz auf seiner Seite, konnte ihm dies aber nicht mitteilen, weil er zu schnell im Menschengewühl verschwunden war.

Drei Geschäfte und eine Stunde später beschloss ich, noch einen letzten Versuch zu wagen. Hier tat sich immerhin ein Hoffnungsschimmer auf, als ein offensichtlich noch gut intakter Bediensteter eines Elektrogroßhandels, nachdem er meinen Wunsch vernommen hatte, mit den Worten „Bin gleich zurück“ an mir vorbeiwieselte. Nach gut zehn Minuten kam er mit zwei großen Kartons wieder und meinte fröhlich: „Hier haben wir’s schon. Die Tanne ist vier Meter hoch, sagten Sie? Dann brauchen wir, lassen Sie mich mal nachdenken, fünfzig Meter“, sprach er und begann aus den Kartons mit Glühbirnchen versehene Plastikketten hervorzuwühlen.

Jetzt war ich erstmals wirklich erschrocken. Was sollte ich mit fünfzig Metern Plastikschnüren? Das konnte selbst meine Frau nicht von mir verlangen. Nun galt es zu retten, was noch zu retten war. „Das erscheint mir aber sehr viel“, warf ich ein, „ich werde ohnehin nicht bis ganz oben kommen. Vielleicht gehen Sie mal von einer drei Meter hohen Tanne aus. Und eigentlich ist es überhaupt keine Tanne.“ Mir erschien die ganze Idee immer wahnwitziger. „Meine Frau sagt immer, es sei eine Konifere. Vielleicht eignen sich Koniferen gar nicht dazu, sie zu illuminieren?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Der Verkäufer ließ sich nicht ablenken. „Nehmen Sie lieber ein paar Meter mehr“, meinte er, „hinterher ärgern Sie sich“, und fuhr fort, Meter für Meter abzumessen.

Ich sah es ein: Er war mir über, meine Frau war mir über und das Kindlein in der Krippe hielt sich aus allem heraus. Wie meine Schwiegermutter, denn diese war, im Gegensatz zu meiner Frau, eher konfliktscheu. Und so fand ich mich eine schlappe halbe Stunde später, kurz vor Ladenschluss, zwei große Pakete balancierend, von weihnachtlich eingestimmten Menschen umspült, auf der Straße wieder.

Zugegeben, die Pakete waren nicht schwer, aber sie waren sehr sperrig und ich war zu einem echten Verkehrshindernis geworden. Ich möchte die Einzelheiten meines demütigenden Rückweges zum Auto nicht erzählen, doch ich war froh, dass keines meiner Kinder bei mir war. Ihr Wortschatz wäre auf eine höchst unliebsame Weise bereichert worden. Obwohl, was ich manchmal, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, zu hören bekomme …

Apropos Kinder, als endlich mein Wagen in Sichtweite war, hörte ich eine zarte Stimme: „Bitte Onkel, hast du meinen Hund gesehen?“

Nun kann ich Kinder, die fremde Erwachsene mit ‚Onkel‘ anreden, nicht ausstehen und beschloss schon, einfach weiterzugehen, als wieder dieses „bitte Onkel“ an mein Ohr drang. Ich blickte nach unten und da sah ich ihn stehen: einen kleinen Jungen, vielleicht sechs Jahre alt, in einem schmutzigen braunen Mäntelchen, mit den obligatorischen Jeans und – wie sollte es anders sein – einer Baseballmütze auf dem Kopf. Wenigstens hatte er sie richtig rum auf. Es war ein hübsches Kind, die blonden Haare standen nach allen Seiten unter der Mütze ab, die klaren blauen Augen, jetzt allerdings gerötet, blickten mich erwartungsvoll an. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Was sagt man in einem solchen Moment?

Ich versuchte es mit „Wo sind denn deine Eltern?“, eigentlich nur, um etwas zu sagen. Als ob es nicht schon spät genug wäre.

„Zu Hause“, sagte der Junge, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich heiße Lauritz“, fügte er noch hinzu. Damit schien alles gesagt.

Mir wurde unbehaglich. „Wo wohnst du denn?“, fragte ich, mich nach Hilfe umsehend. Er streckte die Arme aus und wies in eine Richtung hinter meinem Rücken. So kamen wir nicht weiter. „Wie heißt du denn mit Nachnamen?“, wollte ich wissen.

„Davidson“, sagte er und schaute zu mir auf.

„Also, Lauritz Davidson, was ist nun mit deinem Hund?“

„Er ist mir weggelaufen und jetzt habe ich solche Angst. Er ist doch noch so klein und er muss dauernd Pipi machen.“

Das war genau das, was ich mir noch zu Weihnachten gewünscht hatte. Das ultimative Weihnachtsgeschenk: ein kleiner verheulter Junge, der seinen entlaufenen Hund suchte, der offensichtlich eine Blasenschwäche hatte.

„Ich habe es aber ganz schrecklich eilig, denn ich muss noch Lichter an einem vier Meter hohen Baum anbringen“, sagte ich vage.

Der Knabe erwiderte nichts und blickte mich fragend an. „Aber ohne meinen Hund kann ich nicht nach Hause gehen“, sagte er, „das ist doch mein Weihnachtsgeschenk. Ich habe ihn aus dem Keller geholt, wo er versteckt war, weil er so entsetzlich jaulte und mir so leidtat, und eigentlich darf ich das doch gar nicht wissen.“

„Was darfst du nicht wissen?“, fragte ich.

„Dass ich einen Hund zu Weihnachten bekomme. Ich hatte ihn mir so sehr gewünscht und es sollte doch eine Überraschung sein. Deshalb durfte ich ja auch nicht mehr in den Keller gehen und …“ Er stockte und fing an zu weinen.

„Und was?“, wollte ich wissen.

„Wenn ich jetzt nach Hause komme und der Hund ist nicht da, ist das ganze Weihnachtsfest verdorben und alle sind furchtbar traurig und ich bekomme arge Schelte.“

Das entbehrte nicht einer gewissen Logik. Dabei hatte der Tag so schön begonnen: Erträgliches Winterwetter, ein Hauch von Raureif erfreute das Auge. Was dem festlichen Anlass eigentlich entsprach, wenn man bedenkt, dass das Kindlein in der Krippe zwar einem Wüstenklima ausgesetzt war, es aber, als es auf die Welt kam, den Zeitpunkt für seine Ankunft nicht eben glücklich gewählt hatte, denn um diese Jahreszeit war es dort sicherlich auch sehr ungemütlich.

Aber ich möchte jetzt nicht sophistisch werden. Ich hatte offensichtlich ein Problem und dieses war heraufbeschworen worden, als ich guter Dinge und sogar voll guter Vorsätze arglos am Frühstückstisch saß und meine Frau, die Gute, ohne jede Vorwarnung mit dem putzigen Einfall herüberkam, das Outfit unseres Hauses weihnachtlich aufzupolieren. Dabei konnte man von dem ganzen Lichterspektakel sowieso nichts sehen, wenn man im Haus war. Und bisher hatten wir uns auch daselbst immer sehr wohlgefühlt und bis auf das eine Mal, als sich meine verstorbene Tante Elfriede mit meinem Schwiegervater angelegt hatte, haben wir auch immer sehr schöne Weihnachtsfeste gefeiert.

Und jetzt stand ich da, umschwirrt von nervös hastenden Mitmenschen, und hatte einen kleine Jungen am Hals – das war mir inzwischen klar geworden –, der vor dem Fest, welches eigentlich für alle Kinder das schönste des Jahres sein sollte, eine panische Angst hatte, und sollte einen Hund wiederbeschaffen, der klein war und eine nervöse Blase hatte.

„Was ist denn das überhaupt für ein Hund?“, fragte ich. „Ich meine, was für eine Rasse ist das?“

„Das weiß ich nicht“, kam prompt die Antwort, „aber er ist schwarz und hat vorne auf der Brust einen weißen Fleck.“

Das brachte mich natürlich nicht weiter, aber es war klar, dass ich irgendeine Entscheidung treffen musste. „Pass mal auf“, sagte ich, „wir können deinen Hund jetzt nicht suchen. Es geht einfach nicht, weil wir gar nicht wissen, wo er sein könnte.“

Lauritz fing wieder an zu weinen.

„Es ist ihm bestimmt nichts passiert“, sagte ich, „er ist wahrscheinlich von netten Leuten gefunden worden und die geben ihn dann im Fundbüro ab. Dort kannst du ihn dann wieder abholen. Ich gehe jetzt mit dir nach Hause und spreche mit deinen Eltern. Du wirst schon sehen, es wird alles halb so schlimm. Schließlich ist ja Weihnachten.“

„Und wenn ihm was passiert ist?“, fragte Lauritz. „Er ist doch noch so klein.“

Natürlich, es war ein kleiner Hund, der da weggelaufen war. Wahrscheinlich fror er erbärmlich, hatte Angst und war hundekreuzunglücklich.

„Ihm wird schon nichts geschehen“, erwiderte ich. „Sieh mal, nicht nur die Menschen, auch die Tiere haben einen Schutzengel. Und auf kleine Hunde passen sie besonders gut auf.“

Ein Kinderblick, direkt in mein Herz. Skeptisch, ein wenig hoffnungsvoll, glauben wollend. Ich gebe zu, ich war nicht sonderlich originell, aber was hätten Sie denn an meiner Stelle gesagt? Und vierzig Meter Lichterkette musste ich auch noch anbringen.

„Ich verspreche dir, dass dein Hund gefunden und ihm nichts geschehen wird“, hörte ich mich sagen. Ich will den Stern von Bethlehem nicht noch einmal strapazieren, aber was hatte ich da in meiner Verzweiflung wieder von mir gegeben? Ich musste dem ein Ende machen. Inzwischen hatte es begonnen Schnee zu säuseln, Stadt und Menschen wurden gezuckert wie ein Weihnachtsstollen, man konnte den Weg der tanzenden Flocken bis zum Boden verfolgen. „Komm, wir gehen jetzt zu dir nach Hause“, sagte ich energisch.

 

Und so geschah es. Nachdem ich die Pakete mühsam im Wagen verstaut hatte, die Parkzeit war selbstverständlich abgelaufen und eine freundliche Politesse hatte einen Weihnachtsgruß unter meinen Scheibenwischer gesteckt, gingen wir, Händchen in Hand, zu Lauritz Davidsons Eltern.

Davidson, Davids Sohn, der Sohn von David. Welch ein symbolträchtiger Name. Und plötzlich fielen alle Sorgen von mir ab, aller Frust und alle Hektik. Es war keine Eile mehr geboten, nicht einmal die hastenden und rempelnden Christen störten mich mehr. Und es war auch nicht irgendein unglückliches und verängstigtes Kind, welches da mit mir durch die Menschen wanderte, es war mein Kind, es war unser aller Kind. Es war das Kind, zu welchem der Stern die Heiligen Drei Könige geführt hatte, denn es war unglücklich, verzweifelt und traurig. Es war das Kind, weswegen ein anderes auf die Welt gekommen war, um unsere Herzen und Augen zu öffnen.

Auf einmal riss Lauritz sich los und lief laut „Mami, Mami“ rufend nach vorne. Eine zierliche Frau, nicht mehr ganz jung, stand auf dem Bürgersteig und der kleine Junge versank schluchzend in den ausgebreiteten, schützenden, mütterlichen Armen.

„Junge, wo bist du denn wieder gewesen?“, fragte die Frau. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Sie drehte sich um und wollte mit dem Jungen ins Haus gehen, als Lauritz leise etwas zu ihr sagte. Sie hielt an und sah sich nach mir um. Ich war ebenfalls stehen geblieben, gerührt von der Szene, erleichtert und irgendwie zu plötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt. Die Frau kam auf mich zu. „Ich möchte Ihnen herzlich danken, dass Sie mir Lauritz zurückgebracht haben“, sagte sie.

Lauritz war inzwischen ins Haus gegangen.

„Es ist nicht schön, wenn man sein Kind am Weihnachtsmorgen allein lassen muss. Aber ich musste arbeiten. Lauritz’ Vater ist vor zwei Jahren gestorben und ich bin froh, dass ich überhaupt eine Arbeit gefunden habe. Wissen Sie, das ist heutzutage sehr schwer.“

„Er erzählte mir, sein kleiner Hund sei ihm weggelaufen“, sagte ich. „Er war sehr ängstlich und unglücklich.“

Die Frau lächelte traurig. „Das ist eine Geschichte, die er sich ausgedacht hat. So eine Art Rollenspiel. Sehen Sie, wir können uns gar keinen Hund leisten und wir können ihn auch nicht halten, denn Lauritz geht ja zur Schule und ich bin den ganzen Tag über nicht da. Wir haben niemanden, der auf das Tier aufpassen könnte. Lauritz läuft immer wieder weg und sucht einen Hund, den es gar nicht gibt. Ich mache mir dann natürlich große Sorgen, aber ich kann ihm nicht böse sein. Er kommt ja immer wieder zurück und es ist ihm nie etwas geschehen. Ich glaube, er sucht keinen Hund, er sucht seinen Vater. Er kann es noch nicht begreifen, dass er nicht mehr bei uns ist. Er ist vor zwei Jahren kurz von Weihnachten bei einem Arbeitsunfall gestorben und Lauritz glaubt fest daran, dass er eines Tages zu uns zurückkehrt. Er wollte damals Lauritz zu Weihnachten einen Hund schenken.“

Ich hatte auf einmal einen Kloß im Hals. „Na, dann will ich mal“, krächzte ich und machte Anstalten zu gehen.

„Wollen Sie nicht einen Moment mit reinkommen? Ich konnte Ihnen ja nicht mal richtig danken. Vielleicht darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

Ich wollte nicht unhöflich sein und ging mit. Lauritz war ja schon vorausgegangen.

Es war ein schlimmes Haus und eine ebenso schlimme Wohnung. Kalt, hässlich, ganz und gar unweihnachtlich. Ich weiß nicht, wer auf die unmenschliche Idee kommt, so etwas zu bauen. Hier sollten keine Menschen wohnen. Nicht einmal kleine Hunde, die es gar nicht gab.

„Wir haben keinen Weihnachtsbaum dieses Jahr“, sagte Frau Davidson, „keine Zeit, wissen Sie. Wir machen es uns aber trotzdem schön, nicht wahr, Lauritz?“

Sie lächelte tapfer, ich hielt es nicht mehr aus. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Warum musste ausgerechnet mir dieses Arme-Leute-Weihnachtsklischee so unverhofft um die Ohren geschlagen werden? Ich kam mir vor wie in einem schlechten Kinofilm. Eine Seifenoper mit Laiendarstellern.

„Ich habe leider keine Zeit mehr“, sagte ich, „ich muss gehen, die Familie, wissen Sie?“

„Mein Gott, wie dumm von mir“, sagte die Frau, „natürlich, Sie haben durch Lauritz’ Eskapaden bestimmt viel Zeit verloren. Nochmals herzlichen Dank und frohe Weihnachten.“

Frohe Weihnachten, oh ja, frohe Weihnachten. Da sind ein kleiner Halbwaise, eine unglückliche Mutter, eine unwirtliche, unweihnachtliche Wohnung und ein nur in der Fantasie eines kleinen Jungen vorhandener Hund. Frohe Weihnachten. Zurück zum Wagen und nicht weiter nachgedacht. Frohe Weihnachten. Es gibt Millionen Kinder auf der Welt, die kein Dach über dem Kopf haben, die hungern und frieren. Die es viel schlechter haben. Frohe Weihnachten, Familie Davidson.

Man muss es sich einfach oft genug sagen: Es gibt Millionen Kinder auf der Welt, die es viel schlechter haben. Das Jesuskind zum Beispiel kam damals in einem Stall zur Welt, arm, nackt und wahrscheinlich hat es gefroren. Die Häscher waren ihm schon auf den Fersen. Aber es hatte wenigstens einen Vater, also halbwegs einen Vater. Und dann waren da auch noch die Heiligen Drei Könige und die Hirten und all die schönen Engel des Herrn. Ich habe allerdings nie begriffen, weshalb Gott in seiner Allmacht seinem fleischgewordenen Sohn einen solch trostlosen Einstand in dieser seiner Welt zugemutet hat.

Doch ich will jetzt nicht meckern. Also: Frohe Weihnachten auch dir, du Opferlamm des Lebens. Vielleicht kannst du mich ja hören. Und frohe Weihnachten all den Menschen, für die du auf diese Welt gekommen und für die du schmerzvoll gestorben bist. Das wäre mein Weihnachtswunsch, wenn ich einen frei hätte.

Mittlerweile war ich zu Hause angekommen. Natürlich viel zu spät und in einer total unweihnachtlichen Stimmung. In einer absolut unweihnachtlichen, schauderhaften Miststimmung. Ich balancierte die Kartons vor die Haustür, als mir meine Frau auch schon entgegenkam. „Wo bist du denn so lange gewesen?“, fragte sie. „Und was ist in den riesigen Kisten?“

„In diesen riesigen Kisten, die ich unter Einsatz meines Lebens, zumindest meiner Gesundheit, durch die weihnachtlich verstopfte Innenstadt transportieren musste, ist die Beleuchtung für deine Konifere, die du ja unbedingt haben musstest.“

Meine Frau wollte gerade anheben: „Wenn ich mal einen bescheidenen Wunsch äußere“, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte. „Was ist denn los?“, fragte sie mich.

Also, das muss ich meiner Frau lassen, sie merkt immer gleich, wenn etwas los und nicht in Ordnung ist, auch oder gerade wenn es mir gar nicht recht ist. Bevor sie mit gewohnter Hartnäckigkeit anfing mich auszufragen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte freiwillig.

Es brach quasi aus mir heraus. Warum ich so spät gekommen war, warum ich mich gar nicht so weihnachtlich glücklich fühlte und überhaupt, was das für ein mieser Morgen gewesen war, obgleich die Menschheit im Allgemeinen und ich im Besonderen zumindest heute Besseres verdient gehabt hätten.

Als ich geendet hatte, fühlte ich mich besser. Nicht viel, aber immerhin. Ich konnte das daran merken, dass mich die Hintergrundgeräusche, welche meine Kinder mit ihren Blockflöten erzeugten, nur wenig irritierten.

„Mein armer Schatz“, sagte meine Frau, „ich sehe da keine Probleme. Wir setzen uns jetzt ins Auto, holen die Davidsons zu uns nach Hause und dann feiern wir gemeinsam Weihnachten. Ein Geschenk für Lauritz werden wir ja wohl noch auftreiben können.“

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