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Einige Jahre später zerstach ich der nächsten Frau, die es wagte, mich wegen eines anderen zu verlassen, die Autoreifen und drohte meinem Nachfolger Prügel an. Auch wenn mich in solchen Momenten beständig mein schlechtes Gewissen plagte, stellte ich meinen Jähzorn und mein cholerisches Temperament nie in Frage. Männer, ganze Kerle, das hatte ich nicht nur in meinen Büchern gelernt, waren eben so. Meine Ohnmacht und Angst dagegen passten nicht in mein Männerbild.

Nicht lange nachdem Brigitte mich verlassen hatte, entdeckte ich das Paradies. Zu der Zeit lebte ich zusammen mit Wolfgang, einem Freund, in einer Dreizimmerwohnung in Aachen und studierte Germanistik und Sport. Nach meinem Abitur hatte ich zunächst ein Jurastudium in Köln begonnen, was sich als großes Missverständnis herausgestellt hatte. Ich hielt nur bis zum kleinen BGB durch. Für Jura hatte ich mich entschieden, nachdem ich Billy Wilders Film »Zeugin der Anklage« mit Marlene Dietrich gesehen hatte. Vor allem Charles Laughton als Strafverteidiger hatte mich sehr beeindruckt, seine Eloquenz und Brillanz, wie er elegant im Rededuell mit dem Staatsanwalt focht, Sätze wie ein Florett. Mir schien, vor Gericht ging es weniger um Recht und Unrecht als vielmehr um den verbalen Wettstreit zweier kluger, scharfzüngiger Köpfe. Das gefiel mir. Eine Rolle, die mir meiner Meinung nach gut zu Gesicht stehen würde.

Die Realität sah natürlich anders aus. Das Studium war fade Paragraphenpaukerei, meine Mitstudenten waren erzkonservative Golf-GTI-Fahrer mit Seitenscheitel, Lodenmantel und Aktenkoffer, wir nannten sie Großstadtförster. Rücksichtslose Karrieristen aus der Jungen Union oder von den Jungliberalen, für die Freiheit nur die Freiheit der Stärkeren bedeutete. Ein fremdes Universum, dem ich mich nicht zugehörig fühlte. Im Gegenteil – ich war links, las Lenin und Marx und sympathisierte mit der RAF. Auf meinem Käfer prangte ein »Atomkraft? Nein danke«-Aufkleber, und an meiner Zimmertür stand »Für Bullen verboten«. Nächtelang diskutierten meine Freunde und ich voller Furor über ein anderes, bewussteres, gerechteres Leben. Bei Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss warf ich Farbbeutel auf Polizisten. Zugegeben, es war nicht nur politische Überzeugung, die mich motivierte. Mich reizten auch die Auseinandersetzung, der Trubel, die Aufregung. Mir gefiel es, dem Staat auf die Füße zu treten, in gewisser Weise meine postpubertären Muskeln spielen zu lassen. Dazu kam, dass sich in den linken Kreisen und bei den Demonstrationen häufig ausnehmend hübsche junge Frauen engagierten.

Wolfgang, meinen WG-Mitbewohner, hatte ich kurz nach der Trennung von Brigitte kennengelernt. Eines Abends saßen wir zusammen in einer Kneipe und beschlossen beim Bier, dass uns eine Luftveränderung guttun würde. Möglich, dass Wolfgang mein ausgestelltes Trennungsleid satt hatte und mich auf andere Gedanken bringen wollte. Zumal er, der sich zuverlässig in Frauen verliebte, die nicht einmal seine Existenz zur Kenntnis nahmen, der Meinung war, ich hätte kein Recht, mich zu beschweren. Aachen war zu dieser Zeit ein Stahlbad für testosterongesteuerte, paarungswillige junge Männer. An der größten Uni der Stadt, der TU, kam ungefähr eine Studentin auf hundert Studenten, der Männerüberschuss war also enorm, das Angebot an potentiellen Partnerinnen gering. Wer sich, wie Wolfgang, stets in die umschwärmtesten Mädchen verliebte, hatte denkbar schlechte Karten. Ein Grund mehr, Aachen den Rücken zu kehren.

Nur mit einem Schlafsack, einer Jeans, einer Badehose, drei T-Shirts und Unterwäsche im Gepäck machten wir uns auf die Reise nach Kreta. Zelte oder Rucksäcke waren für Spießer und Neckermanntouristen. Von Hotelzimmern ganz zu schweigen. Schon die Überfahrt mit der Fähre war eine Offenbarung für mich, wir schliefen an Deck, jemand packte seine Gitarre aus, wir teilten unser Bier und unser Essen mit Menschen, die wir gerade erst kennengelernt hatten, als die Sonne aufging, zeigte sich die Silhouette der Insel im Licht des neuen Tages. Konnte das Leben tatsächlich so schön sein?

Kreta erschien mir als Sehnsuchtsort. Wir schliefen in einer Bucht in der Nähe von Paleochora im warmen Sand, das Letzte, was wir hörten, war das Plätschern der Wellen und das Zirpen der Grillen, am Morgen weckte uns die Sonne, über uns der weite blaue Himmel. Ein kleiner Wasserlauf brachte kaltes, klares Trinkwasser aus den Bergen. Ich genoss die Wärme, hatte meist nur eine Badehose oder eine Jeans mit abgeschnittenen Hosenbeinen an. Am Strand trug ich, wie auch die Frauen dort, gar nichts. So etwas hatte ich noch nie erlebt, nackte Frauen, zum Greifen nahe. Wie gesagt, ich war im Paradies angelangt. Wir ließen uns treiben, schwammen im Meer, kifften am Strand, spielten Blitzschach oder maßen uns beim Armdrücken. Da ich durch das Handballtraining über große Schnellkraft verfügte, gewann ich beinahe jedes Mal, sogar gegen Kerle mit Armen wie Baumstämme. Damit machte ich bei den Kretern großen Eindruck.

In der Nähe der Bucht gab es eine kleine Bar, dort aßen wir Joghurt mit Honig und Nüssen zum Frühstück und tranken abends Retsina und Ouzo. Am Alkohol hatte ich mittlerweile Geschmack gefunden, nicht zuletzt, da einige meiner Studentenfreunde eine Vorliebe für erlesene Weine hatten. Eine Flasche Rotwein gehörte zu einem guten Essen selbstverständlich dazu, eine Art Genussverstärker. Im Jahr zuvor waren Wolfgang und ich zusammen mit Freunden zur Weinernte an die Ardèche gefahren, hatten Trauben gepflückt, im Fluss gebadet und den Tag mit einer Flasche Wein ausklingen lassen. Eine traumhafte Zeit.

Ich war gerne unter Menschen, fühlte mich wohl, wenn ich Teil einer Gruppe war, umgeben von Gesprächen und Gelächter. Für die Zuschauerplätze am Rand war ich nicht geschaffen, ich wollte mittendrin sein, den Takt mitbestimmen, die Gespräche mitgestalten, für Stimmung sorgen, lachen, dumme Sprüche machen, mich streiten und versöhnen. Alkohol als soziales Schmier- und Bindemittel kam mir da sehr gelegen. Bier, Wein und gelegentlich ein Schnaps machten mich locker und beseitigten wie schon bei meinen ersten Knutscherlebnissen verlässlich alle Unsicherheiten. Ich war Animateur und Unterhalter, hätte ich in einem vergangenen Jahrhundert gelebt, ich wäre wohl der Geschichtenerzähler oder eher noch der Gaukler auf dem Marktplatz gewesen. Dass es immer genügend Schnarchnasen gab, die froh waren, wenn sie sich zurücklehnen konnten und unterhalten wurden, bestärkte mich in meiner Rolle.

Wenige Tage nach unserer Ankunft auf Kreta hatten wir uns mit dem Besitzer der Bar und einigen einheimischen Stammgästen angefreundet. Wir gehörten zum inneren Kreis. Waren wir besonders gelöster Stimmung, warfen wir die leeren Ouzo-Gläser an die Wand, über die Köpfe der Touristen hinweg. Wir fühlten uns nicht mehr als Besucher, wir gehörten hierher. Der Ouzo, das Werfen der Gläser war ein Ritual, das uns als Gruppe verband, ein Ausdruck von Lebensfreude und Virilität. Eine Szene wie aus einem Hemingway-Roman, großartig! Dazu kam, dass ich nach kurzer Zeit registrierte, dass ich bei den Urlauberinnen ganz gute Chancen hatte – Anfang zwanzig, groß, blond, durchtrainiert und braungebrannt, wie ich war. Ich hatte einige Affären; da die Urlaubsgäste ständig wechselten, war für Nachschub gesorgt. Darunter waren auch uralte Frauen, also über dreißig, was mir sehr gefiel. Sie hatten Erfahrung, von ihnen konnte ich einiges lernen. In Sachen Sex war ich eher ein Spätstarter, doch jetzt nahm mein Sexleben langsam die Form an, die ich mir immer erträumt und zu Beginn meiner Beziehung zu Brigitte lediglich behauptet hatte. Alles in allem eine großangelegte Renovierung meines Selbstwertgefühls, mein durch die Trennung angeschlagenes Ego erholte sich prächtig. Mein Leben war also doch noch nicht zu Ende.

Eines Morgens nach dem Aufwachen war das Paradies rosa. Über allem lag ein rosa Schimmer, über dem Strand, dem Meer, den Menschen, meiner Haut. Aber das hatte nichts Romantisches: In der Nacht zuvor war es nicht beim Wein und bei drei oder vier Ouzo geblieben, ich hatte im Überschwang eine ganze Flasche geleert. Ich erschrak fürchterlich. Der Ouzo hatte mir nachhaltig die Sinne getrübt, ich konnte meiner Wahrnehmung nicht mehr vertrauen. Das war mir noch nie passiert. Irgendwann verblasste das Rosa, und ich beschloss, daraus meine Lehre zu ziehen und in der nächsten Zeit den Ouzo zu meiden. Für den Rest des Urlaubs trank ich nur noch Raki.

Cognac, Satz und Sieg

An einem kühlen Herbsttag des Jahres 1986 saß ich in einem Café auf dem Gelände des Open-Air-Tennisparks in Kaarst, und meine Nerven liefen Amok. In einigen Minuten sollte es so weit sein, der Moment, auf den ich in den letzten Monaten akribisch hingearbeitet hatte. Dem ich entgegenfieberte. Als erster deutscher Fernsehjournalist sollte ich ein Exklusiv-Interview mit dem Tennisspieler John McEnroe für die »Sportschau« führen. Mit dem Mann, der in der ersten Hälfte der achtziger Jahre das Herrentennis dominierte und dessen epochale Duelle mit Björn Borg mein Bruder und ich angespannt am Fernseher verfolgt hatten. Ein begnadeter Tennisspieler und für mich ein charismatischer Held. Einer, der mit seiner cholerischen Art immer auch polarisierte, mit Wutausbrüchen auf dem Court, denen häufig sein Schläger zum Opfer fiel, mit Beschimpfungen von Gegner, Schiedsrichter und Balljungen. Nicht zuletzt diese Mischung aus großem Talent und enthemmtem Kontrollverlust faszinierte mich. McEnroe war mein Idol, anders als der stets kühlbeherrschte Björn Borg, dessen Spiel ich bewunderte, der mir aber als Charakter fremd blieb. In McEnroes Spiel und Persönlichkeit erkannte ich etwas Rauschhaftes, Exzessives, das mich in seinen Bann zog und dem ich mich verbunden fühlte. Er fügte sich nahtlos in meine Heldengalerie ein.

Dieses Interview war zudem von großer Bedeutung für meine noch junge Karriere als Filmemacher. Trotz meines Bemühens, die Studentenzeit ins Unendliche auszudehnen, ohne allzu viel Zeit mit dem lästigen Studieren verschwenden zu müssen, war das Ende irgendwann absehbar gewesen. Ich studierte Germanistik, Sport und Erziehungswissenschaften auf Lehramt, aber dass ich nicht Lehrer werden wollte, war mir bald klar. Mein Studium lief mehr oder weniger ins Nichts. Die Hausarbeit für das erste Staatsexamen schrieb ich fast vollständig im Freibad, wozu mich groß anstrengen? Ich war 28 Jahre alt und ratlos, wie mein Leben weitergehen sollte.

 

Carlo war zu dieser Zeit schon sehr erfolgreich als Hochspringer, 1983 hatte er bei den Halleneuropameisterschaften in Budapest die Höhe von 2,34 Metern übersprungen und die Goldmedaille errungen. Er verfügte über immenses Talent und eine beeindruckende Trainingsdisziplin, bei aller brüderlichen Konkurrenz war mir schnell klar geworden, dass ich ihm auf diesem Gebiet hoffnungslos unterlegen war.

Meinem Bruder verdankte ich meinen ersten Kontakt zum Fernsehen. 1984 lernte ich einen TV-Journalisten kennen, der ihn für die »Sportschau« porträtierte. Nikolaus Roetz war selbständig, Kameramann, Cutter und Produzent in Personalunion mit kleinem Ü-Wagen; eine sogenannte Rucksack-Produktionsfirma, die fertig geschnittene Beiträge an die Sportredaktionen der Sender lieferte. Er erkannte meine Begeisterung für den Sport und den Journalismus und bot mir, dem Laien und Langzeitstudenten, einen Job in seiner Firma BFF an. Sogar mit guter Bezahlung, ein Lottogewinn für mich. Ein Jahr zuvor hatte ich neben dem Studium in einer Druckerei Nachtschicht geschoben, zwölf Stunden am Stück geschuftet für zehn Mark in der Stunde, jetzt verdiente ich als Berufsanfänger 4000 Mark im Monat, ohne dass ich schmutzig wurde und allzu sehr ins Schwitzen geriet. Eine neue Welt öffnete sich, eine Perspektive.

Wenige Wochen, nachdem ich den Job angenommen hatte, stand ich mit wild klopfendem Herzen und zittrigen Beinen im Redaktionsgebäude des WDR, in der Hand meine ersten eigenen Exposés für zwei Beiträge, die ich dem zuständigen Redakteur der Sendung »Sport im Westen« anbieten wollte. Schon das imposante Gebäude hatte mich eingeschüchtert, auf den Gängen sah ich Gesichter und hörte Stimmen, die ich bisher nur aus dem Fernsehen und Radio kannte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte mich vor: »Mein Name ist Bernd Thränhardt von der Firma BFF, ich möchte zu Herrn Selge wegen einiger Themenvorschläge.«

Manfred Selge, der zuständige Redakteur, las meine Exposés, ich konnte kaum stillsitzen vor Anspannung. Möglich, dass er meine Ideen verächtlich abschmettern würde. War es nicht vermessen, gar größenwahnsinnig von mir, dem ahnungslosen Anfänger, mit meinen halbgaren Ideen hier aufzutauchen und tatsächlich einen Auftrag zu erwarten? Als es am Ende hieß »Das liest sich interessant, das machen wir«, konnte ich mein Glück kaum fassen. Als mein erster Kurzfilm gesendet und mit den Worten »Ein Beitrag von Bernd Thränhardt« angekündigt wurde, fühlte ich mich, als seien mir Flügel gewachsen. Ich war der König der Welt. Oder zumindest auf dem Weg dorthin.

In den ersten Jahren fand ich meine Themen meist in meiner Umgebung – ich porträtierte einen Eifeler Lokalhelden, den Motocross-Fahrer Rudi Scheen, die Aachenerin Claudia Ostländer, die zu der Zeit als einzige Fahrerin die Rennfahrer-Szene aufmischte, und berichtete in einem großen Feature über die »Bunte Liga«, den Versuch, eine Art alternative studentische Fußballliga in der Region zu initiieren. Die »Bunte Liga« war dann auch Thema meines Staatsexamens. Kurz darauf verließ ich die Uni ohne Wehmut.

Ich arbeitete wie im Rausch, viele Stunden täglich, experimentierte mit Schnitten und Montagen, wie ich sie aus Musikvideos kannte. In der Welt der Sportfilme waren diese Techniken noch neu. Die ersten guten Kritiken gaben mir zusätzlich Auftrieb. Eine Mutter schrieb mir, sie habe zusammen mit ihrem Sohn, dem nach einem Unfall ein Bein abgenommen werden musste, meinen Beitrag über den einbeinigen Weit- und Hochspringer Gunther Belitz gesehen. Der Film habe ihrem Sohn neuen Lebensmut gegeben.

In solchen Momenten sah es so aus, als könne meine Arbeit einen Sinn jenseits der Quote und der Suche nach Anerkennung haben. Filme machen zu dürfen, in Eigenregie und über Themen und Menschen, die mich interessierten, empfand ich als Privileg. Alles lag in meiner Hand, von der Idee über die Gestaltung und den Ton bis zum Schnitt. Ich sah mich als ein zeitgenössischer Geschichtenerzähler.

Viel Zeit und Energie investierte ich in den Dreißig-Minuten-Film »Hoch fliegen, tief fallen« für den ZDF-»Sportspiegel«, ein Doppelporträt der besten deutschen Hochspringer dieser Zeit, meinen Bruder Carlo und seinen Freund, den Olympiasieger Dietmar Mögenburg. Damals hatte die Leichtathletik begonnen, sich zu professionalisieren. Die Dreharbeiten nahmen ein Jahr in Anspruch. Ich hatte dem Film ein Zitat von Elias Canetti vorangestellt: »Wie lange muss man sagen, wer man ist, bis man es wirklich wird?« Diese Frage nach der eigenen Identität, dem Prozess der Veränderung und Selbstfindung, hat mich lange beschäftigt. Für mich bedeutete es vor allem: Werde der, der du im tiefsten Inneren bist, lebe nicht fremdbestimmt an dir selbst vorbei.

John McEnroe spielte in einer anderen Liga als meine bisherigen Protagonisten. Beinahe ein Jahr hatte es gedauert, bis ich seine Zusage bekam, ich hatte mich regelrecht in dieses Projekt verbissen. Das erste Interview mit dem Weltstar im deutschen Fernsehen war ein Coup, der meine Position bei den Sportredaktionen und in der neuen Produktionsfirma, für die ich mittlerweile arbeitete, stärken würde. Diese Chance durfte ich mir nicht verderben.

Kurz vor dem Interview wurde die Anspannung unerträglich. Mein Puls raste, meine Finger zitterten, Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Sicher, in so einer Situation aufgeregt und angespannt zu sein ist nicht nur normal, es kann sogar motivieren, die Sinne und die Konzentration schärfen. Aber nicht diese Art der Nervosität, sie war unkontrollierbar, alles beherrschend, destruktiv und belastend. Unmöglich, in diesem Zustand ein Interview zu führen!

Ich ging an die Bar des Cafés, bestellte einen doppelten Cognac und kippte ihn mit einem Schluck hinunter. Nach wenigen Augenblicken breitete sich die Wärme des Alkohols in meinem Magen aus und dämpfte meine Nervosität und die Angst vor dem Versagen. Mein Puls normalisierte sich halbwegs, und meine Hände gehorchten mir wieder. Jetzt war ich einsatzfähig.

Das Interview wurde ein Erfolg. Wir sprachen über Wut, seine Liebe zur Literatur und seine deutschen Wurzeln. Am Ende bedankte sich John McEnroe für das angenehme Gespräch und lud mich zum Essen ein. Als der Beitrag schließlich in der »Sportschau« lief und in verschiedenen Zeitungen ausführlich zitiert wurde, wuchs ich vor Stolz einige Zentimeter. Die Freude an der Arbeit und meiner Leistung berauschte mich stärker als der Cognac. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, den Alkohol als Problem zu sehen, im Gegenteil, er war Teil der Lösung: ein Baustein meines Erfolges, ohne den ich der Situation wohl nicht gewachsen gewesen wäre.

Hoch fliegen

Carlo sah mich mit glasigem Blick an. »Meinst du, ich kann das schaffen?« Er saß in kurzer Sporthose und ärmellosem Hemd auf der Holzbank in der Umkleidekabine der Sporthalle der Hauptschule Simmerath. Die Anspannung ließ ihn zittern, Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper, einem Erstickenden gleich zog er an seiner Zigarette. 1,97 Meter pure Emotion, auf mich wirkte er wie eine Art archaisches Wesen, roh, aufgewühlt, ungeschützt – ein zwei Meter großer Embryo. »Klar schaffst du das. Du gehst jetzt da raus und springst«, sagte ich. Die Latte lag auf 2,40 Meter, 1987 eine Demarkationslinie des Hochsprungs. Ein Sprung über diese Höhe war bis zu diesem Tag, dem 16. Januar 1987, noch niemandem gelungen, der Weltrekord.

Seit drei Jahren organisierten wir an einem Januarwochenende das Hochsprung-Meeting Simmerath. Alles hatte mit einer Party begonnen, die Carlo 1983 zusammen mit seiner Familie und befreundeten Hochspringern feiern wollte. Als absehbar war, dass sich tatsächlich eine große Zahl an Topathleten unter den Gästen befinden würde, beschlossen wir spontan, der Feier ein Springen in der örtlichen Sporthalle voranzustellen. Mittlerweile zog die Veranstaltung – möglicherweise auch die inzwischen legendäre Party im Anschluss – alljährlich die Hochsprungerelite in unser kleines Eifeldorf. Alle kamen: die deutschen Topspringer Dietmar Mögenburg, Gerd Nagel und Ralf Sonn, der Schwede Patrik Sjöberg, die Amerikaner Dwight Stones und Jerome Carter, der polnische Olympiasieger Jacek Wszoła, der Russe Rudolf Powarnizyn und Javier Sotomayor aus Kuba, der den Hochsprungweltrekord zwei Jahre später auf 2,43 Meter schrauben und vor den Olympischen Spielen 2000 wegen Kokaindopings gesperrt werden würde. Ihm mussten wir seine Antrittsgelder in bar aushändigen, unbemerkt von seinem Trainer und Betreuer. Sonst wäre er, wie im kommunistischen und diktatorisch regierten Kuba üblich, gezwungen gewesen, das Geld seinem Verband auszuhändigen. Also falteten wir die Geldscheine so klein wie möglich, verbargen sie in der Handfläche und übergaben sie ihm heimlich bei der Begrüßung.

Schon das Springen selbst war eine große Party. In der Sporthalle herrschte Diskothekenlautstärke, jeder Springer lief zu seiner persönlichen Begleitmusik an. Das Meeting war ein Familienprojekt, meine Eltern verschickten die Einladungen, Carlo rekrutierte die Athleten, meine Freundin entwarf die Plakate. Meine Aufgabe war es, gemeinsam mit Carlo im Vorfeld Sponsoren zu finden und vor allem die Halle und das anschließende Fest vorzubereiten und für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu sorgen. Ich war für jede Heftklammer, jedes Lautsprecherkabel, jeden Stuhl und jede Werbebande verantwortlich, verlegte mit Hilfe von Freiwilligen, die ich im örtlichen Sportverein rekrutiert hatte, die Matten und sorgte für den Aufbau der Sprunganlage. Viel Zeit blieb dafür nicht, der Umbau der Halle musste in einem Tag und einer Nacht vonstattengehen. Ich arbeitete unter Hochdruck. Alles sollte perfekt sein.

Der Wettkampf in seinem Heimatdorf, vor den Augen seiner Familie, hatte die Nerven meines Bruders aufs Äußerste strapaziert. Wenige Stunden vor Beginn des Springens hatte er unter Fieberschüben gelitten und sich noch geweigert, sein Bett zu verlassen. Seine Anspannung übertrug sich auf uns. Mein Vater verließ die Halle, noch bevor Carlo anlief. Er fuhr in die nächste Kneipe und genehmigte sich ein Bier und einen Schnaps zur Entspannung.

Ich fieberte mit meinem Bruder. Sah, wie er die Laufbahn betrat. Und zunächst stockte, mit wütendem Blick in die Runde sah. Meine Freundin hatte versehentlich die falsche Musik eingelegt, ein Sakrileg. Als dann die ersten Töne von Europes »The Final Countdown« aus den Boxen dröhnten, versank er in sich selbst, sein Gesicht eine Maske vollständiger Konzentration. Er lief an. Dieses Mal würde er es schaffen, der Rekord würde fallen. Dessen war ich mir schon bei seinen ersten Schritten sicher. Tatsächlich, er übersprang die 2,40 Meter im ersten Versuch, überwand als erster Mensch diese magische Grenze. Laut schreiend riss er die Arme hoch, tobte wie ein Derwisch durch die Halle. Ich rannte auf ihn zu, riss ihn in meine Arme. Er war aufgelöst und fassungslos, beinahe verstört, konnte das Glücksgefühl kaum verarbeiten. Mir ging es ähnlich. Mein kleiner Bruder war Weltrekord gesprungen. Er war jetzt einer von denen, die wir früher gemeinsam im Fernsehen bewundert hatten, Sportler, die in einer anderen Welt zu existieren schienen. Es war schier unfassbar. Auf diesen Augenblick schien alles in seinem Leben hingelaufen zu sein.

In diesem Moment fühlte ich mich meinem Bruder tief verbunden. Ich sah den erwachsenen Athleten und gleichzeitig den kleinen Kerl, den ich als Dreijähriger auf der Ladefläche meines Plastiktraktors transportiert hatte. Den Jungen, mit dem ich in unserem Garten um die Wette gelaufen war, den Teenager, an dessen Seite ich Handball gespielt hatte. Carlo, der Schulverweigerer, mein sensibler, schüchterner Bruder, hatte seinen Platz in der Welt gefunden, mehr noch, er hatte es dort bis ganz nach oben geschafft, in jeder Hinsicht. Das vor allem löste eine wilde Freude in mir aus.

Die folgende Party war so himmelstürmend wie die Sprünge zuvor. In großer Runde aßen und tranken wir in einer Gaststätte im Nachbarort, im Anschluss feierten wir im engen Kreis im Haus meiner Eltern weiter. Die Stimmung war ausgelassen und euphorisch, ein Gewirr unterschiedlicher Sprachen erfüllte den Raum, aber jeder schien jeden zu verstehen, alle Grenzen waren verschwunden, Herkunft, sportliche Konkurrenz, nichts davon spielte mehr eine Rolle. Wir waren Freunde, Familie, lachten und tranken. Ich schwebte durch den Raum, genoss die Wärme, die Nähe, das Miteinander, den Zusammenhalt, flog einer Flipperkugel gleich von einem zum anderen. Meine gute Laune warf ich in vollen Händen wie Kamelle unter das Feiervolk, die anderen griffen freudig zu. Bald war ich ein Zentralgestirn der Party, die anderen Gäste kreisten in meiner Umlaufbahn, mein Magnetismus, so schien es mir, hielt alles und jeden in Bewegung.

 

Ich war wie losgelöst, berauscht, glückdurchströmt, trank Champagner, Bier, Malteser. Der Alkohol war Entspannungsmittel, Stimmungsbeschleuniger, Kommunikationstreibstoff und Belohnung. Ich hatte diese Veranstaltung, die im Weltrekord meines Bruders gipfelte, und die dazugehörige Party organisiert, hatte sozusagen das Feld bestellt, auf dem die sportlichen und festlichen Höhepunkte dieses Tages gedeihen konnten. Jetzt konnte ich mich gehen lassen. Wer hart arbeitete, hatte jedes Recht, ebenso hart zu feiern. Mehr noch, beides war untrennbar miteinander verbunden. Ich wollte allen zeigen, wie eine Hochleistungsparty auszusehen hatte, und nebenbei, wie viel ich vertrug. Die anderen sprangen vielleicht höher als ich, aber beim Feiern und Trinken konnte niemand mit mir mithalten. Ich war der Hochleistungsorganisator, der Hochleistungsstimmungsmacher und der Hochleistungstrinker unter den Hochleistungssportlern. Kurz, ich war in meinem Element.

Dass mein Bruder, selbst kein Asket und weit davon entfernt, sich von Sport-Puristen seine Zigaretten und sein Bier madig machen zu lassen, mich zunehmend nervös und angespannt beobachtete, immer auf dem Sprung, eine mögliche Entgleisung zu verhindern, bemerkte ich nicht. Auch nicht, dass ich immer eine Spur lauter, schriller, exzessiver und aufgedrehter war als die anderen, alle Aufmerksamkeit auf mich zog und kurz davor stand, die Latte des Kontrollverlusts zu reißen. Meine alkoholsatte Euphorie war wie ein großer Hund, der unter dem Gejohle der anderen Gäste ausgelassen Kunststücke vorführte, allen durch die Beine wuselte, laut bellend an ihnen hochsprang und ihnen durch das Gesicht leckte; auch dann noch, wenn deren Begeisterung verflogen und der Jubel verstummt war.

Bat Carlo mich, mich zu mäßigen, lachte ich ihn aus. Mir ging es doch prächtig, alles war gut, ich sorgte für Stimmung, hatte mich unter Kontrolle und amüsierte mich darüber hinaus königlich! Die anderen tranken doch auch, und ohne jemanden wie mich war eine Party nur ein Kaffeekränzchen. Den Kater würde ich locker wegstecken, schließlich war ich Sportler, jung und stark.

Am nächsten Tag waren Carlo und Jacek Wszoła als Studiogäste ins »Aktuelle Sportstudio« geladen, Patrik Sjöberg und ich begleiteten die zwei. Das ZDF bezahlte uns jungen Kerlen Übernachtung und Abendessen in einem teuren Hotel, wir fühlten uns wie Fremdkörper inmitten der distinguierten älteren Herren im Anzug. Und wir ließen es gehörig krachen – zum 5-Gänge-Menü tranken wir Champagner und Cognac, nach dem Essen zündete sich jeder von uns eine dicke Zigarre an. Ein wenig fühlten wir uns wie Rockstars.

Das Leben war ein einziger Rausch, alles floss, war in Bewegung. Unsere Partys und Besäufnisse waren nie hohler Selbstzweck, sie waren eingebettet in den Sport, die Erfolge; in arbeitsreiche und nüchterne Wochen, die in neue, aufregende Erfahrungen mündeten.

Ein Jahr später, als Carlo in Berlin mit 2,42 Meter abermals einen neuen Hallenweltrekord aufgestellt hatte, waren wir zum Ball des Sports eingeladen. Wir kamen etwas zu spät, Carlo hatte noch eine Dopingprobe abgeben müssen. Der Fahrdienst chauffierte uns mit einem S-Klasse-Mercedes nach Mainz, auf dem roten Teppich erwartete uns das Blitzlichtgewitter der Fotografen. Carlo stand im Zentrum der Aufmerksamkeit, er war ein Star und wurde hofiert. Ich war an der Seite meines Bruders inmitten des Trubels, unterhielt mich mit Richard von Weizsäcker, der uns, als Bundespräsident Schirmherr der Veranstaltung, mit Handschlag begrüßt hatte. Später am Abend stand ich mit Udo Jürgens an der Bar, wir prosteten uns zu und kamen ins Gespräch. Der kleine Carlo und der kleine Bernd waren in der großen Welt angekommen, eine unglaubliche Erfahrung. Ich war wie im Rausch, geblendet vom großen Glanz und schönen Schein. Eine Art Droge, die die Eitelkeit nährt.