Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden

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Jemand, der zwar in Teilaspekten als kompetent eingeschätzt wird, aber erst durch Führung von außen zu einem integrierten Beitrag bewegt werden muss, wird leicht als Belastung für ohnehin belastete Auftraggeber angesehen. Erweckt er jedoch den Eindruck, schnell, selbst organisiert und kooperativ nützlich werden zu können, dann verspricht sich der Auftraggeber Leistung gepaart mit Entlastung.

Auch diese Anforderungen bringen Gutes und Schlechtes mit sich. Einerseits können durch solche »Präsentations-Quickies« Blender eingeladen werden, deren beste Leistung eben solche Präsentationen sind, ohne dass dann wirklich Qualität nachfolgt. Andererseits ist jeder Bewerber gefordert, auf den Punkt zu kommen und Wesentliches zu vermitteln.

Eine Art »verschärftes Eisbergprinzip« verlangt, eine Kostprobe für Kompetenz an der Oberfläche geben zu können, die von den richtigen Qualitäten dahinter überzeugt. Das wechselseitige Ansprechen von Intuitionen über die dahinter stehenden Wirklichkeitsvorstellungen und Kompetenzen entscheidet immer häufiger darüber, ob man überhaupt weitere Chancen bekommt.

4.8.1 Fachkompetenz

Heute ist man sich einig, dass Fachkompetenzen allein nur in wenigen Funktionen ausreichen. Überall entscheidet das Aufbereiten, das Auftreten, das Zusammenspiel mit anderen mit darüber, ob Fachkenntnisse zur Geltung kommen oder nicht. Soziale Faktoren – die sogenannten Soft Skills – sind also wichtig.

Längere Zeit versuchte man, solche Kompetenzen unter den Etiketten Selbstmanagement, Persönlichkeitsentwicklung, Rhetorik und Kommunikation als separate Kompetenz hinzuzunehmen. Kommunikationsfachleute, Psychologen, auch Systemiker gingen davon aus, dass sie so universales Wissen und entsprechende Dienste anzubieten hätten. Sie postulierten, dass diese auch dann nützlich seien, selbst wenn sie sich kein kompetentes Bild von den fachlichen Aspekten der beruflichen Arbeit des Gegenübers machen konnten. Die Verantwortung, das Gelernte in das konkrete Berufsleben zu übertragen, wurde den Kunden und Seminarteilnehmern allein überlassen. Dies führte zu Stimmigkeits- und Transferproblemen. Um Stimmigkeit einer Situation herzustellen, muss sie eben auch unter fachlichen Gesichtspunkten kompetent gestaltet sein. Auch wenn die separat trainierten Soft Skills besser als zuvor versorgt sind, gelingt es ohne Fachkenntnisse nicht leicht, ein überzeugendes Kraftfeld aufzubauen und andere für Bestätigung und komplementäres Mitwirken zu gewinnen. Dann sind Transfer und eigenes kreatives Weiterlernen der Klienten unter Live-Bedingungen schwer – die Sonderveranstaltungs- oder Seminarwirkung verpufft.

Als Konsequenz wird heute die Bedeutung der Fachkompetenz wieder betont. Doch wer braucht wann welche Fachkenntnisse? Welche Lernformen kann man wählen, um die Fachkenntnisse situativ angemessen einzubeziehen, ohne die ganze Angelegenheit zu kompliziert zu machen? Hierauf gibt es keine einfachen Antworten. Doch ist schon viel gewonnen, wenn man sich der Verantwortung stellt, bei Lernprozessen im Softfaktor-Bereich für angemessene Berücksichtigung fachlicher Gesichtpunkte zu sorgen.

Hierzu gehört, dass Lehrende, Berater oder Führungskräfte z. B. genügend juristische oder betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse besitzen, um zu merken, wenn es beim Gegenüber an fachlichen Kompetenzen fehlt. Nicht, dass diese dann geboten werden müssen, aber der Umgang mit dem erkennbaren Bedarf wird in das Lerndesign integriert.

Metaphorisch ausgedrückt gilt: Wie beim Musizieren machen zwar Spieltechnik und richtige Noten allein keine Musik. Doch lässt sich auch ein inspirierendes musikalisches Kraftfeld nicht aufbauen, wenn fachliches Know-how fehlt oder nicht aktiviert und integriert wird.

4.8.2 Feldkompetenz

Was zu Fachkompetenz gesagt wurde, gilt auch für Feldkompetenz, zumal sich beides überlappen kann. Wenn jemand Probleme mit seiner Professionalität als Marketingfachmann hat, dann macht es einen Unterschied, ob er für Ver-marktung von Software übers Internet oder für Vermarktung von persönlichen Beratungsdienstleistungen zuständig ist. Obwohl viele fachliche Prinzipien dieselben sind, sind es doch verschiedene Welten. Viele Fachkompetenzen sind so feldspezifisch, dass sie als Feldkompetenzen gelten können.

Dies zeigt jedenfalls, dass Feldkenntnisse wie die der Eigengesetzlichkeit von Branchen, Größe, Struktur und Verfasstheit von Unternehmen bei der Bestimmung und Entwicklung von Kompetenz wichtig sind. Wenn ein kompetenter Vertriebsmanager aus dem Personenluftverkehr zum Schienen- nahverkehr der Bahn überwechselt, dann ist fraglich, ob die Übertragung der Buchungssysteme von einer Welt in die andere als kompetent gelten kann. Dementsprechend weisen sich Professionelle eben auch durch Felderfahrung aus bzw. prüfen, welche sie übertragen können oder welche sie neu erwerben müssen.

Manchmal geht es auch darum, in welche Felder man besser passt, um die vorhandenen Kompetenzen stimmiger nutzen zu können. Dies kann Ver- änderung hinsichtlich der Branche, der Unternehmensgröße, der Kollegen oder Kunden oder auch der Arbeitsformen und Beschäftigungsverhältnisse betreffen. Hier kann eine Passungsberatung durchaus mal die Erweiterung von Rollen- und Kontextkompetenz in Qualifizierungsmaßnahmen ersetzen.

4.8.3 Marktkompetenz

Heutzutage ist in immer mehr Funktionen Marktkompetenz erforderlich. Zwar gilt erfreulicherweise auch noch heute das Gesetz, wer gut arbeitet, wird beachtet und bemerkt. Es spricht sich herum und daher fragt der Markt wie von selbst verstärkt nach. Wer würde nicht gerne zu diesen Glücklichen zählen? Doch hat sich auch schon mancher, der sich auf gute Arbeit verlassen hat und sich mit wenigen, scheinbar sicheren Kunden oder Partnern zufrieden gab, plötzlich in der Abseitsfalle wiedergefunden, weil sich aus irgendeinem Grunde unerwartet der Wind gedreht hat. Berater für Berufsmusiker berichten zum Beispiel, dass diese geradezu empört sind, wenn sie ihr Talent und ihre Mitwirkung zu Markte tragen sollen. Lieber üben sie noch viele weitere Stunden, auch wenn da nicht der Mangel liegt.

Immer mehr Märkte mutieren zu Nachfrage-Märkten. Immer mehr Anbieter versuchen, sich im Markt auszudehnen oder neu hereinzudrängen.

Dies gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für viele Freiberufler. Sie müssen ihre Kompetenzen zu marktgängigen Produkten entwickeln, sich mit Markenbildung, Imagepflege, Preispolitik und Akquisition beschäftigen. Das erfordert eigene unternehmerische Kompetenzen, die mit den professionellen Kernkompetenzen nicht unbedingt viel zu tun haben. Es braucht viel, um erfolgreich zu sein, und es kostet Kraft und andere Ressourcen. Schon deshalb kann es sich rächen, wenn man diesem Teil professioneller Kompetenz wenig Beachtung schenken will.

Auch Unternehmensinterne können nicht unbedingt aufatmen, weil sie glauben, sich diesen Mechanismen nicht stellen zu müssen. Zum einen werden die Unternehmen zunehmend als Märkte begriffen, auf denen interne Kunden zu finden und zu bedienen sind. Durchlässiger werdende Unter-nehmensgrenzen stellen interne Anbieter immer häufiger in Konkurrenz zu externen. Immer öfter wird von internen Abteilungen verlangt, dass sie nach professionellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten mit Externen Schritt halten. Zum anderen schaffen Erwartungen, dass eigene Produkte und Dienstleistungen auch draußen auf dem Markt abgesetzt werden, andere Horizonte. Von internen Bildungsabteilungen wird z. B. erwartet, dass sie ihre Leistungen nach außen vermarkten oder sie tun dies auch aus eigenen Ambitionen. Denn hier mitzuspielen bringt Status und Privilegien und verändert die Bewährungskriterien der Internen. Die Markttüchtigeren steigen auf oder haben die Möglichkeit, immer mehr freiberuflich zu tun. Je nach Bereich muss auch mit Outsourcing gerechnet werden, von direkten Verdrängungswettbewerben bei Abbau und Fusionen ganz zu schweigen. Im Guten wie im Schlechten haben solche Entwicklungen nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch öffentliche Einrichtungen wie z. B. Hochschulen erreicht, in denen man Drittmittel einwerben oder auf bisher privaten Bildungsmärkten Umsatz machen soll.

Fazit: Marktwirtschaftlichen Prinzipien und Marktkompetenzen müssen sich fast alle stellen.

4.8.4 Netzwerkkompetenz

Erfolg hängt von persönlicher Leistungsfähigkeit und Vernetztheit ab. Dieses Prinzip ist gewiss nicht neu, hat aber neue Namen und neue Charakteristika.

Netzwerk steht als Begriff dafür, dass »die wichtigen anderen« nicht unbedingt im eigenen Fach, in der eigenen Abteilung oder in der Hierarchie des eigenen Unternehmens zu finden sind. Der Begriff »Value Network« bedeutet z. B., dass alle Instanzen einzubeziehen sind, die irgendwie für den Erfolg und Wertschöpfung durch ein Vorhaben wichtig sind. Dazu können andere Unternehmen, Kunden, komplementäre Marktpartner, aber auch öffentliche Einrichtungen gehören.

Die offenen Horizonte bringen die Chance und die Notwendigkeit, Terrains auszumachen und abzustecken, in denen man sich bewegen will. Andernfalls droht der Energiekollaps wegen inflationärer Vernetzung. Man muss ein Annäherungsverhalten an ungewohnte Partner lernen und herausfinden, welche man wie an sich binden kann und sollte und bei welchen das mehr Kraft kostet als es Nutzen bringt. Hierbei geht es um vielschichtige Austauschverhältnisse, die weit über direkt verrechenbare Leistungen hinausgehen. Man denke nur an den Nutzen von Co-Branding oder Verlinkung, neuere Formen von längst bekannten Gepflogenheiten wie gegenseitiges Zitieren in Medien oder Präsentieren auf Kongressen. Aber auch gegenseitige Inspiration, das Bilden von Zeitgeistgemeinschaften und persönlichen Sympathiegemeinschaften sind wichtige Dimensionen solcher Netzwerke. Aus Ökonomiegründen können diese Dimensionen nicht getrennt voneinander versorgt werden, sondern müssen zu einem oft schwer bestimmbaren Konglomerat verbunden werden. Gute Netzwerke bieten eine Netzwerkkultur, in der viele wirtschaftliche, gesellschaftliche und menschliche Bedürfnisse versorgt werden. Es ist eine der anspruchsvollen Gestaltungsaufgaben, Individualismus und Pluralismus mit Deutlichkeit in der Ausrichtung und Erkennbarkeit von außen zu kombinieren.

 

Netzwerke auszumachen, sich anzuschließen, lebendigen Austausch zu pflegen, der gleichzeitig der eigenen Sache zuträglich ist, sich zu positionieren, um mit wenig Aufwand an die attraktiveren Möglichkeiten zu gelangen, dabei aber solidarisch und zuverlässig zu handeln, gehören zu wichtigen Tugenden von erfolgreichen Netzwerkern.

Es ist leicht zu bemerken, dass viele Kompetenzen hierfür mit anderen hier schon besprochenen Kompetenzen identisch oder verwandt sind. Es geht ja auch nicht darum, für jedes Feld separate Kompetenzen zu erfinden, sondern unterschiedliche Perspektiven und Konfigurationen für umfassende professionelle Kompetenz zu beschreiben.

4.8.5 Sichtbarkeit und Originalität

Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut geworden. Täglich flattern Hochglanzprospekte und Infobroschüren auf den Tisch. Die Anzahl der Websites, über die Ideen propagiert und Dienstleistungen angeboten werden, ist unübersehbar. Internetforen und Newsletter laden zum Dabeisein ein. So angenehm es sein kann, als eingeführter Anbieter mit bestimmten Produkten in bestimmten Märkten stabil nachgefragt zu werden, so schwierig kann es sein, sich neu zu etablieren. Dies gilt in besonderem Maße für Neueintritte in Märkte. Sei es, dass man in vertraute Märkte mit neuen Produkten oder mit vertrauten Produkten in neue Märkte Eingang finden möchte. Am schwierigsten ist es, wenn Produkte und Märkte neu sind.

Insbesondere als neuer Anbieter und potenzieller Kooperationspartner muss man sich mit Kompetenzen und Produkten sichtbar machen, um von anderen Marktteilnehmern beachtet zu werden. Qualität allein reicht dafür nicht, es sei denn, es gelingt, irgendwie als »Geheimtipp« gehandelt zu werden. Doch müssen die meisten Newcomer normalerweise die Erfahrung machen, dass es mit einem weiteren Prospekt, einer weiteren Website oder Aussendung nicht getan ist. Was mit viel Sorgfalt und Hingabe produziert wird, bleibt ohne Resonanz.

Versuche, sich dem Markt genehm zu machen, indem großzügig Kompetenzen behauptet, Leistungen und Wirkungen versprochen sowie alle gängigen attraktiven Schlüsselworte benutzt werden, finden meist auch nicht mehr Beachtung. Was macht es dann aus, dass man Resonanz findet? In welchen Zeiträumen und bei wem, mit welcher Nachhaltigkeit kann man Reaktionen erwarten? Auf diese Fragen gibt es keine allgemeingültigen Antworten, weil jeder Markt, jedes Milieu hier seine eigenen Gesetze hat. Marktkompetenz – und etwas allgemeiner – Feldkompetenz ist hier gefragt.

Dennoch kann man Prinzipien nennen, die hilfreich sind, Aufmerksamkeit zu erlangen. Es muss gelingen, aus der Masse herauszuragen, am besten durch glaubwürdige Originalität. Irgendetwas muss durch die vorgezeigten Oberflä-chen hindurch rüberkommen, was bei anderen verfängt und in Erinnerung bleibt. Man muss anderen einfallen, wenn im entscheidenden Moment über mögliche Partner oder Mitwirkende gesprochen wird.

Das hierfür Entscheidende liegt auf einer emotionalen Ebene. Entweder gelingt es, Suchbewegungen und Sehnsüchte anzusprechen oder man konnte durch die Oberfläche hindurch Intuitionen über glaubwürdige besondere Profile und Kompetenzen wecken. Dazu kommt, dass die Empfehlenden die Erwartung haben, dass auch sie ihren Nutzen von der Empfehlung haben werden. Es reicht auch nicht unbedingt, einen Empfehlenden persönlich zu beeindrucken. Oft muss man diese Darstellungen zur Verfügung stellen, mit denen er andere überzeugen kann. So kann der überzeugte Personalentwickler im eigenen Unternehmen auf frostige Reaktionen stoßen, wenn er zu viel auf seine persönliche Begeisterung baut und nicht genügend auf angemessene Präsentation bei Entscheidern und Betroffenen achtet. Ein Problem ist, dass man selten differenziertes und aufrichtiges Feedback in diesen Dimensionen bekommt. Umso wichtiger ist eine gute Weiterbildung und sind professionelle Gemeinschaften, die eine achtungsvolle und offene Dialogkultur pflegen. Sie schließen solche Spiegelungen ein. Qualität ist dabei nicht ohne Weiteres dadurch herstellbar, dass solche Punkte auf die Agenda aufgenommen werden, sondern sie hängt vom Gesamtniveau der gepflegten Professions- und Lernkultur ab.

4.8.6 Sensibilität und Robustheit

Zur professionellen Kompetenz gehört zwischenmenschliche Sensibilität. Dies meint Aufmerksamkeit für eine Reihe von Dimensionen des Gegenübers. Der andere will sich als Persönlichkeit gewürdigt sehen und kann sehr verärgert werden, wenn er sich nur als Funktionsträger und Mittel zum Zweck gesehen fühlt. Gleichzeitig darf die Zuwendung nicht als Bestechungsversuch erlebt werden, um zu gewinnen, ohne dass fachliche Ansprüche oder die Würde des Amts beachtet werden. Menschen sind immer hungrig danach, als jemand gesehen zu werden, der sie selbst zu sein versuchen. Partner, die dies spiegeln und Zuversicht wecken, dass es mit ihnen zusammen in diese Richtung gehen kann, sind interessant. Schönrederei, Selbstgefälligkeit und Schmeichelei oder illusionäre Vorstellungen und unsolide Versprechungen helfen bei seriösen Partnern nicht, denn irgendeine Instanz in ihnen weiß, was stimmig ist und was nicht.

Es ist also wichtig, auf die Welt der Partner und Kunden feinsinnig und entgegenkommend zu reagieren. Damit man dabei aber nicht wie ein Grashalm im Wind und ohne Kontur erlebt wird, braucht man ein solides Selbstverständnis und eine gewisse Robustheit. Dies gilt sowohl für das Aushalten belastender Situationen nach innen wie auch das kraftvolle Auftreten nach außen. Es kommt schon vor, dass Auftraggeber oder Partner sich aus Unsicherheit oder Machtgewohnheit zu einem Stärkegebaren (Schmid 2004a, Kap. 1) aufschwingen. Dies kann leicht Angst und inneren Bewährungsdruck auslösen und an Sensibilität und Kraft zehren. Deshalb ist es auch wichtig, dass man lernt, für sich zu sorgen, d. h. sich seine Ängste einzugestehen und sie konstruktiv zu kontrollieren. Nach außen ist wichtig, einerseits durch kraftvolle Antworten Eindruck zu machen, andererseits nach Resonanz darauf dann differenziertere Töne anzuschlagen und sensiblere Seiten im Gegenüber anzusprechen. Beides allein hätte weniger Aussichten auf Erfolg.

Man braucht für die unternehmerischen Aspekte der eigenen Tätigkeit nicht nur eine relativ stabile Gesundheit, die man zu pflegen lernen muss, sondern eine gewisse Robustheit. d. h. die Fähigkeit, Enttäuschungen und Niederlagen zu ertragen, ohne überzureagieren. Auf der anderen Seite sollte man sich nicht von Begeisterungen wegschwemmen lassen, sondern mit den Füßen auf dem Boden bleiben und bei der Verwirklichung von Visionen durchhalten. Das heißt, Professionelle sollten sachlich stabil und in Beziehungen zuverlässig und fair bleiben können, auch wenn Belastungen zu ertragen sind oder man enttäuscht worden ist.


Abb. 1: Nachtkerzen

4.8.7 Weltläufigkeit und Bodenständigkeit

Eine weitere Dimension soll noch als Dualität beschrieben werden: Weltläufigkeit und Bodenständigkeit.

Da unsere Welt immer flexibler und internationaler wird, werden heute von Professionellen Fremdsprachen, Reisekompetenz, häufige Umgebungswechsel, eine Toleranz für Verzicht auf vertraute Umgebungen und ein bewegliches Auftreten in multikulturellen Umgebungen erwartet. Dementsprechend werden solche Kompetenzen erworben und dem Selbstbild hinzugefügt. Wie viel davon stimmig ist und welche Belastungen dadurch empfunden werden, kommt vielleicht zu selten zum Vorschein. Vielleicht ist das auch ein würdigt Lernprozess, der erst über Generationen tiefer greifend gelingt.

Wenn es um Vertrauen geht, spielen Informationen oder Intuitionen über den anderen eine Rolle, die eher in klassischeren, familiäreren, anfassbaren Dimensionen beschrieben sind. Sie sind hier bei aller Modernität unter dem Begriff »Bodenständigkeit« zusammengefasst. Viele wollen ein Gefühl dafür haben, wie es wäre, den anderen als Hausgenossen, als Sportkamerad, als Partner in einer gemeinsamen Unternehmung oder als Freund zu haben. Sie suchen einzuschätzen, wie er sich zu seiner Herkunft, zu seinen bisherigen Weggefährten, zu seinen Nachfolgern oder zu seinem gegenwärtigen Lebens-milieu stellt, ganz nach dem Motto: »Sage mir, wo du dich beheimatest und für wen du wichtig sein willst und ich sage dir, wer du bist (für mich sein kannst)!« All das ist vielleicht ein indirekter Versuch, einzuschätzen, was man für sich selbst und die gemeinsame Sache vom anderen zu erwarten hat.

Doch auch für einen selbst kann die Rückbindung an die eigene Herkunft, die Verbundenheit mit dem Lebensumfeld, die Würdigung von allem, was dazu beigetragen hat, was man geworden ist, eine wesentliche Grundlage für professionelle Identität sein. Es ist, als würde die eigene Persönlichkeit von einer Hülle umgeben, die sie stabilisiert und aus dem Hintergrund nährt. Wer würdigt, woher er kommt und wohin er gehört, hat die substanzielle Freiheit, sich in die Zukunft zu bewegen. In vielen Fällen lohnt es, sich mit seinen Wurzeln zu beschäftigen, gerade wenn man sich unterwegs verliert oder ein besonders gutes Fundament für hoch und weit strebende Äste braucht.

4.8.8 Kulturkompetenz und die Metaperspektive

Man kann viele der oben dargestellten Kompetenzen unter dem Begriff »Kulturkompetenz« zusammenfassen. Darunter verstehen wir – pauschal gesprochen –, sich in einer hochwertigen Professions- und Organisationskultur bewegen und sich wohlfühlen zu können. Darüber hinaus bedeutet dies, Vorstellungen zu haben, warum und wie Not leidende Kultur wieder verbessert werden sollte.

Nimmt man die Sprache als Vergleich, dann ist es schon beeindruckend, wenn jemand eine lebendige, differenzierte, das Wesentliche unterhaltsam fassende Sprache sprechen kann. Andere profitieren davon, wenn sie sich auf die Kultur dieser Sprache einlassen. Kultur steckt an und ist letztlich nur durch Kultur zu vermitteln. Sprachlich Versierte beherrschen ihre Grammatik, ohne die grammatischen Regeln nennen zu können, verstehen die Bedeutungsräume der Worte, ohne sich mit Semantik zu beschäftigen. Will man Sprache nicht nur leben und nutzen, sondern zunehmend bewusst gestalten, anderen beibringen und Sprachkultur pflegen und bewahren, dann kann man sich zusätzlich mit Grammatik, Semantik und anderen Beschreibungsdimensionen für Sprache beschäftigen. Man wird vom versierten Nutzer zusätzlich zum Sprachspezialisten.

Ähnlich kann man sich das bei Professionskultur und Organisationskultur vorstellen. Kulturkompetenz bedeutet einerseits, kompetent an Kulturen teilnehmen zu können, andererseits die Fähigkeit, Kulturen von einer Metaperspektive aus zu beschreiben und als eigene Dimension zu gestalten.

4.9 Wieslocher Kompetenzformel

Will man die verschiedenen Kompetenzkomponenten miteinander verknüpfen und auf eine Formel bringen, so könnte man definieren:

Professionelle Kompetenz =

Rollenkompetenz x Kontextkompetenz x Passung.

Rollenkompetenz und Kontextkompetenz sind Begriffe aus unserer Theatermetapher (Schmid 2003, Kap. 3.2.2.). Rollenkompetenz meint die Fähigkeit, verschiedene Rollen einzunehmen und kompetent auszugestalten. Kontextkompetenz meint die Fähigkeit, die Aufführungen, in denen die Rollen zu spielen sind, zu begreifen, darin kontextförderlich zu spielen und damit die Gesamtinszenierung zu erleichtern.

Die multiplikative Verknüpfung weist darauf hin, dass die Gesamtkompetenz durch jeden einzelnen Kompetenzbereich vervielfacht erhöht oder gemindert wird. Die Verbesserung einer schwachen Kompetenzkomponente bringt daher viel mehr als der Ausbau einer starken. Umgekehrt begrenzt eine schwache Komponente die Gesamtkompetenz viel entscheidender als der Blick auf die starken Komponenten vermuten lässt.

Die Kompetenzformel macht von vornherein deutlich, dass Kompetenz nur begrenzt eine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern viel mit dem Umfeld zu tun hat.

Kompetenz hat eben auch damit zu tun, welches Rollenrepertoire man kennt bzw. beherrscht (Rollenkompetenz) und damit, ob man sich in Themen, mit Inszenierungen und auf Bühnen auskennt, in denen diese Rollen zu spielen sind (Kontextkompetenz). Darüber hinaus kommt es darauf an, dass die eigene Art, sich in seinem Repertoire auszudrücken und zu bewegen, zu den Anforderungen und Stilen der jeweiligen Umgebungen passt.

 

Bei Passung geht es darum, wie der Professionelle zum Unternehmensstil und zur Organisationskultur bzw. zu dem dort vorherrschenden Führungsstil passt. Eine wichtige Passungsdimension ist die Frage, ob die Mitwirkung und die damit verbundene Entwicklungsmöglichkeit der Seele des Professionellen Sinn machen. Manchmal hat sich das Sinnpotenzial so erschöpft, dass die Kompetenz nicht mehr zum Tragen kommt. Es kostet dann immer mehr Kraft, sich dennoch zu motivieren und auch andere spüren, dass das seelische Kraftfeld (Schmid/Hipp 2002) seine gestaltende Wirkung verliert. Wenn solche Stimmigkeiten verloren gehen, organisieren sich die Prozesse durch intuitives Zusammenspiel immer weniger konstruktiv. Dies gilt nicht nur in überschaubaren sozialen Situationen, sondern es geht auch um die Passung zu bestimmten Märkten oder beruflichen Vereinigungen, Milieus, Zeitströmungen etc.

Allerdings soll hier nicht jeder An-Passung das Wort geredet werden, denn oft lebt eine kreative Zusammenarbeit ja von den irritierenden bis inspirierenden Unterschieden. Auch soll nicht jeder zum professionellen Zehnkämpfer ausgebildet werden und möglichst in allen Disziplinen einen schwarzen Gürtel tragen. Oft ist es gerade die Besonderheit eines Anbieters, eine spezifische Qualität, die sonst nicht leicht zu finden ist, die den Marktwert ausmacht. Aber irgendetwas muss auch passen, sonst kommt ein Zusammenspiel nicht zustande oder eine erste Begeisterung bleibt ein Strohfeuer. In jedem Falle lohnt es sich, die eigenen Profile aus vielen relevanten Perspektiven näher zu studieren und bei Bedarf zu ergänzen.

Wie leicht zu bemerken ist, sind in der Wieslocher Kompetenzformel die einzelnen Dimensionen nicht allgemeingültig gefüllt oder präzise voneinander unterschieden. Wie bei vielen der ISB-Konzepte geht es nicht um präzise Bestimmungen der bezeichneten Wirklichkeit (zur Unterscheidung von randscharfen und kernprägnanten Definitionen s. Schmid 2004b), sondern um die Errichtung einer Betrachtungsperspektive, die bestimmte Überlegungen nahe legt. Man sollte eher intuitiv verstehen, welche Betrachtungen man mit welchem Konzept anstellen könnte und dann frei sein, dieses auf spezifische Situationen anzupassen.

Die Kompetenzformel legt so z. B. Wert auf die Frage der Gesamtoptimierung und der Orchestrierung von Kompetenzaspekten. Außerdem transportiert sie die Implikation, dass Kompetenz als Beziehungsphänomen verstanden werden sollte. Kompetenz im Markt ist die vom Markt erkannte und positiv beantwortete Kompetenz. Als Konsequenz liegt auf der Hand, dass die jeweiligen Systeme, auf die bezogen über Kompetenz nachgedacht wird, von vornherein einbezogen werden.

Auch gilt, dass nicht alle Dimensionen gleichzeitig berücksichtigt werden können. Dies würde zu Erklärungssystemen führen, die für den praktischen Umgang zu kompliziert wären. Daher werden Dimensionen von Kompetenz im Folgenden hintereinander erläutert.

4.10 Professionelle Persönlichkeitsentwicklung

In Fragen der Professionalität ist heute eine gewisse marktwirtschaftliche jeweiligen angesagt. Anders kann man als nicht subventionierter privater Marktteilnehmer auch nicht bestehen. Ohne ein Verständnis von Marktwirtschaft und Unternehmertum wären Professionelle auch zu weit von Organisationen und Unternehmen, denen sie ihre Dienste anbieten, entfernt. Dennoch kann gleichzeitig der Mensch mit seinen existenziellen Fragen der Lebensgestaltung im Vordergrund stehen und beide Anliegen können miteinander verbunden werden.

Viele Menschen sind mehr als früher mit ihrer persönlichen Entwicklung beschäftigt, also mit den Lebensprozessen, über die sie die einzigartige Persönlichkeit verwirklichen können, die in ihnen steckt. Diesen Prozess und Entwicklungsweg nennt die Jung’sche Psychologie Individuation. Soweit sich Individuation auf die Welt der Berufe und der Organisationen bezieht, sprechen wir von professioneller Individuation (den Begriff verdanke ich meinem Kollegen Joachim Hipp). Dieser Frage wollen wir später einen größeren Raum einräumen (s. Kap.5.-7.).

4.11 Persönliche Orientierung

In diesem Kapitel sind wir genauer auf das Unternehmen »Beruf« und die dafür notwendigen Kompetenzen eingegangen. Wir wollen Ihnen jetzt wieder die Möglichkeit geben, das eben Aufgenommene probeweise auf die eigene Situation anzuwenden.

Achtung: Nehmen Sie Ihre Überlegungen nur als situative Momenteinschätzung. Die Kompetenzformel ist keine objektive mathematische Formel. Bei der Beurteilung der professionellen Kompetenz hängt es ja auch davon ab, welche Fragen man an Sie stellt und welche Situationen man dabei berücksichtigt. Dennoch können Ihnen Ihre Überlegungen wichtige Anregungen für die Praxis vermitteln und vielleicht sind sie ein (erneuter) Anlass, sich wieder einmal Rückmeldung von anderen einzuholen. Denn die Beurteilung von Kompetenz ist, wie gesagt, auch eine Frage der Perspektive.