Dürnsteiner Himmelfahrt

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Mittwoch, 22. Juni 10 Uhr 35

Jetzt wartete er schon seit sechs Minuten an der Stelle zwischen Dürnstein und Weißenkirchen, an der er am vergangenen Sonntag gemeinsam mit Kathi den Streifenwagen abgestellt hatte. Aber vom Landespolizeidirektor noch immer keine Spur. Hatte er ja schon des Öfteren gehört, dass es in St. Pölten mit der Genauigkeit nicht so weit her war. Wobei er selbst sich gar nicht so nobel ausdrücken würde. Einfach Schlendrian, wohin er auch schaute.

Die Verspätung seines obersten Chefs hatte allerdings auch sein Gutes. Er konnte sich endlich mit der Frage befassen, wieso sich Wolfgang Marbolt überhaupt für den Kremser Antiquitätenhändler interessierte. Hatte nicht die Witwe von einem Nachspiel gesprochen? War damit der Polizeidirektor gemeint?

Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er den Audi, der hinter ihm bremste, gar nicht hörte. Erst ein kurzes Hupen ließ ihn herumfahren. Schnell setzte er seine Kappe, die er wegen der Hitze abgenommen hatte, wieder auf und nahm Haltung an.

Der Polizeidirektor stieg aus seinem Wagen. Mit seinem Handy am Ohr. Keine Begrüßung. Nicht einmal ein freundliches Nicken in seine Richtung. Nur Konzentration auf das Telefon. Endlich war das Gespräch vorbei.

»So mag ich es. Dass der Polizeidirektor von seinen Beamten bereits erwartet wird. Ein Gutpunkt für Sie, Herr Kollege!«

Kein wirklicher Sympathieträger, dachte Felix Frisch. Aber immerhin hatte er ihn mit ›Herr Kollege‹ angesprochen. In der Tonart konnte es ruhig weitergehen.

»Sie haben die Unterlagen da?«

»Selbstverständlich, Herr Dr. Marbolt.« Die kleine Vertraulichkeit konnte er sich wohl von Kollege zu Kollege leisten. Er reichte ihm die Unterlagen.

»In diesem Land werde ich mit ›Herr Landespolizeidirektor‹ angesprochen. Ist das klar?«

»Sehr wohl, Herr Landespolizeidirektor!«

Marbolt überflog die Unterlagen. Dauerte kaum zwei Minuten. Dann sah er den Gruppeninspektor an.

»Scheint ja ziemlich eindeutig zu sein. Unser guter Herr Haberl hat wahrscheinlich in einem der Wachauer Weinkeller zu viel gebechert. Kann man ja verstehen. Und ist dann unglücklich gestürzt. Eigentlich ein schöner Tod. Können wir uns beide auch wünschen, wenn unsere Zeit einmal gekommen ist.«

Was für ein unangenehmes Meckern, dachte sich Felix. Sollte wohl ein Lachen sein.

Der Polizeidirektor nahm den Bericht des Pathologen wieder in die Hand.

»Kommando retour. Der Mann hat ja kaum Alkohol im Blut gehabt. Sie sehen, Herr Kollege, auch einem Landespolizeidirektor fällt kein Stein aus der Krone, wenn er sich korrigiert. Gehört zu den zehn Geboten der Polizeiarbeit.«

»Jawohl, Herr Landespolizeidirektor.«

»Ihr Vorgesetzter hat mir am Telefon gesagt, dass Sie heute Vormittag bei der Witwe waren, um sie über das Ergebnis der Obduktion zu informieren. Die gute Dame dürfte sich da ja was zusammenspintisiert haben. Von wegen Fremdeinwirkung und so. Wissen Sie, Frauen haben ja manche Vorzüge. Aber die Fähigkeit, Tatsachen unvoreingenommen ins Auge zu blicken, gehört nicht dazu. Außerdem scheint sie auch schon in dem Alter zu sein, in dem die Hormone verrückt spielen. Sie verstehen?«

›Genau wie bei meiner Elfriede‹, wollte der Gruppeninspektor schon sagen, beschränkte sich aber dann auf ein »Sehr wohl, Herr Polizeidirektor!«

»Ist es von hier weit bis zur Unfallstelle?«

»Sechs bis acht Minuten. Je nachdem, wie schnell wir gehen.«

Er sah einen sehr taxierenden und gleichzeitig abschätzigen Blick in den Augen von Dr. Marbolt. »Na, das wird wohl eher acht Minuten dauern. Ist zu Ihnen eigentlich schon durchgedrungen, dass ich mir als oberster Chef lauter durchtrainierte Mitarbeiter wünsche? Ich hoffe, dass Ihr Grips wenigstens mit Ihren Kilos mithalten kann. Also dann los.« Der Polizeidirektor legte ein Tempo vor, mit dem Felix Frisch nur mit größter Mühe Schritt halten konnte. Marbolt traf auch keine Anstalten, sich bei seinen Fragen umzudrehen, sondern redete die vor ihm liegenden Weingärten an. »Haben Sie überhaupt herausbekommen, wieso die Frau glaubt, dass es beim Tod ihres Mannes nicht mit rechten Dingen zugeht?«

Felix Frisch fühlte seine große Stunde nahen. Die er bis zum Äußersten auskosten wollte. Nur zu blöd, dass der Polizeidirektor ihn dabei keuchen hören musste.

»Natürlich, Herr Landespolizeidirektor. Gehört ja zum kriminalistischen Einmaleins eines Gruppeninspektors. Vor vier Wochen ist im Haus der Haberls auf dem Kremser Wachtberg – tolle Villa, kann ich Ihnen sagen, von der ein Polizeibeamter nur träumen kann – eingebrochen worden. Dabei hat der Dieb nur eine kleine, sicher schon ganz wurmstichige Plastik entwendet.«

»Sonst nichts?« Jetzt blieb Wolfgang Marbolt stehen, drehte sich um und fixierte ihn mit forschendem Blick.

»Absolut nichts. Und ich bin gleich nach der Einbruchsmeldung am Tatort gewesen.

Da stehen die Kunstgegenstände haufenweise herum.«

»Und hat Doktor Haberl eine Angabe über den Wert der gestohlenen Plastik gemacht?«

Felix Frisch war dankbar für die kurze Rast. »Selbstverständlich habe ich ihn danach gefragt. Höchstens fünfzehntausend, hat er gemeint.«

»Wissen Sie was?« Der Landespolizeidirektor hob das Kinn. »Ich glaube, die Plastik war in Wahrheit viel teurer und der Einbrecher hat um ihren wahren Wert gewusst. Sie würden ja nicht glauben, Herr Kollege, was diese alten Sachen heute kosten. Je wurmstichiger, umso teurer. Da gibt es jetzt in einer Ausstellung in Florenz eine alte Zeichnung von Raffael – schon einmal von dem Namen gehört?«

Der Gruppeninspektor bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, der ihn von der Peinlichkeit einer ehrlichen Antwort bewahren sollte. Vergebens.

»Na, macht nichts. Woher soll ein kleiner Streifenpolizist auch einen Raffael kennen. Jedenfalls hat mir der Chef der Ausstellung in Florenz – tolle Stadt, kann ich Ihnen sagen – erzählt, dass er diese Zeichnung auf mindestens zehn Millionen schätzt. Und das, obwohl sie einen großen Brandfleck hat. Brandflecken sind bei Papier das, was Wurmstiche bei Holz sind, müssen Sie wissen.«

Kleiner Streifenpolizist. Das wurde ja immer schöner. »Das ist ja hochinteressant, Herr Landespolizeidirektor.« Er sah sofort, dass diese Bemerkung dem hohen Herrn gut gefiel. Aus dem forschenden Blick wurde ein freundlicher. Allerdings ein bisschen sehr gönnerhaft, wie es dem Gruppeninspektor schien.

»Ja. Bei mir kann man immer etwas lernen.«

»Davon bin ich überzeugt, Herr Landespolizeidirektor. Zu Ihrer Theorie vom hohen Wert der Plastik …«

Der Polizeidirektor unterbrach. Mit erhobenem Zeigefinger. »Nicht Theorie, mein Lieber. Sondern knallharte Tatsache.«

Felix Frisch begann, sich unwohl zu fühlen. Er ertappte sich bei der Hoffnung, der Polizeidirektor würde sich wieder bergwärts drehen und den Aufstieg fortsetzen.

»Jedenfalls würde dazu passen, was Frau Haberl gesagt hat. Dass ihr Mann seit dem Einbruch ein anderer Mensch gewesen ist. Ganz deprimiert.«

Wolfgang Marbolt drehte sich abrupt um und sprintete los. »Was sage ich die ganze Zeit. Da habe ich wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ohne die Dame je gesehen zu haben. Die Sache ist so klar wie Quellwasser. Wenn Menschen deprimiert sind, machen sie leicht einen falschen Schritt. Wie weit ist es noch?«

»Wir sind gleich da. In maximal zwei Minuten.« Dem Gruppeninspektor war in der Zwischenzeit klar geworden, dass er sein Atout besonders vorsichtig ausspielen musste. Die letzten fünf Minuten hatten ihm genügt, um sich darüber klar zu werden, dass sein oberster Chef nicht jemand war, der sich gern von anderen die Show stehlen lassen würde. Er war froh, dass Dr. Marbolt schwieg, bis er die Stelle erreichte, die mit einem Band aus roter Folie umfriedet war.

Der Landespolizeidirektor begutachtete den Platz.

Jetzt schien Felix Frisch die Gelegenheit günstig zu sein. Aber er würde es sehr geschickt einfädeln müssen. Der Chef musste quasi selbst darauf kommen. »Der Pathologe hat angemerkt, dass ein Genickbruch bei solchen Stürzen doch ungewöhnlich ist«, begann er vorsichtig. »Weil der Herr Haberl mit dem Kopf voran … verstehen Sie?« Er machte mit der flachen Hand eine kippende Bewegung, als würde jemand einen Kopfsprung ins Wasser machen.

Der Landespolizeidirektor runzelte die Stirn und besah sich die drei Meter hohe Mauer, von der Herr Haberl heruntergestürzt war.

»Herr Haberl war laut seiner Frau nach dem Einbruch sehr deprimiert«, setzte Felix Frisch fort.

»Mit dem Kopf voran, sagen Sie?« Der Landespolizeidirektor ahmte mit seiner Hand die Kopfsprunggeste nach.

»Der Ausblick von da oben ist noch grandioser. Wirklich ein schöner Platz zum Sterben.« Er wusste, dass er die Selbstmordthese nicht aussprechen durfte. Aber nun hatte er keine Idee mehr, wie er dem eitlen Herrn noch weiter auf die Sprünge helfen konnte. Der brauchte doch jetzt wirklich nur mehr eins und eins zusammenzuzählen.

Da ging ein sichtbarer Ruck durch den Landespolizeidirektor. Offenbar ein Geistesblitz.

Felix Frisch drückte sich die Daumen, dass es derselbe Geistesblitz war, den er vorhin bei Frau Haberl gehabt hatte.

»Herr Kollege«, hob der Polizeidirektor an. »Ich bin der festen Überzeugung: Das Rätsel rund um diesen Todesfall ist gelöst. Herr Haberl hat sich offensichtlich das Leben genommen.«

Felix Frisch versuchte, erstaunt zu schauen.

»Eigentlich braucht man nur eins und eins zusammenzuzählen«, fuhr der Landespolizeidirektor fort. »Haberl ist zutiefst deprimiert wegen des Diebstahls der wertvollen Statue, steigt hier herauf an diesen wunderschönen Ort abseits aller Spazierwege und springt mit dem Kopf voran in den sicheren Tod.«

 

Felix Frisch schaute noch leicht zweifelnd, während er innerlich jubilierte. »Sie könnten tatsächlich recht haben«, formulierte er vorsichtig und dachte an Frau Haberl, die ihm wegen der Selbstmordthese ein Nachspiel angedroht hatte. Dieses Nachspiel entschied er gerade für sich. »Ja, wenn ich es recht überlege, ist das die einzig logische Schlussfolgerung.«

Der Landespolizeidirektor strahlte. »Es tut gut, dass meine Idee von einem Mann aus dem Fußvolk geteilt wird. Da fühlt man sich gleich besser. Aber natürlich auch nur, wenn man so wie ich Wert auf die Meinung der unteren Schichten legt.«

Felix Frisch bemühte sich, sich seinen Ärger nicht ansehen zu lassen. Dass der feine Herr einen Gruppeninspektor zum sogenannten Fußvolk zählte, war schon heftig. Aber ›untere Schichten‹ war eine echte Frechheit. Der hielt sich offensichtlich für etwas Besseres. Vielleicht hätte er ihm die Idee vom Selbstmord doch nicht eingeben sollen.

»Wissen Sie, ich komme vor lauter Gesprächen mit Landeshauptleuten und Ministern überhaupt nicht dazu, mit einfachen Inspektoren zu reden. Dabei wäre das so wichtig. Man soll gerade die sogenannten kleinen Leute nicht unterschätzen, sage ich immer zu meiner Frau. Gehört zu meinen persönlichen zehn Geboten.« Der Polizeidirektor streckte die Brust heraus, stemmte die Arme in die Hüften wie ein Feldherr und blickte auf das Donautal hinunter. »Wirklich schöne Gegend hier. Dürfte eine ideale Lage für Riesling sein.« Noch einen Moment genoss er in dieser Pose die Aussicht. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Ich glaube, ich habe genug gesehen. Sie sind ein guter Mann. Ich werde Sie in meinem Bericht an den Landeshauptmann lobend erwähnen. Wie war doch gleich Ihr Name?«

Mittwoch, 22. Juni 12 Uhr 48

Selbstverständlich war auf der Terrasse des Schlosshotels ihr Lieblingsplatz reserviert. Ohne dass Franziska Schremser bei ihrem Anruf extra darauf hätte hinweisen müssen. Im Schatten des Blutahorn-Baumes an der Brüstung mit dem besten Blick donauaufwärts. Warum sie lieber die Donau hinauf als hinunter schaute, konnte sie schwer fassen. Vielleicht waren es die Schiffe. Die einen kamen ihr stromabwärts schnell entgegen, während die anderen stromaufwärts nur mit Mühe entschwanden. Der Strom verstärkte gleichsam ihre magnetische Wirkung, die sie ihr ganzes Leben lang zu nutzen gewusst hatte. Auch jetzt registrierte sie die verstohlenen Blicke so mancher Herren. Ihr wurde bewusst, wie gut das kräftige, samtene Grün ihres neuen Kleides mit den roten Blättern des Baumes über ihr harmonierte; und mit dem rötlichen Klinker-Fußboden. Inszenierung war ihr eben zur zweiten Natur geworden. Wahrscheinlich mochte sie diesen Platz auch deshalb, weil er von zwei großen Steinschalen, die mit prächtigen, rosa blühenden Hortensien gefüllt waren, umrahmt war.

Aber sie war nicht hier, um bewundernde Blicke der männlichen und neidvolle Blicke der weiblichen Gäste auf sich zu ziehen. Sie war hier, um mit Jennifer und ihrem Verlobten noch einmal das Programm für die Hochzeitsfeierlichkeiten durchzugehen. Damit alles wie am Schnürchen klappen würde. Die Ausrichtung der Hochzeit auf Burg Aggstein war ihr Hochzeitsgeschenk an ihre Tochter aus erster Ehe.

Sie hatte sich vorgenommen, diesmal besonders großzügig zu sein. Auch wenn sie sonst auf ihr Geld schaute. Denn gegenüber Jennifer hatte sie schon lange so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Erstens wegen des Vornamens. Sie selbst war als junges Mädchen über ihren eigenen Vornamen höchst unglücklich gewesen. ›Franziska‹ erschien ihr höchst altmodisch. Ihr Unglück wurde noch dadurch verstärkt, dass ihre Eltern sie immer ›Franzi‹ riefen. Damals hatte sie sich geschworen, ihren eigenen Kindern nur moderne Vornamen zu geben. Als ihre Tochter vor vierundzwanzig Jahren auf die Welt kam, war Jennifer ein sehr angesagter Vorname. Heute allerdings gefiel ihr ihr eigener Vorname besser als der ihrer Tochter.

Entscheidender für ihr schlechtes Gewissen war jedoch das eindeutige Gefühl, dass ihre jüngere Tochter ihrem Herzen näherstand. Natürlich bemühte sie sich nach Kräften, diesen Umstand vor ihrer älteren zu verbergen. Sie hatte auch ihre Töchter niemals wissentlich ungleich behandelt. Allerdings gab es diese für sie spürbare emotionale Distanz. Die mochte mit dem Vater von Jennifer, ihrem ersten Ehemann, zusammenhängen. Manuel Kohout. Ein Windbeutel der Sonderklasse. Inhaber einer Werbefirma. Dass sie nicht lachte. Die einzige Werbung, die er jemals auf die Beine stellen konnte, war die für sich selbst. Ungemein charmant. Aber in Wahrheit nur auf ihr damals noch recht mühsam verdientes Geld aus. Bis sie ihn auf zugegeben etwas rüde Art vor die Tür gesetzt hatte. Seitdem hatte sie von diesem Blender nichts mehr gehört. Das war ihr nur recht. Als Jennifer vor ein paar Jahren einmal angedeutet hatte, dass sie Kontakt zu ihrem Vater habe, hatte sie auch sofort abgewunken. Von Manuel Kohout wollte sie einfach nichts mehr wissen.

Zum Glück war Jennifer genau das Gegenteil ihres Vaters geworden: sehr solide. Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren wollte sie selbst Lehrerin werden. Bis zu dem Tag, an dem sich plötzlich eine Möglichkeit aufgetan hatte, viel Geld zu verdienen. Aus dieser Möglichkeit hatte sie mit der ihr angeborenen Energie und Schläue schöne Wirklichkeit gemacht. Das Studium hatte sie damals geschmissen. Trotz fast fertiger Dissertation. Einen Titel hatte sie bis heute nie mehr gebraucht. Dazu war sie zu reich und zu attraktiv.

Mit dem jungen Paar war sie für zwölf Uhr fünfundvierzig verabredet. Jennifer unterrichtete bis zwölf Uhr dreißig. Sie selbst war pünktlich, Tochter und zukünftiger Schwiegersohn, ein ihr sehr sympathischer junger Anästhesist aus dem Landesklinikum Krems, nicht. Sie wollte nicht länger warten und gab dem Ober, der gerade zwei Tische weiter einem älteren Ehepaar die Vorspeisen servierte und dabei, einen freundlichen Gruß andeutend, zu ihr blickte, mit Daumen und Zeigefinger ein Zeichen, das er offensichtlich sofort verstand.

Keine Minute später brachte er ihr ein Glas. »Einen wunderschönen guten Tag, Frau Schremser! Hier Ihr gewünschter Riesling, bitte. Wie immer vom Pichler.« Wie üblich stellte er ihr auch gleich ein volles, mit blütenweißer Stoffserviette bedecktes Brotkörbchen auf den Tisch. »Soll ich Ihnen schon die Karte bringen, oder wollen Sie noch etwas warten?«

»Sie können sie mir ruhig schon bringen. Und für meine Kinder gleich dazu. Die werden ja gleich da sein.«

Sie nahm das Glas in die Hand, führte es zu ihrer Nase, um den Geruch des Weins auf sich wirken zu lassen, trank einen Schluck und blickte dann über die Donau nach Rossatz. Was war das hier doch für ein prachtvoller Platz! Selbst in der mit vielen wunderschönen Plätzen verwöhnten Wachau war keiner zu finden, der es mit dieser Terrasse hätte aufnehmen können, davon war sie überzeugt. Auch wenn sie die Stiftskirche in ihrem Rücken gar nicht sehen konnte, und auch nicht die Burgruine, die auf den Ort herabblickte, so war es so, als würden diese beiden Dürnsteiner Wahrzeichen einem beim Essen über die Schulter schauen. An einem Tag wie diesem mit seinen neunundzwanzig Grad im Schatten und einem wolkenlosen Himmel nicht zu schlagen. Sie würde nie verstehen, warum die Bald-Eheleute nicht das Schlosshotel als Ort für die Hochzeitsfeier ausgesucht hatten. Auf den Geldbeutel der Brautmutter hätten sie wirklich keine Rücksicht zu nehmen brauchen.

Die beiden hatten sich zu ihrer Überraschung auch für eine kirchliche Trauung entschieden. Da wäre doch die Stiftskirche ein idealer Ort gewesen. Aber nein, das junge Paar hatte sich auf einen weit ungewöhnlicheren Ort für die Trauung und die anschließende Feier versteift. Wie hieß es doch so schön? Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Sie glaubte zu wissen, dass die Tochter gern sie als Trauzeugin gehabt hätte. Hätte sie auch gern gemacht. Schon allein wegen ihres schlechten Gewissens. Allerdings war ihr als zweifach geschiedene Frau diese Rolle verwehrt.

Der Wein tat ihrem Magen gut. Sie schlug die über dem Brotkörbchen gefaltete Serviette zurück. Der Duft, der ihr entgegenströmte, regte ihren Magen gleich noch mehr an. Helles und dunkles Brot sowie zwei Wachauer Laberln vom Schmidl. Frisch aus der Backstube, die keine dreihundert Meter von der Hotel-Terrasse entfernt lag. Andere Frauen mussten sich an dieser Stelle in Zurückhaltung üben. Sie jedoch hatte – in gewissem Rahmen – schon immer nach Herzenslust essen können, ohne ihre Taille zu gefährden. Dementsprechend griff sie nach einem Laberl und biss herzhaft hinein. So konnte nur Gebäck vom Schmidl schmecken. Einfach herrlich.

Der Kellner kam mit den Speisekarten.

Sie bedeutete ihm mit vollem Mund, die Karten einfach auf den Tisch zu legen, anstatt ihr wie üblich auch gleich mündliche Informationen zum heutigen Menü zu servieren. Als er wieder davongetrabt war, schlug sie die in Weinrot gehaltene Speisekarte auf. Auf eine Vorspeise wollte sie eher verzichten. Obwohl sie die kleinen Lammfilets auf Blattsalaten schon sehr anlachten. Sollten die Brautleute eine Vorspeise bestellen, würde sie selbst wohl schwerlich Nein sagen können. Ihr angeregter Magen wollte sich allerdings gerade nicht mit den Vorspeisen aufhalten. So wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Hauptspeisen zu. Die hausgemachten Nudeln mit Wildschweinsugo und Vogelbeeren hatte sie schon einmal gegessen. Köstlich. Aber sie wollte noch ein bisschen gustieren.

Sie war so vertieft in die Karte, dass sie den zarten Kuss auf ihren Kopf zunächst gar nicht spürte.

Donnerstag, 23. Juni 13 Uhr 05

Was für eine Frechheit von ihrem Mann. Da stand sie nach der Morgendusche vor dem Badezimmerspiegel, den sie kurz davor mit einem trockenen Handtuch von Wasserdampf befreit hatte, um ihre Figur einer kritischen Kontrolle zu unterziehen. Mit dem, was sie sah, war sie durchaus zufrieden.

Dass ihr Erich – selbstverständlich erst nach vorherigem Klopfen – hereingekommen war, störte sie nicht; genauso wenig, dass er ihr, wie sie im Spiegel sehen konnte, interessiert zusah, wie sie dieses ohnehin winzig kleine Röllchen über ihrer linken Hüfte zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, um den Durchmesser zu kontrollieren. Aber dann setzte er sein ihr zur Genüge bekanntes Grinsen auf, das an den Gesichtsausdruck eines Fauns erinnerte, und kommentierte diese Röllchen-Prüfung mit der Bemerkung, dass er auf ihren Hüften schon immer ein paar Dekagramm mehr gemocht hätte, als eigentlich erlaubt waren. Da wusste sie, dass ihr der ganze Tag gründlich versaut sein würde. Und womöglich sogar Ungemach bereithielt.

Die Szene vor dem Spiegel hatte Doris Lenhart immer noch im Hinterkopf, während sie als Ersatz für das Mittagessen missmutig an einer Karotte kaute und in einem Akt las. Da klingelte ihr Telefon. Das Büro des Landeshauptmanns war am Apparat. Das musste das Ungemach sein, das sich in der Früh angekündigt hatte. Ob sie um dreizehn Uhr zum Herrn Landeshauptmann kommen könne? Auf ihre Frage nach dem Gesprächsthema, ob sie Unterlagen mitbringen oder sich anderweitig vorbereiten sollte, war nur ein kurzes, aber klares »Nein« gekommen.

Sie hatte im Vorzimmer nicht einmal eine Minute warten müssen, da war er schon aus seinem Büro herausgekommen. Mit genau dem Lächeln, das sie schon vom vorigen Samstag kannte. »Welche Freude, den Stern am niederösterreichischen Polizeihimmel so schnell wiederzusehen. Entschuldigen Sie bitte den Überfall, Frau Chefinspektorin, aber ich brauche Ihre Hilfe. Dringend. Kaffee?«

Als sie nickte, nickte er seinerseits seiner Sekretärin zu: »Zwei Mal, bitte.«

Doris nahm auf einem Sessel der Sitzgarnitur, die sie schon von ihrem ersten und bisher einzigen Besuch in diesem Büro vor fünf Jahren kannte, Platz. An der erstaunlich spartanischen Einrichtung hatte sich seither nichts verändert. Diese Einrichtung war auch der Grund, warum dieser Raum trotz seiner Größe ihrer Vorstellung vom Büro eines Landeshauptmanns nicht entsprach.

»Wissen Sie, Frau Lenhart, Ihr Boss treibt mich manchmal zur Weißglut. Ich habe gute Lust, dem Innenminister klar und deutlich zu sagen, dass er sich den Marbolt weiß Gott wohin stecken soll. Hauptsache, er zieht ihn aus Sankt Pölten ab.«

Sie dachte bei sich, dass sie dafür gern die Umzugskosten übernehmen würde, bemühte sich aber, keinerlei Gemütsregung erkennen zu lassen.

Der Landeshauptmann senkte seine Stimme. »Im Vertrauen sage ich Ihnen, dass er sich sogar aufgeregt hat, dass ich Sie auf dem Schiff als Stern am Polizeihimmel bezeichnet habe. Weil er als Ihr Chef ein größeres Recht darauf gehabt hätte, auf der Bühne zu stehen. Tolles Foto übrigens im Niederösterreichischen Tagblatt. Gratuliere. Dabei gibt es in der ganzen Polizei niemanden, der auch nur im Ansatz Ihre Fähigkeiten hätte. Hat es nie gegeben und wird es auch nie mehr geben. Der Innenminister hat zwar auch gefunden, dass ich da ein bisschen übertrieben habe, aber ich wäre ein schlechter Landeshauptmann, wenn ich mich durch so etwas beeindrucken ließe.«

 

Schön langsam wurde ihr unbehaglich. Wie es immer passierte, wenn sie keine Ahnung hatte, worauf ihr Gegenüber hinauswollte.

Der Landeshauptmann blickte sie an. Ganz sicher genau kalkulierend, wie weit seine Eröffnung ihr Ziel erreicht hatte.

Wenn sie dieses Ziel nur hätte erraten können! Der in dem Moment servierte Kaffee verschaffte ihr wenigstens eine kleine Atempause.

»Aber ich habe Sie jetzt lang genug an meinen Sorgen teilhaben lassen und will jetzt zur Sache kommen«, fuhr der Landeshauptmann fort, als seine Sekretärin die Tür von außen schloss. »Vielleicht haben Sie gelesen, dass voriges Wochenende ein recht bekannter Kremser Kunst- und Antiquitätenhändler bei einem Sturz in einem Weingarten ums Leben gekommen ist. Den Doktor Haberl habe ich seit dreißig Jahren gekannt. Leider glaubt seine Witwe, die ich natürlich auch gut kenne, dass jemand bei dem Tod etwas nachgeholfen hat. Weil im Privathaus der Haberls vier Wochen vorher eingebrochen worden ist.«

Spätestens jetzt drängte es sie, seinen Redefluss zu unterbrechen. »Und was ist gestohlen worden?«

»Dazu komme ich gleich. Jedenfalls habe ich, weil ich mir eingebildet habe, den Dienstweg einhalten zu müssen, den Marbolt ersucht, der Sache nachzugehen. Und zwar durch Sie. Dass er Sie einschalten soll, habe ich ihm ausdrücklich gesagt. Aber was macht der komische Vogel? Bildet sich offensichtlich ein, selbst der große Stern am Polizeihimmel zu sein. Fährt da gestern in die Wachau, kraxelt dort in den Weingärten herum und kommt dann mit einer wilden Theorie nach Hause. Jetzt komme ich zu Ihrer Frage. Im Polizeibericht, der dort drüben liegt« – er deutete mit einer Hand auf seinen Schreibtisch – »samt Obduktionsergebnis und dem Bericht des wirklich grenzgenialen Herrn Polizeidirektors – bekommen Sie selbstverständlich alles mit – ist vom Diebstahl einer kleinen Heiligenfigur aus dem Mittelalter die Rede. Wert nach damaligen Angaben von Doktor Haberl zehn- bis fünfzehntausend Euro. Doktor Marbolt glaubt aber, dass die Figur in Wirklichkeit viel mehr wert war. Er will nicht ausschließen, dass der Kunsthändler wegen dieses Verlustes so untröstlich gewesen ist, dass er sich das Leben genommen hat. Hätte er von einem Spitzenpsychologen, der viel zum Thema Selbstmord geforscht hat.«

Doris Lenhart stand auf und ging zum Schreibtisch. »Darf ich mir einmal den Obduktionsbericht ansehen?«

»Schauen Sie sich an, was immer Sie wollen.«

Die Chefinspektorin kam mit dem Akt in der Hand zur Sitzgarnitur zurück, blieb aber stehen und begann, in den Unterlagen zu blättern. »Weiß man übrigens, wer der Spitzenpsychologe gewesen ist?«

Der Landeshauptmann schüttelte den Kopf. »Ein Name ist nicht erwähnt.«

Sie merkte, dass der Landeshauptmann sie aufmerksam ansah. Sie setzte sich wieder, weil sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

»Also, der Obduktionsbericht ist eindeutig. Der Genickbruch ist durch den Sturz entstanden. Allerdings kann natürlich auch der beste Gerichtsmediziner nicht feststellen, ob der Mann vor seinem Sturz gestoßen worden ist. Es sei denn, der Stoß ist so heftig gewesen, dass er Spuren auf dem Körper hinterlassen hat. Wenn dieser Herr Haberl aber knapp am Rand der Stützmauer gestanden ist, dann reicht ein Schubs mit einem Finger. Oder ein kurzes Nach-hinten-Ziehen an den unteren Extremitäten, was eher für einen Genickbruch sprechen würde. So etwas lässt sich aber beim besten Willen nicht nachweisen.«

»So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Wenn der Landeshauptmann enttäuscht war, dann ließ er es sich nicht anmerken.

»Gibt es im Polizeibericht eine Angabe über die Höhe der Stützmauer?«, fragte sie.

»An der Stelle ist die Stützmauer angeblich fast drei Meter hoch. Sehr ungewöhnlich für einen Weingarten. Was halten Sie von der Selbstmordtheorie?«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, der in der Zwischenzeit ein wenig zu kühl geworden war. »Auch sehr schwer zu sagen. Es sind Fälle bekannt, da haben Dinge, die Sie oder ich als nicht der Rede werte Kleinigkeiten betrachten würden, Menschen so aus der Bahn geworfen, dass sie keinen anderen Ausweg als den Tod gesehen haben. Da macht es keinen Unterschied, ob eine Plastik zehntausend oder fünfhunderttausend Euro wert ist.« Sie blickte den Landeshauptmann an. »Ich nehme aber nicht an, dass Sie das der Witwe so sagen wollen.«

Der Landeshauptmann grinste. »Ich sehe, Sie verstehen meine Lage.«

»Das Einzige, was wir tun können, ist mit Frau Haberl noch einmal zu reden. Damit geben wir ihr zumindest das Gefühl, dass Sie sich um ihren Verdacht gekümmert haben. Vielleicht kommt sie sogar selbst zu dem Schluss, die Ergebnisse der Gerichtsmedizin nicht weiter infrage stellen zu müssen.«

Im Gesicht des Landeshauptmanns zeigte sich Erleichterung. Er stand auf. »Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, dass Sie ein Fixstern auf dem kriminalistischen Firmament sind, dann haben Sie ihn jetzt geliefert. Ich bin Ihnen überaus verbunden. Wenn es Ihnen recht ist, dann rufe ich bei nächster Gelegenheit den Herrn Innenminister an, um ihm zu sagen, wie begeistert ich von Ihnen bin. Ich werde Frau Haberl gleich davon informieren, dass sich das beste Pferd im Stall der österreichischen Kriminalpolizei Ihres Falles annehmen wird.« Er beugte sich vor, um die Unterlagen, die zwischen den beiden Kaffeetassen lagen, aufzunehmen. »Da bitte. Gehört jetzt Ihnen. Lassen Sie sich ruhig etwas Zeit mit Ihren Ermittlungen. Ich bin nämlich ab dem Wochenende zwei Tage in Brüssel. Außerdem wirkt eine Untersuchung, die eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, einfach gründlicher und seriöser.«