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SPITZMAUS, GEDÄCHTNIS, EMOTION UND MOTIVATION

In einem nächsten großen Entwicklungsschritt, vor rund 150 Millionen Jahren (für die Streber unter den Lesern: Trias, Jura, Kreide, die Zeit der tagaktiven Saurier), schafften es kleine, komplex gebaute Organismen, die Nacht als sichere biologische Nische zu nutzen. Die Entwicklung der ersten primitiven Säugetiere (anthropologischen Funden nach optisch vergleichbar mit heute lebenden Spitzmäusen) wurde durch die Entwicklung eines Stoffwechsels ermöglicht, der sie von der Wärme des Sonnenlichts unabhängig machte. Ein begleitendes Phänomen der Säugetierentwicklung war, dass Massenvermehrung aus unterschiedlichen Gründen unmöglich wurde. Zu komplex wurde vor allem der aufwendige Stoffwechsel zur Aufrechterhaltung der Körperkerntemperatur. Die Reproduktionsrate musste deshalb also auf rund zehn bis zwanzig Nachkommen pro Wurf reduziert werden.

Das seit über hundert Millionen Jahren erfolgreich angewandte Verhaltensprogramm des „Froschgehirns“, das bewirkte, dass Weibchen zwei Minuten nach dem Ablaichen alles vergessen hatten, war nun für die ersten Säugetiere kein geeignetes Überlebensprogramm mehr. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass zwanzig Nachkommen nur durch puren Zufall überleben, war gleich null. Wir stammen also nun von jener Spezies ab, die ein völlig neues Verhaltensprogramm entwickeln musste, um dem Spiel mit dem Zufall, nicht gefressen zu werden, zu entkommen.

Den Teil der Hardware und Software, den diese primitiven Säugetiere durch Selektionsprozesse neu entwickelt haben, nennen wir heute vereinfacht „das limbische System“. Es gilt gemeinhin als Sitz unserer Emotionen. Für die ersten Säugetiere, die sich zum Schutz vor Feinden in kleinen Herden organisieren mussten, scheint es ein grundlegender Vorteil gewesen zu sein, die momentanen Befindlichkeiten der anderen einschätzen zu können. Wenn ich nicht rechtzeitig bemerke, dass es gleich Ärger geben könnte, wird das Leben gefährlich Privat wie beruflich, Sie wissen was ich meine. Durch diese Fähigkeit wurde der Aggressionstrieb, der ein enges Zusammenleben unmöglich gemacht hätte, kontrollierbar. Das eigene Verhalten und das anderer – mit den entsprechenden körperlichen Reaktionen – „spüren“ (und damit auch vorhersagen) zu können, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor der sozialen Entwicklung zum Menschen. Wir sollten uns überlegen, welche Verhaltensweisen „programmiert“ werden mussten, damit eine Spitzmausmutter sich so lange fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmert, bis dieser überlebensfähig ist. Um das beantworten zu können, müssen wir die Logik der „Spitzmaus-Programmierung“ verstehen: Es wird emotional!

In der Evolution der Organismen war als Grundvoraussetzung sozialen Verhaltens ein Quantensprung notwendig, damit Beziehungen zwischen Artgenossen möglich wurden: die Entwicklung der Erinnerungsfähigkeit. Ohne Gedächtnis und (das damit verbundene) komplexe Lernen könnten wir uns schlicht nicht merken, wer Freund und wer Feind ist, wer sich für uns eingesetzt und wer uns ausgenützt hat. Nicht mehr der körperlich Stärkste, sondern der starke und sozial Geschickte bekommt langfristig Rang und Privilegien durch die Aufmerksamkeit und den Respekt der anderen.

Diese Grundlogik unserer Festplatte mit dem installierten Datei-Explorer ist eine genauere Betrachtung wert: Alle Informationen, die nicht von den Sinnesorganen als den primären Filtern ausgeblendet werden, werden in dieser Gedächtnisstruktur neu angelegt. Das Spannende am Datei-Explorer des limbischen Systems ist, dass unser Spitzmausgehirn keinen Ordner „neutral“, also emotionslos, anlegen kann, sondern diesen beim Neuanlegen emotional einfärben muss. Bildlich können wir uns das so vorstellen, dass die Farbe Dunkelgrün für hoch emotional positive Erlebnisse und die Farbe Dunkelrot (am anderen Ende der Farbskala) für traumatisch negative Erlebnisse verwendet wird. Dazwischen liegen alle anderen Farbschattierungen, die für weniger stark erlebte emotionale Ereignisse verwendet werden. Aus dieser Logik der emotional bewerteten Erlebnisse folgt konsequenterweise, dass unsere Erinnerungen an bestimmte Ereignisse entscheiden, ob wir uns zukünftig davor fürchten, uns auf etwas freuen können, motiviert oder demotiviert sind. Die Zeit, in der uns etwas völlig egal sein konnte, ist nun vorbei. Die Emotion, die beim Erinnern (also beim Öffnen eines Ordners) entsteht, entspricht demnach der Farbe des Ordners. Wir werden an anderer Stelle noch genauer beleuchten, dass beim Öffnen eines Ordners der Farbton durch die momentane Emotionslage zum Zeitpunkt des Erinnerns verändert wird. Wenn wir traumatische Erlebnisse ausnehmen, sehen wir, dass unsere Erinnerungen sehr variabel sind.

Diese Erinnerungsfähigkeit voraussetzend, können wir nun das Sozialverhalten der ersten Spitzmäuse als die Konsequenz dreier Motive (dreier neuer Systemprogramme) verstehen, die wir auch als Updateversion 1 des Froschgehirns, das dabei weiterhin aktiv bleibt, verstehen könnten:

Bindung

Mit diesem Programm wird unter anderem die Mutter-Kind-Beziehung aktiviert und so langfristig gewährleistet, dass Energie ausschließlich in die direkten Nachkommen und nahestehenden Verwandten investiert wird. Dadurch wird noch etwas Wichtiges möglich: Wir sind seit dieser Zeit in der Lage zu erkennen, wer im Ernstfall auf unserer Seite kämpfen würde, wer also Freund ist und wer Feind. Heute wissen wir, dass wir über Spiegelneuronen im Gehirn nicht nur das Verhalten anderer nachempfinden können, sondern dass sogar körperliche Reaktionen, die mit Angst, Aggression oder Freude in Zusammenhang stehen, kopiert werden. Geht es meinem Freund schlecht, so geht es auch mir körperlich schlecht – als Herdentiere synchronisieren wir unser Verhalten und unsere körperlichen Reaktionen mit Freunden, nicht aber mit Feinden. Seit dieses Programm aktiv ist, entstehen unterschiedlich starke Beziehungen zu Artgenossen. Nach diesem Prinzip wirken auch Wort-Bild-Marken und funktioniert Werbung: über die simple Erwartung meines (Überlebens-)Vorteils in der Zukunft. Enge Bindung und Beziehung kodiert unser Gehirn durch unterschiedlich starke Produktion des Hormons Oxytocin: Beim Anblick eines Freundes produzieren wir mehr, beim Gespräch mit einem ungeliebten Kollegen weniger davon. Seit dieser Zeit sind wir also gewissermaßen sozial abhängig geworden und wollen von jedem lieb gehabt werden. Bei zu geringer Oxytocin-Produktion können wir sogar krank werden.

Sicherheit

Seit Erfindung der „Festplatte“ erinnern wir uns also an Erlebnisse – je emotionaler das Erlebnis, desto stärker die Erinnerung. Inhalte eines roten Ordners im Datei-Explorer, die Erinnerungen an angstbesetzte Ereignisse repräsentieren, sind im Spitzmausgehirn immer präsent und leicht abrufbar. Das scheint auch logisch, denn es geht ums Überleben.

Erinnert sich nun beispielsweise eine Spitzmausmutter an ein gefährliches Erlebnis, bei dem sie an einer Waldlichtung einem Luchs auf Futtersuche gerade noch entkommen ist, wird die gesamte „Szene“, von den Gerüchen bis zum exakten Ort des Geschehens, in ihrem Hirn in einen Ordner verpackt, rot markiert und archiviert. Die Folge ist, dass die Spitzmausmutter zukünftig Angst bekommt und ihren Fluchtreflex aktiviert, wenn Ähnlichkeiten mit dem abgespeicherten Erlebnis auftreten: Kommt sie auch nur in die Nähe dieser Waldlichtung, wird sie ihr Verhalten plötzlich ändern.

Wir stammen von Säugetieren ab, die eine Möglichkeit gefunden haben, diese Information an Kinder und andere Herdenmitglieder weiterzugeben: Das Hochinteressante daran ist, dass, weil ja die Mutter mangels Kommunikationsmöglichkeiten wie Sprache, Mimik und Gestik die Information nicht direkt weitergeben kann, eine Form indirekter Kommunikation entstanden ist: Meidet die Spitzmausmutter regelmäßig, unter Beobachtung aller anderen Spitzmäuse, diese besondere Waldlichtung, nähert sich aber gleichzeitig anderen Waldlichtungen ganz gelassen, so haben alle Beobachter eine Regel „verstanden“. Und ohne genau wissen zu müssen, warum, ahmen zuerst ein paar sehr nahestehende, dann viele und plötzlich alle Herdenmitglieder das Verhalten nach und meiden künftig diese Waldlichtung. „Kommunikation 1.0“ könnten wir diese Form der Informationsweitergabe nennen, bei der nicht der Sender, sondern der innere Zwang zum Empfangen im Vordergrund steht. Seit dieser Zeit können wir nicht anders: Wir beobachten das Verhalten anderer und versuchen, statistisch relevante Verhaltensmuster abzuleiten. Wir versuchen, die für uns komplex und chaotisch erscheinende Welt also durch die Identifizierung von allgemeinen Regeln vorhersehbarer und damit kontrollierbarer zu machen.

Dieser Sicherheitstrieb zwingt uns demnach, zu beobachten, ob bei anderen auffälliges, noch nicht vorhersagbares (und dadurch verunsicherndes) Verhalten zu bemerken ist. Ist das der Fall, steigt sofort unsere Aufmerksamkeit: Wir beobachten noch genauer und versuchen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Ab einer gewissen Regelmäßigkeit des Wiederauftretens eines Ereignisses neigen wir nun dazu, an eine fixe Gesetzmäßigkeit zu glauben. Glauben wir, die Regeln erkannt zu haben, passen wir auch unser eigenes Verhalten entsprechend an. Wir kopieren in der Folge die Verhaltensmuster wichtiger Bezugspersonen. Daher ist beispielsweise Jammern so wunderbar ansteckend, weil wir aufgrund der Logik unseres Sicherheitstriebs dazu neigen, mit anderen „mit-zu-glauben“.

Zusammenhänge müssen dabei zumindest sieben Mal beobachtbar sein, damit wir beginnen, an eine allgemeine Regel zu glauben. „Monte-Carlo-Syndrom“ nennt man dieses Phänomen. Im Casino ist unser inneres Statistik- und Vorhersageprogramm ganz besonders deutlich erkennbar: Wenn wir an einem Roulette-Tisch stehen, an dem sieben Mal hintereinander Schwarz fällt, neigen die meisten von uns zur Überzeugung, dass die Wahrscheinlichkeit für die Farbe Rot beim achten Mal steigen muss. Das ist zwar mathematisch falsch, aber wir glauben daran, weil wir für die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten in kurzen Betrachtungszeiträumen optimiert wurden. Und in diesen Betrachtungszeiträumen ist es extrem unwahrscheinlich, dass sieben Mal und häufiger dieselbe Farbe fällt. Wir erwarten zu fünfzig Prozent eine Farbe, fällt sie mehrfach, steigt bei jedem Mal die gefühlte Wahrscheinlichkeit für die erwartete Gegenfarbe. Unser Gehirn ist eindeutig nicht für den Roulette-Tisch optimiert, egal ob in Monte Carlo oder Las Vegas …

 

Meine Hypothese, warum wir bei siebenmaligem Auftreten eines Ereignisses unlogisch zu interpretieren beginnen, ist, dass unsere Wahrnehmung auf natürlich wahrnehmbare Regelmäßigkeiten in einer kurzen Lebensspanne und damit auf die typische Herdengröße hin entwickelt wurde. Zweiteres wird uns später bei der Diskussion zu unserer Ablenkbarkeit und der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne wieder begegnen. So viel kann man aber verraten: Wir sind extrem empfänglich für Ablenkung: Speziell in Büros mit rund sieben Mitarbeitern, da wir in dieser Gruppengröße Gespräche noch getrennt voneinander wahrnehmen (müssen).

Das bedeutet zusammengefasst, dass unser Gehirn darauf hin optimiert wurde, Ereignisse vorhersagen zu können: Es bildet ständig Hypothesen. Je besser unsere Hypothese mit dem tatsächlich wahrgenommenen Ereignis übereinstimmt, desto sicherer fühlen wir uns. Einerseits sind unsere Hypothesen und Wahrnehmungen davon abhängig, wie wir die Welt gestern erlebt haben, und andererseits davon, wie unsere direkten Mitmenschen das getan haben. Mit ihnen sind wir nämlich emotional verbunden und in unserer eigenen Wahrnehmung von ihnen abhängig.

Neugierde

Wenn die zwei „Froschprogramme“ Nahrungs- und Sexualtrieb und die „Spitzmausprogramme“ Bindung und Sicherheit befriedigt sind, dann fühlen wir uns wohl. Wohlfühlen ist biologisch gleichbedeutend mit der Aktivierung des „Energiesparprogramms“, das uns sinnvollerweise nur dann zur Energieinvestition motiviert, wenn es absolut notwendig ist. Es scheint nun aber so zu sein, dass wir von jenen primitiven Säugetieren abstammen, die – auch ohne ersichtlichen äußeren Grund – begonnen haben, Energie zu investieren, um die Welt nach Neuem und Interessantem zu durchforsten. Programm Nummer 3 war geboren: der Neugiertrieb, der in diesem Zusammenhang als innerer Antrieb zum Risiko zu verstehen ist.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass uns langweilig wird, wenn alle primären Bedürfnisse befriedigt sind. Es hatte aber offensichtlich einen entscheidenden biologischen Vorteil, den einen oder anderen Neugierigen in einer Herde zu haben; einen, an dem man beobachten konnte, welches neue Verhalten sich lohnt und welches man lieber bleiben lässt. Und das ist auch der Sinn der unzähligen selbst produzierten Action-Filmchen auf You Tube: Beim Ansehen erfahren wir, was wir garantiert nie ausprobieren werden. Zumindest gilt das für die meisten von uns. Genetische Diversität in einem Kollektiv hat sich immer ausgezahlt. Und so finden wir auch heute Menschen mit hohem oder niedrigem Blutdruck, mit schnellem oder langsamem Stoffwechsel, mit viel und wenig Muskelmasse; wir finden stressresistente und eher empfindliche und wir finden detailbesessene und fehleranfällige Mitarbeiter.

Beispielsweise waren jene Vorfahren mit genetisch bedingt erhöhtem Blutdruck wohl jene Exemplare, die bei einem Überraschungsangriff wesentlich schneller in die Gänge gekommen sind, alle anderen warnen konnten und dadurch die Überlebenschancen für alle erhöhten. (Das soll jetzt aber keine Jubelstimmung bei Bluthochdruck-Patienten auslösen, die durch chronischen Bewegungsmangel und Fehlernährung nicht selten selbst zum Problem beitragen: Zum Gesundheitsproblem wird Bluthochdruck erst, seitdem wir so alt werden. Sie haben also zwei Möglichkeiten, um nicht mit den negativen Folgen von Bluthochdruck konfrontiert zu werden: Eine davon ist, auf Bewegung und Ernährung zu achten. Die andere, möglichst nicht alt zu werden. Aber das ist für die meisten wohl keine erstrebenswerte Option).

Neugierde nun in Abhängigkeit von Bindung und Sicherheit zu verstehen, halte ich für sehr wichtig und schlage folgende Formel für das bessere Verständnis unseres Spitzmausgehirns vor:

Bindung + Sicherheit = Neugierde

Das bedeutet logischerweise, dass Neugierde – und damit die innere Bereitschaft zur Energieinvestition – gering sein wird, wenn Bindung und Sicherheit nicht in gewissem Umfang gegeben sind. Es wäre biologisch zu riskant, in Phasen der Unsicherheit neue, unbekannte Verhaltensweisen auszuprobieren. In diesen Phasen verlassen wir uns auf bewährte Verhaltensmuster, von denen wir wissen, dass sie funktionieren. Umgekehrt kann ein Zuviel an Sicherheit langfristig nachteilig sein, da – wie beim Sicherheitstrieb dargestellt – die „Spitzmaus“ nur dann passende Hypothesen bilden kann, wenn sie etwas riskiert und Neues über die Welt lernt. In einer Art Rückkoppelung aktiviert ein Zuviel an Sicherheit den Neugiertrieb: Uns wird langweilig und wir beginnen, etwas Neues zu suchen und auszuprobieren. Wir riskieren etwas und verunsichern uns dabei selbst, was ab einem gewissen Grad wiederum zur Hemmung der Neugierde führt.

Wendet man diese Logik in der Berufswelt an, ahnt man, warum Führungskräfte gut beraten sind, in Bindung und Sicherheit zu investieren, wenn Innovation und Anpassungsbereitschaft gefordert sind. Sie sollten auch verstehen, dass sie nicht dem Reflex nachgeben sollten, ausschließlich rational zu erklären, was zu tun ist. Der Mitarbeiterreflex, zu sagen: „Ich mach’ es so wie in den letzten fünfzehn Jahren, weil das besser ist“, resultiert also meist nicht aus fehlenden Erklärungen und Begründungen der Führungskräfte, sondern folgt auf einen Verlust an Sicherheit und Bindung. Kreativität kann sich unter Druck nicht entwickeln. Mehr dazu finden Sie in Kapitel 5 („Hirngerechte Mitarbeiterführung“).

Für unsere Lerninstitutionen, ob für Kinder oder Erwachsene, gilt übrigens dasselbe: Begeisterung zum Mitdenken und Ausprobieren entwickelt sich nur, wenn auch die Beziehung zum Coach oder Lehrer stimmt. Kommt zu einer gestörten Beziehung dann auch noch ein fehlendes Problembewusstsein des Schülers dazu („Wozu brauche ich das?“), ist der Mix „perfekt“: Gelerntes wird in einem Hirnbereich abgespeichert, der bei der Lösung neuer Probleme gar nicht aktiviert wird. Das bedeutet, dass diese Information nicht zum aktiven Lösen neuer Probleme verwendet werden kann. Es wurde einfach nur kontextabhängig auswendig gelernt, sodass „sinnvolle“ Details abrufbar bleiben, wie zum Beispiel die Seite, auf der etwas steht. Oder man erinnert sich sehr gut an etwas, wenn man in derselben Umgebung ist. Sie kennen das bestimmt aus Ihrer Schulzeit …

Eine wesentliche Eigenschaft unseres Spitzmausgehirns fehlt uns noch, die ich anhand einer fiktiven Geschichte darstellen möchte: Das Alphatier einer hungrigen Steinzeitmenschengruppe fordert zur Mammutjagd auf, die in zwei Varianten ablaufen könnte.

Beispiel A: Drei Männchen, Harald und seine Kumpel Karl-Heinz und Uwe, melden sich freiwillig, ziehen los und kehren nach einer Woche erfolglos – ohne Mammut, und nur mehr zu zweit – zurück. Die Grube für das Mammut war nicht tief genug gegraben worden und keiner der drei Jäger kam auf die Idee, Holzspeere in der Grube zu platzieren, damit das Mammut leichter getötet werden kann. Und Karl-Heinz hatte überhaupt Pech, er hat die Jagd nicht überlebt – er wurde von einem angreifenden Säbelzahntiger getötet: ein gescheitertes Projekt.

Beispiel B: Harald, Karl-Heinz und Uwe melden sich freiwillig, ziehen los und kehren nach fünf Stunden erfolgreich – mit einem getöteten Mammut – zurück. Sie hatten in diesem Beispiel großes Glück, ein Jungtier lag wenige Kilometer außerhalb ihres Lagers angeschlagen hinter einem Felsen. Das Tier war schnell getötet und zu ihren Familien zurück transportiert. Ein „quick win“, quasi ein Geschenk und damit ein hoch erfolgreicher Projektabschluss.

In Beispiel A war die Stimmung, wie nach jedem gescheiterten Projekt mit unschönen Kollateralschäden, natürlich auf dem Tiefpunkt. In Beispiel B war das Gegenteil der Fall: Die drei Heimkehrer wurden wie Helden gefeiert, bekamen – natürlich erst nach dem Chef – als Erste zu essen und im Anschluss die coolsten Weibchen. Die Welt war für alle Beteiligten in Ordnung.

Auf die Frage des Chefs in Beispiel A, wer einen neuerlichen Versuch starten wolle, um das Überleben der Gruppe zu sichern, würden sich die beiden Überlebenden wohl nicht mehr melden: Erinnerungen an dramatische Erlebnisse führen bei den Heimkehrern zu Vermeidungsstrategien, da ihr Angst- und Belohnungszentrum genau das gelernt hat: Die beiden haben einen „roten Ordner“ – entsprechend dem angstbesetzten Gedächtnisinhalt – angelegt, in dem alle schlimmen Szenen, Bilder und Gerüche der erfolglosen Jagd abgespeichert wurden. Die Konsequenz aus dem Gelernten ist individuell klar: zukünftige Vermeidung von Mammutjagden. Das Gedächtnis hat offensichtlich – aus der Perspektive der Gruppe – nicht nur Vorteile, denn ein Scheitern bedeutet auch immer das Ziehen persönlicher Konsequenzen.

Nun, was denken Sie, als Konsequenz welcher Erfahrungen in den beiden Beispielen ist langfristig die Innovation entstanden, Speere in Fallgruben zu platzieren? Und die Erkenntnis, dass es Sinn macht, sich wieder auf den Weg zu machen und es erneut zu wagen? Sie ahnen es wohl: in Beispiel A.

Biologisch betrachtet investierten wir ursprünglich nur in Verhaltensweisen Energie, die genetischen und damit direkten individuellen Erfolg versprachen. Das hat sich mit dem Zusammenschluss zu sozialen Gruppen verändern müssen: Eine Verhaltenslogik, die den kollektiven Nutzen über das erhöhte individuelle Risiko stellte, brachte enorme Vorteile, weil gemeinsame Ziele so viel nachhaltiger verfolgt werden konnten. Es musste verhindert werden, dass jeder individuelle Misserfolg zur Vermeidung zukünftiger Energieinvestition (Demotivation) führte und der Einzelne trotz Misserfolgen wieder zum Risiko bereit war.

Das Problem wurde biologisch mit zwei neuen Eigenschaften unseres Gehirns elegant gelöst, die sich wechselseitig unterstützen. Eine Untersuchung an deutschen Soldaten in Afghanistan zeigt die erste Eigenschaft eindrucksvoll auf: Unsere Festplatte ist dynamisch und scheint binnen weniger Monate im Kriegseinsatz zu schrumpfen. Wir speichern in chronischen Stresssituationen nicht mehr effizient ab, was den Vorteil hat, dass wir uns morgen nicht mehr im Detail an das Drama von gestern erinnern müssen. Wir wissen auch, dass dieser Prozess – traumatische Erlebnisse ausgenommen – zum Glück reversibel ist. Für Frauen in der Zeit rund um die Geburt ihres Kindes und allgemein für Menschen in sehr belastenden Arbeitsphasen gilt übrigens dasselbe – was im Lichte dieser Betrachtungsweise auch nicht verwunderlich erscheint.

Eigenschaft Nummer zwei ist die Fähigkeit zur Belohnung durch Motivation: Jeder kennt die Emotionen und Gefühle, die entstehen, wenn wir glauben, dass sich unsere Energieinvestition gelohnt hat. Und jeder kennt das Gegenteil. Um zu entscheiden, ob wir uns weiterhin für dieselbe Sache anstrengen und eventuell ein erhöhtes Risiko eingehen sollen, haben evolutive Prozesse einen genialen Mechanismus selektiert, der durch die Produktion des Hormons Dopamin gesteuert wird: Je mehr Dopamin wir produzieren, desto optimistischer, euphorischer und motivierter fühlen wir uns, und desto eher sind wir bereit, in Zukunft unsere Energie wieder in dieselben oder ähnliche Tätigkeiten und Verhaltensweisen zu investieren. Wir werden quasi „von innen überredet“, uns wieder anzustrengen und das Risiko eines möglichen Scheiterns in Kauf zu nehmen. Dopamin hat verhaltensmotivierende und erfolgssignalisierende Funktion und wird in hohen Dosen immer dann produziert, wenn wir nur knapp gescheitert sind oder knapp vor der Lösung eines Problems stehen – wie in Beispiel A. Wir sind also für regelmäßiges knappes Scheitern programmiert! Nicht aber für permanentes Scheitern, aber auch nicht für permanenten Erfolg. Im ersten Fall kommt es zu Resignation aufgrund gelernter Hilflosigkeit und im zweiten Fall zu Übermut und Faulheit, was wiederum das Lernen und die Weiterentwicklung hemmt. Bin ich immer erfolgreich, besteht kein Grund, an Verbesserungen zu feilen. Jeglicher Fortschritt, der für das Überleben in sich ständig verändernden Umweltbedingungen nötig ist, würde so unterbleiben. Ganz offenbar stammen wir also von Individuen ab, die Motivation erleben können, obwohl sie in ihrem Leben immer wieder gescheitert sind.

 

Die Logik des Belohnungssystems der Spitzmaus ist also einfach: Seit Jahrmillionen entsteht bei allen Säugetieren das befriedigende Gefühl der Belohnung durch die Entscheidung einer Energieinvestition für einen vermuteten Erfolg. Das erfolgt dann automatisch, wenn man auch zeitnah sehen kann, wofür man sich gerade angestrengt hat. Der konkrete Abschluss des Vorhabens ist dabei weniger wichtig als ein sichtbarer Fortschritt in die erwartete Richtung.

Das bedeutet, dass unsere Spitzmaus vor einer Entscheidung, sich für etwas anstrengen zu wollen oder zu müssen, eine genaue Vorstellung vom möglichen Verlauf, dem Aufwand und dem zu erwartenden Ergebnis hat. Sie kann und tut das aufgrund ihrer subjektiven Erfahrungen, dem Spektrum ihrer Erinnerungs-Ordner. Wir werden später sehen, dass es im Laufe der Entwicklung bis zum modernen Menschen zusätzliche Bedingungen für den Glauben an Erfolg gibt: rationales Verstehen (Sinn), die Möglichkeit, sich an Gruppenanstrengung beteiligen zu können (Partizipation), und Anerkennung in der Gruppe durch ritualisierte Verhaltenssignale (Lob und Aufmerksamkeit von Ranghöheren, Aufstiegsaussichten für mehr Rang und Privilegien, Respekt von Gleichrangigen oder Untergebenen).

Seit Jahrmillionen ist also Anstrengung die Grundvoraussetzung für Belohnung und damit für Lustempfinden. Das war biologisch sinnvoll, weil nur mit zielgerichteter Anstrengung die Arterhaltung sichergestellt werden konnte. Leistungs- und Risikobereitschaft und die Sicht- und Spürbarkeit der Auswirkungen gezielter Energieinvestition sind also die Voraussetzung für die Produktion körpereigener euphorisierender Drogen.

Durch die Errungenschaften der Industrialisierung – Wohlstand und Konsum – hat sich in diesem Zusammenhang ein Problem ergeben: Unter modernen Lebensbedingungen ist Anstrengung zur Produktion von Dopamin nicht mehr unbedingt notwendig. Man kann seine Erfolgserwartung rasch und leicht befriedigen, man kann Lust ohne Anstrengung erleben, man kann sich durch Konsum einen schnellen kleinen „Dopamin-Kick“ verschaffen und so den Lustgewinn von der anstrengenden Arbeit entkoppeln. Der fatale Lernschritt des Belohnungszentrums ist dann, dass nicht befriedigte Anstrengung leicht durch den kurzfristigen Erfolg des Konsums zu kompensieren ist. In der Folge beginnen wir, durch die Entkoppelung von Arbeit (= nur Anstrengung) und Konsum (= leichter Lustgewinn), die Arbeit als wesentlich anstrengender und als nicht lohnenswerten Aufwand zu empfinden. Gleichzeitig verstärken wir die Suche nach „quick wins“ durch Konsum in unserem Verhalten: Die allgemeine Suchtproblematik in unserer Konsumgesellschaft ist die Folge.

Fazit: Weder Belohnung ohne Anstrengung noch Anstrengung ohne Belohnung (!), sondern einzig und allein direkte Belohnung von Anstrengung – also Lust an unserer Leistung – wird mit Motivation belohnt! Wer seine Arbeit interessant und herausfordernd finden kann, erlebt bei der Arbeit Lust, die zu mehr Leistungsbereitschaft und höherer Belastbarkeit führt.

An dieser Stelle sollten wir bereits erkennen, dass unsere moderne Arbeitswelt für die meisten Menschen keine hirngerechten Rahmenbedingungen zu schaffen imstande ist: Wir können, sofern wir nicht gerade als Handwerker arbeiten, die direkten Auswirkungen unserer täglichen Anstrengungen nicht mehr erkennen. Die Folge davon ist, dass unser Belohnungssystem die Arbeit als nicht mehr (be-)lohnenswert interpretiert und Jammerkultur, Zynismus, Motivationsprobleme und in der Folge Suchtprobleme und Überlastungssyndrome (wie Burnout), zunehmen.