Die bewusst herbeigeführte Naivität

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Daraus erklärt sich dann auch Hans-Werner Sinns Argumentation: Sollten die Bundesbürger ihre Spareinlagen von ihren Konten bei den Geschäftsbanken abheben wollen, so müssten diese ihrerseits ihre Einlagen von der Deutschen Bundesbank zurückfordern, die wiederum ihre Forderungen gegen die EZB eintreiben müsste, was dieser jedoch Probleme bringt, wenn Teile ihrer Aktiva wertlos geworden sind.

Doch ist dieser Fall realistisch? Eigentlich nicht, weil die Summe an Ersparnissen ja im Zeitablauf ständig anwächst, also in der Regel netto nicht zurückgefordert wird. Bei einer dramatisch schrumpfenden Bevölkerung wie derjenigen in Deutschland könnte das allerdings durchaus einmal akut werden, wenn nämlich die wohlhabenden Alten, die zunehmend immer älter werden, ihre Ersparnisse verzehren müssen, um damit ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Obwohl das wirklich nur einen unwahrscheinlichen Eventualfall darstellt, der zudem höchstens einen kleinen Teil der gesamten Ersparnissumme betreffen würde, bleibt dennoch zu konstatieren, dass die Aktivseite der Deutschen Bundesbank durchaus wackelig geworden ist, genauso wie diejenige der EZB. Denn keiner weiß, was die Forderungen gegen die PIGS-Staaten, die Länder im Südraum der EU, tatsächlich in der Zukunft wert sein werden. Und vor allem: Was wäre, wenn Griechenland vielleicht tatsächlich doch einmal aus dem Euro ausscheiden würde?

Hans-Werner Sinn sagt dazu: „Wir haben also durch unsere Exporterfolge Forderungen gegen das Ausland erworben, von denen ein Großteil bloße Ausgleichsforderungen der Deutschen Bundesbank sind. Und diese Forderungen hängen in der Luft. Vor allem kann Deutschland aufgrund seiner Geschichte als letztes Land in der Welt die Rückzahlung seiner Schulden einklagen.“

Die These, dass Deutschland durch seine massiv angestiegenen Exportüberschüsse deutlich von der Euroeinführung profitiert habe, lässt Sinn daher nicht gelten. Denn was haben wir für diese Exporte letztlich bekommen, fragt er? Und antwortet: Nur Ausgleichsforderungen. Quintessenz: „Die gesamte politische Klasse in Deutschland liegt hier im Grunde genommen falsch.“

*

Ich kehre wieder in meinen Alltag zurück und überlege mir, ob es nicht vielleicht noch andere Menschen im Umkreis von Götz gibt, die auf merkwürdige und anonyme Weise bedroht werden. Denn warum nur ich, er wird doch sicher auch mit anderen Zwist haben? Ich denke beispielsweise an die Mutter seines Sohnes. Vielleicht hat er hier ja Probleme, die er dann auf meine Ex-Frau, unser Kind und mich überträgt?

Wenn ich so etwas finden würde, böte das einige Evidenz. Doch ich kenne zwar den Nachnamen seines Sohnes, aber die Mutter heißt entweder anders oder steht nicht im Telefonbuch. Und auch im Internet finde ich sie nicht. Ich gebe daher die Suche auf. Ich will da keinen Staub aufwirbeln.

Bei der Polizei habe ich Druck gemacht, dass jetzt endlich das E-Mail-Konto eingesehen wird, welches ohne Wissen und Billigung auf den Namen meiner Ex-Frau eingerichtet worden ist und von dem aus die Drohmails an mich verschickt worden sind. Denn dort müssen doch Spuren von demjenigen zu finden sein, der das gemacht hat.

Der Provider selbst, Web.de, hatte mir seinerzeit auf meine eigene Anfrage nur lapidar geantwortet, nicht auf Zuruf Personendaten herausgeben zu können. Ich solle vielmehr Strafanzeige gegen unbekannt erstatten, was dann eine Behörden-Anfrage zur Folge habe. Und nur in diesem Fall dürften die benötigten Informationen an die ermittelnden Stellen übermittelt werden.

Genau das habe ich dann ja auch gemacht, doch die Polizei zeigt sich immer noch unwissend und verunsichert, wie das Procedere dabei denn abzulaufen habe. Aber er werde sich sofort daranmachen und sich mit der entsprechenden Abteilung im Hause kurzzuschließen, sagt mein netter Sachbearbeiter auf der Wache.

Währenddessen versuche ich, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Ich frage jemanden, der versiert im Knacken von Passwörtern ist und sich selbst schon in andere Rechner eingehackt hat, doch er meint, hier habe er keine Chance. Daraufhin versuche ich selbst, mich einmal in dieses Konto einzuloggen und gebe nach zwei Fehlversuchen an, das Password vergessen zu haben. Denn normalerweise wird jetzt ein neues Passwort an den Benutzer geschickt, der sich dadurch vielleicht verunsichern lässt, weil er jemanden auf seiner Spur wähnt.

Zu meiner Überraschung erscheint hier jedoch der Vermerk, dass bei diesem Konto gar keine E-Mail-Adresse hinterlegt worden ist und ich mich daher an den Kundenservice wenden möge. Es muss also tatsächlich möglich sein, ohne Hinterlegung einer bereits bestehenden Mailadresse ein neues E-Mail-Konto zu eröffnen. Das wäre ja ein Ding. Denn dann könnte ja jeder …, aber nein, das kann doch gar nicht sein, denke ich.

Ich will das aber sofort überprüfen und eröffne daher selbst dort ein Konto. Und es klappt tatsächlich. Das heißt: Jedermann kann heute einen Mailaccount auf einen Phantasienamen mit Phantasieadresse und Phantasiegeburtstag ohne Angabe der eigenen E-Mail-Adresse oder Handynummer einrichten. Also gleichsam vollkommen anonym. Wie das früher bei den Schweizer Bankkonten ging.

Ich begreife das nicht, aber ich sehe natürlich, warum das so ist. Denn nur auf diese Weise können die Anbieter einen ständigen Zuwachs neuer Mailkonten generieren. Wenn ich hingegen im Internet etwas kaufen möchte und dazu beim Verkäufer ein Kundenkonto einrichte, muss ich stets meine Mailadresse angeben, an die dann ein Passwort gesandt wird, das zur Aktivierung des Kundenkontos erforderlich ist. Auch hier kann man natürlich betrügen, doch dem gröbsten Missbrauch ist durch diese Maßnahme ein Riegel vorgeschoben. Aus gutem Grund.

Die Einrichtung eines Mailkontos birgt für den Anbieter jedoch anscheinend kein Risiko und verursacht keine zusätzlichen Kosten, weshalb es für ihn in Hinsicht auf seine Werbeeinnahmen lukrativ ist, möglichst viele Nutzer zu gewinnen, egal welche. Dass er damit allerdings gleichsam Kriminellen jeglicher Couleur einen Freibrief ausstellen darf, halte ich für bedenklich. Und ich wundere mich, dass der Gesetzgeber das zulässt.

Natürlich kommt an dieser Stelle immer sofort das Argument, dass die Kriminellen dann eben ins Ausland abwandern würden. Doch ich glaube, das zieht hier nicht. Wenn ich eine Mail erhalte, die beispielsweise aus Russland kommt, weiß ich, dass sie mich nicht persönlich betreffen kann. Überdies ist es eigentlich nicht zu verstehen, warum die EU für solche Maßnahmen, die ja auch eine Abwehr gegen möglichen Terror darstellen würden, nicht die USA und andere wichtige Länder ebenfalls mit ins Boot holen könnten.

Nach wenigen Tagen erhält dann die Polizei tatsächlich eine Antwort auf ihre Anfrage hinsichtlich der Mails an mich, die sie auch sogleich an mich weiterleitet. In das Konto wurde allerdings keine Einsicht genommen, doch man hat die IP-Adressen der Drohmails, die bei mir angekommen sind, nachverfolgt. Sie stammen aus dem Netz des Anbieters 1&1, der jedoch mitteilt, dass eine Zuordnung zu einzelnen Kunden leider nicht möglich sei. Na großartig.

Schon im Vorfeld hatten mir Freunde gesagt, dass Leute, die so etwas machen, wie Drohmails zu versenden, mit Sicherheit auch ihre IP-Adresse unterdrücken oder verschleiern werden. Ich habe das dennoch als Chance gesehen, denn Götz besitzt ja keinerlei technisches Interesse und hat von diesen ganzen Dingen mit Sicherheit keine Ahnung. Möglicherweise wird er daher ausschließlich auf seine Anonymität bei der Kontoeröffnung geachtet haben, aber nicht daran, beim Mailversenden möglicherweise Spuren zu hinterlassen.

Entsprechend groß ist jetzt meine Enttäuschung. Doch ich forsche nach und finde, dass die Situation sich noch weit hoffnungsloser darstellt als vorher gedacht. IP-Adressen werden verwendet, um Daten wie bei einem Briefumschlag von ihrem Absender zum vorgesehenen Empfänger transportieren zu können. Die Krux liegt nun jedoch darin, dass die jeweilige IP-Adresse der Mail stets durch einen Zufallsprozess zugeordnet wird.

Und das Telekommunikationsgesetz regelt, dass die Verkehrsdaten nur zu Abrechnungszwecken gespeichert werden dürfen. Da heute jedoch fast alle Internetnutzer Flatrates haben, bei denen keine Abrechnung notwendig ist, was insbesondere auf alle Internet-Cafés zutrifft, von denen aus solche Mails ja am trefflichsten abgesetzt werden, lässt sich prinzipiell niemals etwas zurückverfolgen, wie das ja auch aus der vorliegenden Auskunft zu ersehen ist.

Das bedeutet also: Jeder kann heute sich nicht nur anonym Mailkonten einrichten, sondern auch völlig im Verborgenen Mails verschicken. Und die einzige Möglichkeit, hier etwas herauszubekommen, bleibt die Einsicht in die Kontendaten, die jedoch nicht stattgefunden hat.

Was ist das nur für eine merkwürdige Situation, denke ich? Da können die Geheimdienste flächendeckend sämtliche Mails lesen, die überhaupt verschickt werden, wie das ja jetzt gerade frisch herausgekommen ist, doch wenn ein Bürger von Kriminellen traktiert wird, erweisen sich die staatlichen Institutionen als komplett inkompetent. Oder ihnen sind die Hände gebunden. Wahrscheinlich trifft sogar beides zugleich zu.

Von Götz bekomme ich in der Folge noch ein paar Mal persönlich etwas mit, mich erreichen ein oder zwei Mails von seinem offiziellen Mailaccount, und es findet sich ein Anruf von ihm auf meinem Anrufbeantworter. Die Mails beantworte ich nicht und den Anruf habe ich nicht angehört, nachdem ich gemerkt habe, wer dort aufgesprochen hat. Und als ich beim Klingeln des Telefons Götz´ Rufnummer auf meinem Display sehe, gehe ich nicht heran. Für mich ist dieser Kontakt zu Ende.

*

Wie gering allerdings sind meine gesamten eigenen Probleme gegen das, was ich an nur einem einzigen Abend im Fernsehen erlebe?! Ein Kamerateam begleitet eine Gruppe von Jugendlichen bei ihrem Widerstand gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad in Syrien, beginnend mit den friedlichen Protesten im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ Anfang 2011 bis hin zur letzten Verteidigungslinie der Aufständischen in der total zerbombten Stadt Homs.

 

Das ist so schrecklich, dass ich weinen könnte. Und ich frage mich, warum ich auch hier erst jetzt richtig mitbekomme, was dort genau los ist? Warum habe ich das vorher nicht realisiert, und wenn doch, warum hat es mich dann nicht tangiert, jetzt hingegen aber doch?

Dabei habe ich Baschar al-Assads Werdegang durchaus verfolgt, seit er im Jahr 2000 Syriens Staatspräsident wurde, und mir zudem seinen Namen gemerkt, was ansonsten bei keinem arabischen Führer der Fall gewesen ist. Dieser Mann erinnert mich nämlich vom Aussehen her fatal an meinen Zahnarzt, mit dem zusammen ich zur Schule gegangen bin und viel erlebt habe. Und so etwas bildet eine Klammer.

Ich kann das alles fast immer noch nicht glauben, was da heute in diesem Land geschieht, denn Baschar al-Assad ist doch Arzt und hat in London Medizin studiert. Ihm dürften doch die westlichen Werte nicht komplett entgangen sein. Zumal auch seine Frau eine in London geborene Syrerin ist, die vorher als Finanzanalystin gearbeitet hat. Jetzt jedoch lassen sie in dem von ihnen regierten Land auf die eigene Bevölkerung schießen. 140.000 Tote hat dieser Konflikt bisher gekostet, die Städte sind zerbombt, und von den insgesamt 20 Millionen Einwohnern sind 2 Millionen ins Ausland geflohen und befinden sich mehr als 6,5 Millionen im eigenen Land auf der Flucht.

Das ist das Werk eines im Westen ausgebildeten Arztes. Zuerst dachte ich, da gibt es sicher Kreise in der Regierung, die er nicht im Griff hat und die ihn für ihre eigenen Aktionen vorschieben. Doch wenn ich Baschar al-Assad heute in Fernsehinterviews sehe, wirkt er vollkommen mit sich im Reinen und scheint ganz hinter seinen Taten zu stehen. Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe ihn nicht, ich verstehe die Welt nicht, und ich verstehe auch mich nicht, dass mir das erst jetzt wirklich etwas ausmacht.

*

Endlich ist der Tag der Bundestagswahl gekommen. Ich beeile mich extra, rechtzeitig fertig zu sein, um in Ruhe die erste Hochrechnung im Fernsehen mitzuerleben und mich anschließend genüsslich durch den ganzen Wust an Kommentaren und Bewertungen führen zu lassen. Doch just an diesem Tag geht mein Satellitenempfänger kaputt. Als das um 17:30 Uhr passiert, denke ich, dass das kein gutes Omen für die Wahl ist.

Und genauso ist es dann auch: Die AfD, die ich gewählt habe, schafft es nicht in den Bundestag. Es wird die parlamentarische Auseinandersetzung um den Euro, auf die ich so gehofft hatte, also nicht geben. Der Euro und seine Probleme können weiter totgeschwiegen werden. Doch auch die FDP wird im neuen Bundestag nicht vertreten sein, so dass die alte Koalition nicht mehr weiterregieren kann. Die Kanzlerin gewinnt zwar enorm viele Stimmen hinzu und schafft beinahe die absolute Mehrheit, doch es reicht nicht ganz. Und nun?

Irgendwie entbehrt das für mich nicht der Komik: Denn während ich mich erschrocken von der Kanzlerin abgewendet habe, sind im selben Moment andere Wählergruppen gleich in Massen zu ihr konvertiert. Die Strategie der Union ist also voll aufgegangen. Die Leute wollen anscheinend tatsächlich kein kritisches Hinterfragen, sondern Ruhe und das Verbreiten von Zuversicht.

Die Bild-Zeitung schreibt über Merkels Sieg: „Warum vertrauen alle unserer Kanzlerin? Die Antwort lautet: Sie ist volksnah, bodenständig, behält einen kühlen Kopf und eckt kaum an. Fazit: Ob man nun Merkel Fan ist oder nicht – fest steht: Die Mutti-Masche funktioniert.“

So ist es wohl. Doch was soll es, die Menschen sind frei in ihren Entscheidungen. Deutschland ist ein freies Land. Wir alle besitzen die einmalige Chance, durchgängig zu verblöden, und wir nutzen sie konsequent.

Zum Glück hat nahezu zeitgleich das Oktoberfest begonnen. Obwohl ich Bierzelte im Vergleich zu Bierkellern überhaupt nicht mag, zieht mich dieses Ereignis jedes Jahr stärker an. In diesem Jahr schaue ich mir sogar die Eröffnung in München live im Fernsehen an, inklusive der Vorberichterstattung. Wie bei einem großen Fußballspiel. Das steigert die Freude noch weiter, denn selbst als Berliner muss ich heute nicht mehr außen vor bleiben, schließlich haben wir mittlerweile unser eigenes Oktoberfestzelt am Hauptbahnhof.

Als ich Samstagmittag dorthin losziehe, denke ich: Ich kann doch nicht mittags schon einen Liter Bier trinken. Ich will das aber, also mache ich es auch. Doch was fange ich anschließend mit dem Schweinsbraten im Bauch und dem Bier im Kopf an? Zum Glück findet nur wenige Stationen mit der S-Bahn entfernt ein interessantes Fußballspiel statt, da spielt der SV Lichtenberg gegen niemand Geringeren als den DDR-Serienmeister BFC Dynamo. Und die wollte ich schon immer mal live sehen.

Da ist bestimmt einiges los, denke ich, schließlich ist das ein Lokalderby. Zudem werde ich mich nicht am Bierstand anstellen müssen. Was für eine phantastische Stadt Berlin ist, denke ich, der BFC Dynamo beinahe gleich um die Ecke vom Oktoberfestzelt. Und das Stadion in Lichtenberg ist genauso, wie ich es mag, ganz eng, ein reines Fußballstadion, alt und von Patina überzogen. Zudem hat man von dort aus den direkten Ausblick auf die ehemalige Stasizentrale in der Normannenstraße. Genau dort liegt auch der Gästeblock für die BFC-Fans. Besser geht es wirklich nicht.

Diese Fans des BFC sind extrem verschrien, doch mich begeistern sie, denn sie sind alle mit Herzblut dabei, und ich sehe wunderbare Transparente mit Aufschriften wie „Against modern football“ und „There´s a light that never goes out“. Vielleicht ist das ja heute die höchstmögliche Form des Protestes, Fan eines ehemaligen Stasiclubs zu sein. Am darauffolgenden Wochenende beschließe ich daher, mir auch einmal ein Heimspiel des BFC anzuschauen, im Sportforum Hohenschönhausen, der alten DDR-Kaderschmiede, denn dieser Ort reizt mich mächtig.

Als ich mir anschaue, wie ich dort hinkomme, sehe ich, dass ich beinahe um die Ecke die zwei wichtigsten Jahre meines Berufslebens verbracht habe. Hier hat mein Leben eine seiner wichtigsten Weichenstellungen erfahren. Was für ein Zufall, dass ich jetzt wieder darauf gebracht werde. Ich entschließe mich, früher loszufahren und diese Gegend noch einmal ganz in Ruhe zu inspizieren.

In der Schneeglöckchenstraße, unweit des S-Bahnhofs Landsberger Allee, befand sich damals die Niederlassung Berlin der Treuhandanstalt. Dort habe ich von 1991 bis 1993 gearbeitet. Damals war gerade erst die Mauer gefallen und Deutschland frisch wiedervereinigt, da wollte ich unbedingt an der Aufgabe mitarbeiten, die DDR-Betriebe in die Marktwirtschaft zu überführen. Ich hatte große Lust darauf, habe gleichzeitig aber auch daran gedacht, dass das fast so etwas wie eine Pflicht ist, hieran mitzuarbeiten. Doch dass sich dabei dann auch noch mein Privatleben vollkommen verändern und schließlich sogar meine eigene innere Mauer fallen würde, daran habe ich vorher nicht einmal im Traum gerechnet.

Als die Treuhandanstalt im ersten Halbjahr 1990 gegründet wurde, wusste ich sofort, dass das das Ziel ist, wo ich hinwill. Allerdings arbeitete ich zu dieser Zeit noch an der Universität und befand mich gerade in der Endphase meiner Dissertation. Im Herbst oder Winter fand ich dann jedoch diese Anzeige in der Zeitung, auf die ich mich auch sofort bewarb, und mit Riesenglück habe ich schließlich eine der wenigen ausgeschriebenen Stellen bekommen, für die es wohl mehr als tausend Bewerber gegeben hat.

Die Einstellungsgespräche wurden von einer westdeutschen Personalberatungsfirma geführt, doch bald kam dann der erste Brief von der Niederlassung Berlin der Treuhandanstalt, mit der Hand geschrieben, weil es dort schlichtweg an Computern und Schreibmaschinen mangelte. Zwei Wochen Urlaub konnte ich noch gerade dazwischenschieben und bin dann am 4. März 1991 in der Schneeglöckchenstraße Nr. 26 angetreten.

Heute, wo ich nach beinahe genau 20 Jahren zum ersten Mal wieder vor diesem Haus stehe, merke ich sofort, dass ich mir diese Phase der Vergangenheit jetzt noch einmal vornehmen will. Schließlich harren immer noch fünf prallgefüllte Ordner mit Materialien aus dieser Zeit auf ihre Aufarbeitung, und endlich besitze ich jetzt einen Anlass, da heranzugehen.

Ich denke an die Mannschaft zurück, auf die ich damals getroffen bin und mit der wir diese Riesenaufgabe zu stemmen hatten. Da gab es alte Führungskader der DDR und abgehalfterte Wirtschaftsführer aus dem Westen, genauso wie altgediente Erfahrungsträger, von denen ich viel lernen konnte, und die sich teils aus Idealismus, teilweise aber auch auf Suche nach einem eigenen Schnäppchen dort verdingt hatten.

Dieses Konglomerat wurde schließlich aufgefüllt von geschniegelten Beratern der renommierten Beraterfirmen wie Roland Berger, Price Waterhouse und Boston Consult sowie von Rechtsanwälten diverser großer und kleiner Kanzleien. Und dann waren schließlich wir noch da, die jüngeren, relativ frisch von der Hochschule kommenden Wirtschaftsabsolventen, die jedoch bereits über eine gewisse Berufserfahrung verfügten und paritätisch halb aus dem Osten und halb aus dem Westen rekrutiert worden waren.

In dieser Besetzung nun, und ohne eine annehmbare Ausrüstung an Telefonen, Faxgeräten und Schreibgelegenheiten, sollten wir die große Schlacht schlagen, die eigentlich nicht zu gewinnen war. Doch die Aufgabe war so groß, dass sie niemand auch nur annäherungsweise übersehen konnte, was dann auch wieder etwas Positives an sich hatte.

Die Mixtur der Mitarbeiter hat sich im Endeffekt als richtig herausgestellt. Denn niemals ging es um reine Betriebswirtschaft, der Bogen war wesentlich weiter gespannt, wir mussten die Befindlichkeiten im Osten verstehen, uns aber nach Westen orientieren. In dieser Zeit habe ich viel gelernt, aber auch eine Menge eingesetzt. Und es war gar nicht einfach, mich gegenüber den Beratern und sonstigen Karrieristen zu behaupten. Doch zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich dabei im Beruf nicht zurückgehalten und verkrochen, sondern gekämpft und mich durchgesetzt. Aber hier war es ja auch nicht wie früher in der Bank, hier trug ich viel Idealismus in mir und wusste, ich kann etwas verändern.

Nach gut dreieinhalb Wochen Eingewöhnung gab es an Ostern die erste Chance für eine kurze Auszeit. Ich war damals derart fasziniert vom Umbruch, dass ich mit meiner damaligen Freundin gleich noch weiter gen Osten gefahren bin. Als ich dann jedoch am Ostermontag um 8:42 Uhr mit dem Nachtzug aus Warschau am damaligen Hauptbahnhof, dem heutigen Ostbahnhof, angekommen bin, ahnte ich noch nicht, was sich zwischenzeitlich ereignet hatte.

Am Karfreitag wurde auf unsere Niederlassung der Treuhandanstalt in der Schneeglöckchenstraße ein Brandanschlag verübt. Das Hauptziel war anscheinend das Zimmer des Direktors für Privatisierungen, dem ich zugeordnet gewesen bin und in dessen Sekretariat ich am Gründonnerstag noch die letzten Aktennotizen diktiert hatte. Doch zum Glück sah es schlimmer aus, als es letztlich war. Nach nur kurzen Aufräumarbeiten konnten wir unsere Arbeit fortsetzen.

Als noch gravierender erwies sich schließlich, dass am späten Ostermontagabend der Chef der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, in seinem Düsseldorfer Wohnhaus einem Terroranschlag zum Opfer gefallen ist. Das jedoch habe ich erst erfahren, als ich bereits im Brandgeruch in unserem Büro stand. In diesem Moment schlotterten mir wirklich die Knie. Zum Glück wurde uns ebenfalls erst später zugänglich, dass bei dem Brandanschlag in unserer Niederlassung das Bekennerschreiben einer Gruppe, die sich „Thomas Münzers wilder Haufen“ nannte, hinterlassen worden war, in dem der Name Rohwedder bereits auftauchte und Rohwedder als Totengräber der DDR bezeichnete.

Wie es anlässlich dieser Warnung überhaupt möglich gewesen ist, diesen Mann nur wenige Tage später zu ermorden, diese Frage stelle ich mir noch heute. Da hat die Polizei wirklich mächtig versagt. Aber das soll ja vorkommen.

*

Erneut bekomme ich eine Drohmail, und dieses Mal hat sie es wirklich in sich. Der Text lautet: „wenn du schon alles kaputt machst hole unsere Tochter in dieser woche von der schule ab damit ihr nichts passiert“. Das ist wirklich eine neue Stufe, denke ich. Das könnte man auch als Ankündigung einer Entführung verstehen.

Mein Sachbearbeiter bei Polizei regt daraufhin an, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre, ihm gegenüber den Namen des Verdächtigen preiszugeben, den ich hinter diesen Mails vermute, jedoch bisher noch nicht genannt habe. Ich überlege lange, ob ich das tun soll, denn das bedeutet natürlich, dass Götz damit aktenkundig wird. Und wenn er einen Anwalt einschaltet, dann kann dieser, und damit auch Götz, die gesamten bisherigen Unterlagen einsehen. Anschließend setze ich mich aber trotzdem hin und schreibe den entsprechenden Brief an die Polizei. Ich denke, ich muss jetzt Haltung zeigen. Doch

 

Ich schreibe genau das, was war. Dass in den ersten Mails Interna aus meinem Leben aufgetaucht sind, von denen nur drei Menschen Kenntnis hatten. Und dass es sich bei zweien davon um meine besten Freunde handelt, für die ich beide meine Hand ins Feuer legen würde. Übrig bleibt also nur Götz. Er war zudem der Einzige, mit dem ich über die gerichtliche Auseinandersetzung mit meiner ehemaligen Frau gesprochen habe, den beiden anderen hatte ich nur gesagt, dass wir jetzt im Streit liegen.

Ich erwähne aber auch das Schriftbild, das ich sofort wiedererkannt habe und wodurch mir völlig klar gewesen ist, woher zumindest die erste Mail stammen muss. Und dass, nachdem ich Götz damit konfrontiert habe, dieses Schreibmuster nie wieder aufgetaucht ist, sondern durch ständig neue und ebenso extreme ersetzt worden ist. Ganz so, als wolle der Schreiber sich in der Folge bewusst vom dem ersten absetzen. Auch die mögliche Konstruktion eines Ausländerhintergrunds führe ich an.

Und was passiert nun?, frage ich den Polizisten. Jetzt wird Götz zu einem Gespräch vorgeladen. Das ist bestimmt unangenehm für ihn, doch ich kann es nicht ändern. Und hinterher wird das sicherlich auch für mich Folgen haben, da bin ich eigentlich sicher. Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich wüsste nicht, wie diese Mailgeschichte anders gestoppt werden könnte, als durch die Polizei, die Götz hoffentlich einen Schreck einjagt und damit zum Einhalten bringt.

*

Zum Glück gibt es aber auch noch andere Themen. Im Fernsehen läuft eine Reportage, wie die freie Verfügbarkeit von Sexvideos im Internet die Jugendlichen im Prozess ihres Erwachsenwerdens beeinflusst. Das ist faszinierend, beeindruckend und spannend und damit jeder Fiktion aus Romanen und Spielfilmen bei Weitem überlegen.

Und genau das ist es, was ich sehen will: die Realität. Deshalb auch mein Interesse an dem Fall Götz. Das ganze erfundene Zeug in den Romanen und Filmen kann mir nämlich bereits seit Längerem komplett gestohlen bleiben. Schon früher bin ich kein großer Romanleser oder Filmegucker gewesen, mich hat schon immer die Wirklichkeit mehr interessiert als jede Fiktion. Und jetzt ist das noch extremer geworden. Selbst wenn sich in dieser Wirklichkeit lauter Leute mit so komischen und zum Verwechseln ähnlichen Namen tummeln wie Hankel und Henkel oder Hans-Werner und Hans-Olaf, was es ja in der Fiktion ja niemals geben würde.

Die Mädchen beschweren sich in dem Fernsehbericht durchgängig darüber, wie diese Filme die Jungen konditionieren würden, die dann von ihnen ebenfalls so ein Verhalten erwarten, wie sie es bei den Frauen im Film sehen. Außerdem spielten die Filme vor, als ob es letztlich immer nur um das Aussehen ginge. Andererseits berichten Mädchen wie Jungen aber auch davon, dass es trotzdem immer noch die schüchternen Annäherungen mit dem damit verbundenen Unwissen gäbe. Das, was wir die romantische Liebe nennen, sei also noch nicht verloren, sagt dazu die Stimme aus dem Off.

Ich überlege, wie das damals bei uns gewesen ist. Da gab es nur den „Playboy“ und später dann das Sexfilmkino. Doch das eine war so künstlich und das andere so schmuddelig, dass sich zu der realen Welt der wirklichen Mädchen keinerlei Verbindung ergab. So lebten wir in zwei vollkommen voneinander getrennten Welten. Wenn wir allerdings damals schon solche Videos gehabt hätten, wie ich sie heute im Netz finde, möchte ich lieber nicht wissen, was aus mir geworden wäre. Da habe ich ein ganz ungutes Gefühl.

Was mich an den Sexvideos heute am meisten erstaunt, ist, wie deutlich die Führungsrolle der USA in diesem Bereich ist. Dieses prüde Amerika, das mittlerweile nahezu überall in der Welt seine einstige Dominanz eingebüßt hat, gerade hier ist es jedoch die unangefochtene Nummer eins. Denn egal, ob man sich auf deutsche, französische oder sonstwelche Seiten anderer Nationen begibt, überall wird von den Actressen unisono im breiten Amerikanisch gestöhnt: „Oh yes, fuck me!“

Wenigstens hier gibt also die Stimme Amerikas noch der Welt die Richtung vor.

*

In den Herbstferien habe ich zum ersten Mal beide Wochen ganz allein für mich. Ich nutze die Zeit für zwei Kurzreisen. Interessant daran ist, dass beide Reisen nahezu total identisch ablaufen, ich habe das Rad dabei und mache ausgiebige Touren, meine inneren Befindlichkeiten dabei jedoch extrem auseinanderklaffen und der Umschwung zwischen beiden sich völlig ohne jede äußere Einwirkung ergibt. Alles basiert also ausschließlich auf Schwankungen meiner inneren Stimmung. Vielleicht sollte ich mich an erster Stelle selbst einmal zum Forschungsobjekt machen.

Als ich von der zweiten Reise nach Hause zurückkomme, finde ich erneut einen Anruf von Götz auf meinem Anrufbeantworter vor. Mit freundlicher Stimme, als sei nie etwas gewesen, hat er da aufgesprochen: „Hallo, Götz hier, ich wollte doch nur mal fragen …“ Doch das will ich mir nicht anhören, drücke sofort auf Stopp und lösche die Nachricht.

Ich werde mich Götz gegenüber zukünftig so verhalten, wie ich das jetzt auch mit den dauerbauenden Nachbarn zu meiner Arbeitszimmerseite mache. Nach einem deutlichen Wort habe ich mich total zurückgenommen, interveniere nicht mehr und raste nicht aus, wie mir das früher sicher passiert wäre. Ab jetzt kommen diese Leute in meiner Welt nicht mehr vor. Ich werde nichts mehr sagen, ihnen aber auch nicht mehr zuhören. Und wenn ich einen von ihnen auf der Straße treffe, werde ich ihm höchstens ein flüchtig gemurmeltes „Guten Tag“ entgegnen, um die Contenance zu wahren. Ansonsten aber wird man an mir nur noch meine stille Verachtung sehen. Manchmal gibt es eben keine andere Lösung.

Bei Götz fällt es mir schwer, zu verstehen, wie jetzt so ein lockerfröhlicher Anruf kommen kann. Besitzt er tatsächlich keinerlei Sensorium? Oder will er mich jetzt vorführen? Ich überlege mir: Wie würde ich wohl reagieren, wenn mich jemand so einer Sache beschuldigt, ich aber unschuldig wäre? Ich würde es ganz sicher nicht bei läppischen Mails oder einem Hallo-ich-wollte-nur-mal-fragen-Anruf belassen. Da würde ich entweder aktiv werden und mit Einsatz um meine Glaubwürdigkeit kämpfen, oder aber mich ganz zurückziehen. Doch von Götz kommt weder das eine noch das andere.

Die einzige Möglichkeit, meine Entscheidung ihm gegenüber noch einmal umzuwerfen, bestünde darin, dass sich zweifelsfrei beweisen ließe, dass Götz das nicht gewesen ist mit den Drohmails. Wenn ich mich nun aber doch bei meinem Verdacht geirrt hätte? Tant pis, so ist das Leben. Lieber einmal zu viel Nein gesagt als einmal zu viel Ja.

Ich rufe bei der Polizei an, wie es denn nun aussehe, ob Götz bereits vorgeladen worden sei, erfahre jedoch, dass mein Sachbearbeiter krank ist. Und in dieser Zeit laufe nichts. Es kann mir nicht einmal jemand Auskunft erteilen. „Ich hoffe nur“, flachse ich, „dass Ihre bösen Buben das auch wissen und sich entsprechend zurückhalten.“ Zum Lachen ist mir dabei allerdings nicht zumute.

Plötzlich schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass jetzt, wo Götz bei mir so freundlich auf den Anrufbeantworter gesprochen hat, bestimmt gleich im Anschluss eine neue ganz fiese Drohung kommen wird. Denn dann wäre der Anruf eine geniale Ablenkungsmaßnahme gewesen. Ich glaube nämlich unbedingt an einen finalen Donnerschlag. Bevor der nicht kommt, wird Götz nicht aufgeben.

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