Dürnsteiner Himmelfahrt

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sonntag, 19. Juni 11 Uhr 03

Die pensionierte Dürnsteiner Gemeindesekretärin hatte die Theaterprobe zeitlich so angesetzt, dass ihre jungen Schauspieler die Sonntagmesse in der Stiftskirche locker hätten besuchen können. Deshalb war sie heute in der Kirche auch nicht an ihrem Stammplatz in der zweiten, sondern in der letzten Bank gesessen. Um zu überprüfen, ob wenigstens eines ihrer Schäfchen die Freundlichkeit aufbringen würde, zur Messe zu erscheinen und damit ihren Wunsch zu erfüllen, den sie seit Beginn der Probenzeit mehrmals deutlich deponiert hatte. Wenn schon nicht um des eigenen Seelenheils willen, so doch wenigstens ihr, der Regisseurin, zuliebe. Aber weder das eine noch das andere.

Die goldenen Heiligenfiguren lächelten sanftmütig auf sie herunter und mahnten sie zur Güte. Anstatt sich über die Jugend von heute zu ärgern, sollte sie an einem so erhebenden Ort lieber voller Inbrunst beten. Sie richtete ihren Blick auf den prachtvollen goldenen Altar, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Sie war nicht mehr sicher, ob es eine so glänzende Idee von ihr gewesen war, in nicht einmal mehr zwei Monaten zu Maria Himmelfahrt im Innenhof des Stifts ›Hanneles Himmelfahrt‹ aufführen zu wollen. Ihr Lieblingsstück seit Jugendtagen. Geschrieben von einem Dichter, von dem sie sonst nur scheußliche Stücke kannte. In denen wimmelte es nur so von armen Leuten und Trunkenbolden. Natürlich keiner selbst schuld an seinem Elend. Ja, selbst in ihrem Lieblingsstück war der Vater der jungen Hannele ein gewalttätiger Taugenichts, aber dafür war die Figur des jungen Mädchens einmalig gezeichnet. Ein Geniestreich. Eindeutig ihre Lieblingsfigur in der weiten Welt des Theaters, seit sie selbst die große Ehre und Freude gehabt hatte, bei einer Schulaufführung der vierten Klasse der Hauptschule Stein diese Rolle zu spielen. Vor fünfzig Jahren. Das Publikum war damals hingerissen von ihrer keuschen Schwärmerei für den jungen Lehrer – einen keuschen Ausdruck hatte der Autor ausdrücklich vorgeschrieben. Begeistert war das Publikum auch von der wunderbaren Darstellung ihrer Bereitschaft, das Kreuz des Herrn in Gestalt ihres brutalen Vaters geduldigst auf sich zu nehmen; und von ihrer Fähigkeit, die Sehnsucht nach den ewigen Freuden des Himmelreichs glaubhaft zu machen. Die Himmelfahrt selbst war dann zu einem Triumphzug für sie geworden. Wie in Trance war sie damals gewesen. Toll, wie sie ihren Klassenkameraden aus der letzten Reihe, der schon im Stimmbruch war und den jungen Lehrer spielte, dazu animieren konnte, ganz zärtlich über die beiden Warzen unter ihrem Kinn zu streichen. Große Schauspielkunst. Die Warzen zeichneten sich damals schon als Erhebungen auf ihrer sonst so makellosen Haut ab, waren aber viel kleiner als heute. Außerdem wuchsen aus ihnen damals noch keine Haare.

Jedenfalls hatte sie seit vielen Jahren davon geträumt, dieses Stück in Dürnstein auf die Bühne zu bringen. Als Gegenentwurf zu dem seichten oder gar ordinären Sommertheater, das man landauf, landab zum Besten gab. Man musste einfach etwas tun. Das Himmelreich kam ja nicht von allein.

Daher war sie seit ihrer Pensionierung dem Pfarrer in den Ohren gelegen, bei seinen Ordensoberen in Herzogenburg oder noch höheren Orts Geld für eine solche Aufführung lockerzumachen. Ohnehin nur ein paar lumpige Tausend Euro für Beleuchtung, Plakate und dergleichen. Die Schauspieler sollten natürlich alle junge Amateure sein, die nichts kosteten; und sie als Regisseurin würde selbstverständlich auch um Gottes Lohn arbeiten. Aber da hätte sie gleich gegen eine Wand reden können. Sie musste froh sein, dass ihr überhaupt gestattet wurde, im Hof des Stifts zu spielen. Also hatte sie sich an die Kulturabteilung des Landes gewandt, einer Sekretärin ihr Anliegen erklärt und um Rückruf des Chefs gebeten. Der hatte sich aber bis heute nicht gemeldet. Sicher ein Schwarzer, der Herr Hofrat, weil es ja im Amt der Landesregierung nur Schwarze gab, wie sie wusste. Aber wohl einer von der sogenannten liberalen Sorte oder gar schon ein Türkiser, der Gott den Herrn einfach einen guten Mann sein ließ.

So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als in der ganzen Wachau um Geld zu betteln. Bei den Hotels und Gasthäusern, denen sie für eine kleine Spende große Werbung auf Plakaten und in Broschüren versprach. Aber nur ausgelacht hatte man sie. Sie, die ehemalige Dürnsteiner Gemeindesekretärin und heimliche Bürgermeisterin, der sich die Leute früher nur unter Bezeugungen von Respekt und Hochachtung näherten.

Selbst sie hatte da schon ans Aufgeben gedacht. Aber dann war ihr ausgerechnet vor ihrem Haus in Oberloiben eine Frau über den Weg gelaufen, die auch im Ort wohnte. Eine an sich unsympathische und nichtsnutzige Person, die schon zweimal verheiratet und wieder geschieden war. Diese Frau hatte sich spontan bereit erklärt, ihr Projekt mit dreitausend Euro zu unterstützen. Allerdings mit einem Haken an der Sache. Das Geld würde nur fließen, wenn die Tochter der edlen Spenderin die Hauptrolle spielte. Josefa Machherndl kannte das junge Ding. Wie man sich eben unter Nachbarn kennt. Schon mit vierzehn genau so hinter den Männern her wie ihre Mutter. Der Dürnsteiner Pfarrer bestätigte zu allem Überfluss auch noch, was die pensionierte Gemeindesekretärin ohnehin geahnt hatte. Julia Schremser war zwar in der Stiftskirche getauft worden, hatte aber danach die Kirche nie mehr von innen gesehen.

Aber was hätte sie machen sollen? Ohne das in Aussicht gestellte Geld hätte sie ihr Projekt aufgeben müssen. So akzeptierte sie den Tauschhandel, nicht ohne ihren Pakt mit dem Teufel bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu beichten.

Wenigstens stellte sich die junge Dame als schauspielerisch durchaus talentiert dar, wie Josefa Machherndl fast widerwillig zugeben musste. Natürlich hatte sie selbst seinerzeit der Figur der kleinen Hannele deutlich mehr psychologischen Tiefgang verliehen, aber Julia war auch nicht schlecht. Sagten zumindest die Eltern der anderen jungen Schauspieler, von denen viele bei den Proben anwesend waren.

Aber den keuschen Blick, der ihr selbst schon als Vierzehnjährige zur zweiten Natur geworden war, den brachte die junge Schremser halt nicht zusammen.

Der Pfarrer hatte der Truppe einen kleinen Raum im Stift als Probebühne zur Verfügung gestellt. Mit zwei Sitzreihen und knapp zwanzig Sitzplätzen, die fast alle mit Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln besetzt waren.

Letzthin bei der Probe wollte sie der jungen Schauspielerin den gewünschten Gesichtsausdruck vorzeigen. Dazu war sie vor all den Angehörigen auf die behelfsmäßige Bühne gestiegen. »Pass auf, Julia. Wenn du zu Clemens aufschaust, musst du genau so schauen. Da muss dein Gesicht einen ganz reinen Ausdruck haben. So wie meines. Schau her.«

Da hatte sie es gehört. Sie irrte sich bestimmt nicht. Es war nicht nur ein vereinzeltes Kichern aus den Zuschauerreihen gewesen. Gleich mehrere Leute hatten gekichert. Was für eine Frechheit. Die Leute sahen offensichtlich alle nur mehr Pornos. Wenn das so weiterging, würde sie die Proben für Zuschauer sperren müssen. An ein seriöses Arbeiten wäre ja sonst gar nicht mehr zu denken.

Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 11

Felix Frisch saß am Beifahrersitz und fuhr mit seiner jungen Kollegin Kathi am Steuer ganz gemächlich über die Mauterner Brücke. Dabei warf er einen sehnsüchtigen Blick hinunter auf den Strom. Am meisten liebte er dienstliche Einsätze im Polizeiboot. Vor allem stromaufwärts. Einfach herrlich, den Druck der Strömung auf das Boot zu spüren und mit Vollgas von Welle zu Welle zu springen. Einsätze per Funkstreife rangierten auf seiner Beliebtheitsskala deutlich dahinter, sofern sie ohne Blaulicht und Folgetonhorn erfolgen mussten. Er war jetzt schon weit mehr als zwanzig Jahre bei der Polizei, aber diese beiden Insignien seiner Amtsgewalt bedeuteten ihm noch immer viel. Fast so viel wie seine drei Sterne. Er konnte sich daran weder satthören noch sattsehen. Wenn dann auch noch das faszinierende Geräusch von quietschenden Reifen kombiniert mit einem sichtbar ausbrechenden Heck dazu kam, dann war sein Glück perfekt.

Hingegen hasste er alle Einsätze, die einen längeren Fußmarsch erforderten. Nicht so sehr, weil ihm da seine zwanzig Kilo Übergewicht etwas im Weg waren. Das behauptete nur seine Frau mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit, an die er sich in 22 Ehejahren noch immer nicht gewöhnt hatte. Sondern, weil ein zu Fuß auf der Bildfläche auftauchender Polizist halt keine besondere Autorität ausstrahlte und nicht den Respekt einflößte, der einer Amtsperson in Uniform und in offizieller Mission zustand. Da halfen ihm auch die drei Sterne am Kragen nicht, wie er immer wieder betrübt zur Kenntnis nehmen musste. Er hatte noch nie erlebt, dass ihn ein an einem Unfall Beteiligter, ein Passant oder ein Zeuge mit ›Herr Gruppeninspektor‹ angesprochen hätte. Wie es ihm zugestanden wäre. Sondern immer nur mit ›Herr Inspektor‹. Auch schon in seiner Zeit als Polizeischüler. Ein Polizist war offensichtlich für die Masse der Leute immer ein ›Herr Inspektor‹. Ungebildetes Pack.

Ein Piepen riss ihn aus seinen Gedanken.

Karl von der Leitstelle meldete sich via Funk. »Felix, ein Weinbauer aus Weißenkirchen hat eben den Fund einer schwer verletzten oder gar toten männlichen Person gemeldet. Im Weinbaugebiet zwischen Dürnstein und Weißenkirchen. Oberhalb der Bahntrasse. Dürfte über eine Mauer gestürzt sein. Notarzt und Rettung sind bereits verständigt. Bitte bestätigen.«

»Verstanden. Fahren gerade von der Brücke Richtung Wachau ab. Sind in spätestens zehn Minuten vor Ort. Ende.«

»Übernimm dich nicht, Felix«, schallte Karls Stimme höhnisch aus dem Gerät. »Ich kenne die Gegend. Ganz schön steil. Schafft vielleicht die Kathi in zehn Minuten. Du schleppst dafür zwanzig Kilo zu viel herum. Ende.«

 

Der Gruppeninspektor bildete sich ein, noch ein wieherndes Gelächter seines Kollegen am Funk gehört zu haben. Arschloch. Während er das Blaulicht einschaltete, spürte er die tätschelnde Hand seiner Kollegin auf seinem Oberschenkel.

»Kränk dich nicht. Der Karl ist dir ja nur deine Erfahrung neidig.«

Felix Frisch wusste nicht recht, ob er sich über den Trost freuen oder sich über das Mitleid ärgern sollte. Auch, weil sein Gehirn gerade ganz von der Vorstellung in Anspruch genommen wurde, keuchend und schwitzend einen Weinberg hinaufklettern zu müssen. Oberhalb der Bahntrasse. Da wusste er schon, was ihn erwartete. Und das alles, weil wahrscheinlich irgendein dahergelaufener Blödel über seine Füße gestolpert war. Ein für einen Polizisten seines Kalibers völlig uninteressanter Fall.

Wenn er es genau überlegte, so war die Beschreibung »in den Weinbergen zwischen Dürnstein und Weißenkirchen oberhalb der Bahntrasse« eine Frechheit. Das war ein großes Gebiet und er hätte ja auch ortsunkundig sein können. Typisch Karl. Wenn es nach ihm, Felix, ging, würde der nie Gruppeninspektor werden. Kathi hatte schon recht. Der Kerl gönnte ihm einfach seinen Rang nicht.

Vor dem Dürnsteiner Tunnel entschloss er sich, auch das Folgetonhorn aufzudrehen. Machte sich gerade im Tunnel durch den Widerhall fantastisch. Insgeheim hoffte er, dass der Notarztwagen schon vor dem Streifenwagen vor Ort war. Das würde ihm die Mühe ersparen, die richtige Einstiegsstelle in den Weinberg zu finden.

Kaum hatte der Polizeiwagen den Tunnel und die West-Auffahrt nach Dürnstein passiert, drosselte seine Kollegin das Tempo, ohne dass er sie dazu aufgefordert hätte. Keine zwanzig Sekunden später neigte sie den Kopf nach vorne und deutete mit ihrer Rechten unter dem Rückspiegel durch.

»Schau, da oben. Da schwenkt jemand ein Hemd oder so etwas Ähnliches.«

Felix starrte durch die Windschutzscheibe. Es dauerte einige Zeit, bis auch er das Schwenken eines Stücks weißen oder gelben Stoffs wahrnahm. War ja auch im dichten Grün der Blätter der Weinreben schwierig zu erkennen.

»Dann bleib da vorne stehen. Du wartest hier, bis der Notarzt kommt. Vielleicht findet er den Unfallort nicht. Nicht jeder hat solche Adleraugen wie wir beide.«

Felix Frisch hoffte, seine junge Kollegin würde nicht merken, dass er unbedingt als Erster am Ort des Geschehens sein wollte.

»Aber er sieht doch unser Auto.«

»Glaub mir, Kathi. Ich weiß, wovon ich rede.« Er stieg aus dem Wagen und schätzte die Höhenmeter von der Straße bis zu der Person ab, die noch immer ihr Hemd oder etwas Ähnliches schwenkte. Fünfzig bis sechzig Meter, steil bergauf. Mit einem Seufzer machte er sich auf den Weg. Zunächst kämpfte er sich die Böschung zur Bahntrasse hinauf. Wie ein Eiskletterer hieb er bei jedem Schritt seinen Schuh in die Grasbüschel, um festen Halt zu finden. Eigentlich eine Frechheit. Die Bundesbahnen hätten hier aus Sicherheitsgründen längst Stufen in die Böschung bauen sollen. Was, wenn ein Zug ausgerechnet auf diesem Streckenabschnitt steckenblieb und die Menschen hier aussteigen mussten. Nirgends konnte man sich anhalten. Diese Böschung war die reinste Todesfalle. Als er endlich auf der Bahntrasse ankam, ging er ein paar Schritte, sodass Kathi ihn nicht mehr sehen konnte, und legte erst einmal eine Verschnaufpause ein. Immerhin ein Fünftel des Weges war geschafft. Nun ging es darum, einen Durchgang zu finden, um weiter hinaufzugelangen. Der Weinberg war in Geländestufen angelegt, jede mit einer Mauer aus unbehauenen Steinen befestigt. Da es hier sehr steil war, waren die Mauern mannshoch. Vier Geländestufen waren es von der Bahntrasse bis zu dem Mann da oben, der mit dem Schwenken des Hemds aufgehört hatte und stattdessen mit gestrecktem Arm deutete. Messerscharfe Schlussfolgerung: Da vorne musste irgendwo ein Durchgang sein. Tatsächlich. Da war eine Lücke in der Mauer und dahinter ein sandiger Pfad mit ein paar Stufen an den steilsten Stellen. Weinbauern waren eben vernünftige Leute. Auf der zweiten Geländestufe hörte er und sah dann auch schon den Rettungswagen, der keine zehn Sekunden später hinter dem Polizeiauto einparkte. Der Notarzt, den er mit seinen Adleraugen sofort erkannte, und die beiden Sanitäter stiegen mit einem Tempo den Bahndamm hinauf, dass er sich würde sputen müssen, wenn er wirklich vor ihnen an der Unfallstelle sein wollte. Er hörte sich keuchen. Elende Schinderei. Dabei lud der Ausblick an dieser Stelle zum Aufstellen eines Liegestuhls ein. Am anderen Donauufer lag eine der größeren bewaldeten Inseln, die kaum jemand betrat, obwohl der schmale Kanal hinter ihr leicht zu überqueren war. Von Rossatz und Weißenkirchen sah man von hier oben auch ein gutes Stück. Warum hatte er dieses Motiv noch nie auf einer Postkarte gesehen? Wahrscheinlich, weil sich kein Fotograf die Mühe machte, hier heraufzuklettern. Unten schlängelte sich gerade ein Zug der Wachaubahn vorbei. Wirklich malerisch hier zwischen den saftig-grünen Weinreben. Nur die Trauben fehlten noch. Die waren erst Ende August so weit.

Er hörte den Notarzt und die Sanitäter hinter sich, ebenfalls schnaufend, schaffte es jedoch noch vor ihnen. Sehr ausgepumpt zwar, aber immerhin.

»Da sind Sie ja endlich. Wir warten hier schon geschlagene zwanzig Minuten.« Der ältere Mann, der gewunken hatte, deutete auf einen verschwitzten jüngeren, der neben einer ungefähr zwei Meter von der oberen Stützmauer entfernt liegenden Person kniete und mit Herzdruckmassage beschäftigt war. »Seitdem hat sich der Mann da nicht bewegt«, fuhr der ältere fort. »Wenn Sie mich fragen, ist er tot.«

Mit dem geschulten Augenmaß eines Gruppeninspektors schätzte er zunächst die Höhe der Stützmauer ab – gute drei Meter – und beugte sich dann über den leblosen Körper. Er erschrak. Das Gesicht kannte er. Es gehörte einem Kremser Antiquitätenhändler. Vor ein paar Wochen hatte er einen Einbruch in sein Haus angezeigt. Wie war doch gleich sein Name?

Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 52

Eigentlich wäre das sein letzter Einsatz für heute gewesen. Er hatte sich schon aufs Heimkommen und auf sein hoch verdientes Bier gefreut. Serviert von seiner Elfriede, der er nach dem ersten Schluck davon erzählen wollte, wie schnell er den Weinberg hinaufgesprintet war und wie er dabei sowohl seine junge Kollegin als auch den kaum älteren Notarzt hinter sich gelassen hatte.

Aber als Gruppeninspektor wusste er, was er seinem Rang schuldig war. Er hätte es sich nie verziehen, Kathi zur Witwe des Kunsthändlers zu schicken, um die Todesnachricht zu überbringen. Das würde er übernehmen müssen, hoch verdientes Bier hin oder her. Seinerzeit als noch junger Polizist hatte er sich um solche undankbaren Aufgaben immer gedrückt. Weil er zugeben musste, für solche Einsätze noch nicht das nötige Fingerspitzengefühl aufzubringen. Obwohl er sich schon damals auch in dieser Hinsicht seinen Kollegen turmhoch überlegen fühlte. Dazu kam noch, dass es natürlich nie angenehm war, Angehörige mit schlimmen Nachrichten konfrontieren zu müssen. Was er da schon alles erlebt hatte. Schon vor längerer Zeit hatte er sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung einmal alle seine Erfahrungen zu Papier zu bringen. Er war sich selbst gegenüber ja der strengste Kritiker. Daher versagte er sich die Illusion, damit einen Bestseller zu schreiben. Aber als Trainingsunterlage für Polizei-Schulungen würden seine Memoiren sicher Gold wert sein.

Er setzte seine Kollegin an der Dienststelle ab und fuhr zum Haus auf dem Wachtberg, um die traurige Polizisten-Pflicht zu erfüllen. An die Villa mit dem prachtvollen Blick über Krems erinnerte er sich gut. Nicht, dass er sich aus Kirchen viel machte. Aber gleich auf vier oder fünf alte Kirchtürme hinabschauen zu können, hatte doch etwas Erhebendes. Als er vor vier Wochen zum ersten Mal vor dem Haus gestanden war, war er tatsächlich ein bisschen unglücklich darüber gewesen, kein Geschäftsmann, sondern Polizist zu sein. Damals, als er einen von dem Kunsthändler gemeldeten Einbruch aufnehmen musste. Es waren zwar eindeutige Spuren von einem gewaltsamen Eindringen zu sehen gewesen, aber keine Hinweise darauf, dass mit Ausnahme einer angeblich mehr als fünfhundert Jahre alten, kleinen Heiligenfigur etwas gestohlen worden war. Dabei wäre das Wohnzimmer ein Paradies für einen Dieb gewesen. Er würde zwar nie verstehen, was Leute an alten, wurmstichigen Holzstatuen und riesigen Ölschinken fanden. Aber er wusste, dass es für solche Sachen Sammler gab, die viel mehr für ein einziges Bild auszugeben bereit waren als er für hundert seltene Bierdeckel, denen seine ganze Sammelleidenschaft galt; wahrscheinlich sogar mehr, als er für seinen Škoda Octavia hatte hinblättern müssen. Verrückte Welt.

Jedenfalls hatte er damals festgestellt, dass keine Kinder mehr im Haus lebten. Was auch gar nicht verwunderlich war, weil er den Händler auf Anfang sechzig schätzte. Dessen Frau, die bei der Untersuchung des Tatorts auch dabei war, schätzte er auf vielleicht sechs oder sieben Jahre jünger. Dass keine Kinder da waren, würde seine Aufgabe ungemein erleichtern.

Auf dem fein ziselierten Namensschild unterhalb der Klingel, an das er sich ebenfalls gut erinnerte, las er den Namen, der ihm entfallen war: Haberl. Die Witwe mit ihrem Namen ansprechen zu können, war gerade in dieser heiklen Situation sehr wichtig. Er klingelte.

Es brauchte keine fünf Sekunden, bis sich mit einem geradezu zarten Summton, den er auch schon kannte, das gusseiserne Tor öffnete, das in einen kleinen und gepflegten Vorgarten führte.

Kurz darauf öffnete sich die Haustür, in der auch schon die Dame des Hauses stand. »Herr Inspektor! Das ist aber eine Überraschung. Dass Sie sogar an einem Sonntag kommen, kann nur bedeuten, dass Sie die Heiligenfigur wiedergefunden haben. Da wird sich mein Mann aber freuen. Leider ist er noch nicht zu Hause. Ich erwarte ihn aber jede Minute. Wenn Sie solange auf ihn warten wollen, biete ich Ihnen gern einen Kaffee an.«

Der Gruppeninspektor unterdrückte seinen Impuls, sich über die Anrede zu ärgern. Die gute Frau hätte sich doch erinnern müssen, dass sie es mit einem Gruppeninspektor zu tun hatte. Gleichzeitig war er durch ihre Eröffnung etwas aus dem Konzept gebracht. »Vielen Dank, Frau Haberl! Aber ich möchte gar nicht mit Ihrem Mann, sondern mit Ihnen sprechen. Aber ein Kaffee könnte auf keinen Fall schaden. Da redet es sich leichter.« So einen tollen Einstieg in ein derart heikles Gespräch würde ihm nicht so bald jemand nachmachen. Einerseits ganz locker und andererseits schon einen sehr ernsten Hintergrund für sein Kommen signalisierend.

»Sie machen mich ja richtig neugierig. Aber kommen Sie doch bitte herein. Wenn Sie bitte für einen Augenblick im Wohnzimmer, das Sie ja kennen, Platz nehmen wollen. Ich mache schnell Kaffee.«

Jetzt war guter Rat teuer. Frau Haberl zunächst nichtsahnend Kaffee machen zu lassen und ihr dann erst zu sagen, dass der Ehemann bei Weißenkirchen durch einen fatalen Sturz zu Tode gekommen war, schien ihm irgendwie unpassend. Aber was sollte er tun? Nach kurzem Zögern, aber noch bevor er Platz in einem der höchst bequem wirkenden Fauteuils nahm, entschied er sich, den Stier bei den Hörnern zu packen, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Nebenbei eine geradezu geniale Kombination von Sprichwörtern, wie er fand. »Ich glaube, es ist besser, mit dem Kaffee noch eine Minute zu warten. Ich muss Ihnen vorher noch etwas sagen, von dem ich hoffe, dass es Sie nicht zu schwer treffen wird.«

Jetzt sah er so etwas wie Überraschung in den Augen seiner Gesprächspartnerin. Gemischt mit einer Spur von Entsetzen, wie seinem geschulten Blick nicht verborgen blieb.

»Aber vielleicht setzen wir uns erst einmal«, fuhr er fort. Er wusste, dass er sich nicht einfach in den Sessel plumpsen lassen durfte, wie er es bei sich zu Hause gern tat. Aber setzen wollte er sich, um die Witwe dazu zu animieren, es ihm gleichzutun. So nahm er vorsichtig am Rand des Fauteuils Platz.

Auch Frau Haberl setzte sich; und zwar so beunruhigt, dass es sicher auch einer so unroutinierten Kollegin wie Kathi aufgefallen wäre.

Jetzt kam für ihn natürlich der schwerste Teil des Gesprächs. Aber da musste er durch. »Zunächst habe ich eine durchaus erfreuliche Nachricht für Sie. Ich weiß natürlich, dass alles relativ ist, aber immerhin.« Wie er schnell sehen konnte, erzielte seine Eröffnung nicht die gewünschte Wirkung.

Der Gesichtsausdruck von Frau Haberl wechselte von Beunruhigung zu Verärgerung. »Herr Frisch, würden Sie jetzt endlich die Güte haben, mir zu sagen, was los ist.«

Aha, jetzt war er nicht einmal mehr der Herr Inspektor, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Herr Frisch. »Dazu komme ich ja gerade. Die positive Nachricht ist, dass Ihr Mann überhaupt nicht hat leiden müssen.«

 

Im Gesicht der Witwe machte sich blankes Entsetzen breit. »Wollen Sie mir sagen, dass mein Mann tot ist?«

Es war endlich ausgestanden. »Ja, leider. Ich wollte es Ihnen nur so schonend wie möglich beibringen.«

»Das ist Ihnen ja toll gelungen!« Frau Haberl schwieg für eine Weile, um dann ganz ungläubig den Kopf zu schütteln, ohne den Gruppeninspektor anzusehen. »Ich habe immer gewusst, dass ihn seine Raserei noch einmal ins Grab bringen wird. Ist es auf der Wachaustraße passiert?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann sie zu weinen.

Felix Frisch nahm ganz sacht ihre Hand. »Es war kein Autounfall. Ihr Mann ist in einem Weingarten zwischen Weißenkirchen und Dürnstein über eine Mauer gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Der Arzt ist sicher, dass er sofort tot gewesen ist.«

Felix Frisch sah, dass sich im Gesicht der Frau trotz ihres Schmerzes ein ganz leichtes Lächeln zeigte. »Es platzen ja im Laufe eines Lebens viele Träume. Aber sicher wenige so tragisch. Mein Mann hat nämlich seit einiger Zeit vom Kauf eines Weingartens geträumt. Für die Pension.« Das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, um einem Strom von Tränen Platz zu machen.

Er wusste, dass er jetzt nichts sagen durfte.

Nach einer Weile zog Frau Haberl aus einer Tasche ihrer Hose ein Taschentuch und wischte sich damit die Tränen ab. Dann gab sie sich einen Ruck und hob den Blick. »Halten Sie es für möglich, dass der Tod mit dem Einbruch vor vier Wochen zu tun hat?«

Der Gruppeninspektor war über die Frage verblüfft, fing sich aber schnell. »Völlig ausgeschlossen. Ist ein stinknormaler Unfall gewesen.« Ihm war sofort klar, dass er den Begriff »stinknormal« besser nicht verwendet hätte. Um seinen Fehler zu überspielen, fügte er gleich hinzu: »Der Arzt will zwar noch mit dem Staatsanwalt reden. Vielleicht möchte der, um auf der ganz sicheren Seite zu sein, eine Obduktion veranlassen. Aber den Aufwand können sich die Herren meiner Meinung nach sparen. Hinausgeschmissenes Geld des Steuerzahlers. Das ist ein reiner Unfall gewesen, so wahr ich Gruppeninspektor bin. Ein höchst bedauerlicher zwar«, – er gratulierte sich, dass er nicht ein zweites Mal von einem ›stinknormalen‹ Unfall gesprochen hatte – »aber eben ein Unfall. Da fährt die Eisenbahn drüber.«