Dürnsteiner Puppentanz

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Freitag, 16. April 16 Uhr 50

Der Tag hatte für Josefa Machherndl ganz mies begonnen. Eigentlich schon die Nacht davor. Offenbar half nicht einmal mehr ihr heißgeliebter Marillenschnaps, mit dem sie sonst jeden Ärger zuverlässig hinunterspülen konnte. Sechs Stamperl zwischen neun und elf Uhr abends und keines davon hatte auch nur eine Spur von Trost geboten. Sie legte die Kuppe ihres linken Zeigefingers ganz vorsichtig auf die grau-schwarze Warze an ihrem Kinn, die heute eher eine grau-rote Tönung hatte. Wegen des getrockneten Bluts. Wieso musste sie auch nach so einer Nacht auf die Idee kommen, die beiden Haare zu kürzen, die aus der Warze herauswuchsen? Hätte wohl auch noch bis morgen Zeit gehabt. An diesem katastrophalen Fehl-Schnitt mit dem Rasiermesser, das zu allem Unglück erst vor einer Woche von einem Messerschmied in Krems geschärft worden war, konnte nur diese vermaledeite Maria Magdalena schuld sein. Als angebliche Heilige geradezu eine Provokation für alle treuen Dienerinnen der Kirche, die sich ihr ganzes Leben lang bemühten, den Versuchungen des Teufels zu widerstehen. In Josefas Fall selbstverständlich erfolgreich.

In aller Herrgotts Früh war sie schon mit dem alten Fahrrad von ihrem Haus in Oberloiben zur Stiftskirche gefahren. Auf der Fahrt hatte sie nicht einmal einen kurzen Blick auf die Marillenbäume geworfen, die links und rechts der alten Wachaustraße blühten. Denn auf dieser Fahrt war ihr, der pensionierten Dürnsteiner Gemeindesekretärin, klar geworden, dass sie unbedingt etwas unternehmen musste. Kneifen war ja so gar nicht ihre Art. Geradezu eine Frechheit, was sich diese deutschen Fernsehsender leisteten. Jede Woche mindestens eine Sendung über ein angebliches fünftes Evangelium. Gefunden in einer obskuren Wüstengegend und geschrieben von einem noch obskureren Philippus, der sich erdreistete, aus Jesus und dieser Hure Maria Magdalena ein Liebespaar zu machen. Mit allem Drum und Dran, an das sie lieber gar nicht denken wollte. Gestern wieder so ein Machwerk im TV. Fast zur Hauptsendezeit. Konnte nicht mehr lange dauern, bis auch österreichische Sender diesen Schund bringen würden. Nicht nur, dass diese Fernsehmacher alle linke Brüder und Schwestern waren. Jetzt machten sie sich auch noch daran, den Herrn und Meister systematisch in den Schmutz zu ziehen. Was für eine teuflische Strategie dieses gottlosen Packs. Wobei sie Jesus von einer gewissen Mitschuld gar nicht freisprechen wollte. Warum musste er für den Beweis, dass es für eine Umkehr nie zu spät sein würde, ausgerechnet eine Dirne auswählen? Eine reuige Oliven-Diebin hätte es doch auch getan. Mit zweitausendjähriger Verspätung begann sich das jetzt zu rächen. Jesus Christus war eben eine Person, die in der Öffentlichkeit stand. Eine solche Person musste bei der Wahl ihres Umgangs eben vorsichtig sein. Schon damals. Heutzutage wusste das doch jeder kleine Provinzbürgermeister.

Seit einiger Zeit kaufte sie in einer Trafik am Täglichen Markt in Krems alle Programmzeitschriften, derer sie habhaft wurde. Einerseits, um keine der Sendungen, die von diesem angeblichen neuen Evangelium handelten, zu versäumen. Andererseits, um sich einen Raster anzulegen, mit dem sie die zunehmende Häufigkeit dieser Schandberichte dokumentierte. Wäre doch gelacht, wenn sie diesen Spießgesellen des Teufels nicht die Masken vom Gesicht reißen könnte. Natürlich würde sie Verbündete brauchen. Den Dürnsteiner Pfarrer hatte sie schon darauf angesprochen. Aber der schien kein Interesse an der Sache zu haben. Kein Wunder, dass es bei solch lahmarschigen Vertretern mit der Kirche bergab ging. Wenn sie das früher gewusst hätte, hätte sie ihm die Bitte, für den Blumenschmuck der Stiftskirche zu sorgen, wahrscheinlich abgeschlagen. Ihren Blumendienst heute Früh hatte sie jedenfalls mit heftigem Widerwillen erledigt. Wenigstens hatte ihr der Erlöser, als sie gerade vor dem Hochaltar stand, einen Geistesblitz eingegeben. Sie sollte sich an den Chef des Pfarrers, den Propst von Stift Herzogenburg, wenden. Der war ja ein gelernter Fleischhauer. Also ganz sicher kein Weichei, und schon allein deshalb ein Mann nach ihrem Geschmack.

Ihr Kopf brummte. Immer noch beinahe so stark wie um sechs Uhr, als der Wecker geläutet hatte. So früh aufzustehen war sie seit ihrer Zeit als Gemeindesekretärin gewohnt. Sie hatte nie einen Grund gesehen, im ungeliebten Ruhestand von dieser Gewohnheit abzuweichen. Weder die Fahrt mit dem Rad und noch weniger ihre morgendliche Beschäftigung in der Stiftskirche hatten Linderung gebracht. Sie war sicher, dass die Kopfschmerzen nur von ihrem Ärger über die gestrige Fernsehsendung herrühren konnten.

Nach dem Mittagessen mit bereits am Vortag zubereiteten Fleischlaberln samt Erdäpfelpüree war bei ihr der Entschluss gereift, noch einmal nach Dürnstein zu fahren, um an der Schiffsanlegestelle den Touristenstrom zu beobachten, der die MS Wachau bestieg. An der Massenansammlung an sich hatte sie kein Interesse. Sie wollte lediglich die Menschen zählen, die die Frechheit gehabt hatten, sich am Blumenschmuck der Kirche zu vergreifen und ihn als Andenken an den Ausflug nach Dürnstein mitzunehmen. Solchem Pack sollte der Eintritt in ein Haus Gottes verboten sein.

Jetzt saß sie auf einer Bank nahe der Anlegestelle. Vor ihr Treppelweg und Donau, hinter ihr die Mauer von Schloss Dürnstein, die ihr den Blick auf den Turm der Stiftskirche verstellte. Zum Glück. Scheußliche Farbe. Die meisten Leute hatten sich in der Zwischenzeit an die hellblaue Fassade gewöhnt und wollten sich gar nicht mehr daran erinnern, wie heftig ihr Widerstand gegen die Vorgabe des Denkmalamts bei der Restaurierung des Turms vor mehr als dreißig Jahren gewesen war. Sie war stolz darauf, aus einem ganz anderen Holz geschnitzt zu sein. Die Farbe des Turms blieb ihr verhasst und das betonte sie bei jeder Gelegenheit. Trotz aller Ärgernisse genoss die ehemalige Gemeindesekretärin die ehrerbietigen Grüße der Dürnsteiner, die die wärmende Nachmittagssonne für einen kleinen Spaziergang auf dem Treppelweg nutzten. Einmal Respektsperson, immer Respektsperson. Zu ihrer Freude würdigten ihre Dürnsteiner Mitbürger die Touristenschlange keines einzigen Blickes.

Sie schätzte die Zahl derer, die aufs Schiff wollten, auf mindestens hundert. Und mindestens jede zehnte Person hielt ganz ungeniert eine Narzisse oder eine Tulpe in der Hand. Eine Frau hatte offenbar die Frechheit gehabt, sogar einen Topf mit violetten Krokussen mitgehen zu lassen. Alles Blumen, davon war sie überzeugt, die sie gestern in Dürnstein und Umgebung mühsam zusammengebettelt hatte. Vor vierzig, fünfzig Jahren hatten es die Dürnsteiner ja noch für eine Ehrenpflicht gehalten, eifrig für den Herrn zu spenden. Heutzutage alles längst vorbei.

Nachdem das Schiff endlich abgelegt hatte, stand sie auf und bestieg ihr Rad. Der Gedanke an den heimischen Marillenschnaps flößte ihr eine gewisse Vorfreude ein. Heute würde der Schnaps ihr seine tröstende Wirkung nicht versagen. Da fiel ihr Blick auf ein mannsgroßes Etwas, das sich in einem kleinen Strudel auf und ab drehte, um dann weiter stromabwärts zu treiben. Josefa Machherndl war stolz auf ihre Augen. Was ihr Adlerblick da erspähte, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Es konnte keinen Zweifel geben. In knapp fünfzig Metern Entfernung trieb eine Leiche. Den Schädel wie mit einer Hacke eingeschlagen. Jetzt versank sie. Im nächsten Moment tauchten die Beine wieder auf, dann der Rumpf, dann tauchten sie wieder unter. Leblos. Unfassbar. Niemand schien etwas zu bemerken. Zehn Meter stromabwärts waren wieder ein paar Teile knapp an der Wasseroberfläche zu sehen.

Die beiden Lehrer, die mitsamt ihren Schulklassen gerade von Bord des Schiffes gegangen waren, wollte sie unter keinen Umständen alarmieren. Ihre Beobachtung würde den Kindern womöglich einen Schock versetzen. Nach kurzer Überlegung entschied sie, auch den Radfahrer nicht anzuhalten, der gerade den Treppelweg fröhlich pfeifend entlang fuhr. Das sollte einzig und allein ihr Fall sein. Bei so etwas kannte sie sich aus. Schließlich war sie ja schon einmal im Zentrum einer Mord-Untersuchung gestanden. Oder zumindest in der Nähe des Zentrums.

Freitag, 16. April 17 Uhr 07

Doris Lenhart war so aufgekratzt, dass sie einen ABBA-Song trällerte. Einen so populären, dass auch er ihn kannte. »Waterloo,… Waterloooo«, sang er leise mit und lehnte seinen massigen Körper an den Türrahmen.

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu, trällerte jedoch weiter und ließ sich auch sonst nicht von den letzten Handgriffen in ihrem Büro abhalten. Freitag, 17 Uhr, war Dienstschluss.

»Waterloo handelt von einer verlorenen Schlacht«, kommentierte er. »Kein passender Song, um sich auf das Wochenende einzustimmen.«

»Banause!«, schimpfte sie, während sie ihren Computer abschaltete. »Waterloo handelt von der Übermacht der Liebe.«

»Du freust dich wohl auf euren Kochkurs. Freu’ dich nicht zu früh. Mörder arbeiten auch nach Dienstschluss. Sogar in Österreich.« Er nippte an dem Becher aus Pappendeckel, den er seit fünf Minuten in der Hand hielt. Pappendeckel passte hervorragend zu der wenig repräsentativen grau-beigen Büroeinrichtung. Und der unnötige Papierhenkel passte zu den Fenstern, die Formen und Ausmaße von Schießscharten hatten. Sogar ihn, dem jeglicher Sinn für Ästhetik fremd war, störten diese schmalen Fenster. Bei jedem Blick hinaus stellte er sich die Frage, ob der verantwortliche Architekt das Gebäude in der Überzeugung geplant hatte, die Polizei vor Attacken anstürmender Verbrecherhorden schützen zu müssen. »Scheußliches Gesöff«, murrte er. »Mit der Besteilung einer neuen Kaffeemaschine könntest du unsterblich werden.«

»Das werde ich auch ohne neue Kaffeemaschine. Bist du am Sonntag wieder auf einem Fußballplatz unterwegs?«

»Klar, in Hohenau. Nicht gerade eine Traumgegend, aber immer noch besser als euer Kochkurs. Was dein Erich dort soll, ist mir schleierhaft.«

 

»Mein Erich weiß wenigstens, was eine Frau glücklich macht. Wenn du den Kochlöffel beizeiten geschwungen hättest, dann wäre deine Frau vielleicht bei dir geblieben.« Mit einem Seufzen nahm sie die Tulpen auf ihrem Schreibtisch, die schon den Kopf neigten, aus der Vase. Über dem Mistkübel hielt sie inne, überlegte es sich offenbar anders, zog ein kleines Messer aus der Schreibtischschublade, schnitt die braunen Stellen unten an den Stielen weg, holte frisches Wasser und stellte die Tulpen zurück in die Vase.

Er schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen, dass die Blumen das Wochenende überlebten.

»Oder wenn du wenigstens dein Hemd über deinem Bauch zugeknöpft hättest«, kommentierte sie sein Kopfschütteln.

Widerwillig nahm er einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er an dem Becher vorbei an sich hinabblickte. Allerdings machte er keine Anstalten, sich das Hemd über dem Gürtel zuzumachen. »Frauen stehen doch auf Männerbäuche. Habe ich einmal gelesen.«

Seine Chefin warf ihm einen Blick zu, den er nur zu gut kannte. »Es ist wirklich ein Jammer mit dir. Mein innigster Wunsch ans nächste Christkind ist, dass du einmal in einem Gewand im Büro aufkreuzt, in dem du nicht die Nacht davor geschlafen hast. Ein einziges Mal würde mir schon genügen.«

Er kraulte seinen Bart, von dem er wusste, dass der ihn zusammen mit seinem Leibesumfang wie eine Kopie von Bud Spencer aussehen ließ. An seinen bürointernen Spitznamen »Spencer« hatte er sich längst gewöhnt. »Kann ich dir leicht versprechen. Bis zu den nächsten Weihnachten hat mich nämlich unser hochverehrter Herr Polizeidirektor längst in Pension geschickt.«

»Schafft er nur über meine Leiche.« Doris Lenharts Augen blitzten.

Aber auch ohne dieses Blitzen, dessen einschüchternde Wirkung auf manchen Verbrecher er nur zu gut kannte, hätte er, der fünfzehn Jahre älter war als seine Chefin, gewusst, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie hatte in den letzten Monaten wie eine Löwin für ihn gekämpft und sie würde das auch weiterhin tun.

»Außerdem würde ich nicht darauf wetten, dass wir unseren hochverehrten Chef noch bis Weihnachten haben.« Das Blitzen in ihren Augen wich einem verschmitzten Zwinkern. »Meine Wiener Spione berichten mir, dass er auf einen Sprung nach oben spitzt.«

»Oh.« Er rieb sich vergnügt den Bauch. »Deine Spione versüßen mir mein Wochenende auch ohne Mehlspeis-Kurs bei einem Meisterkoch.«

Doris strich sich eine Strähne ihres kohlrabenschwarzen Haares, ein Erbe ihrer Großmutter, wie sie ihm einmal erzählt hatte, aus dem Gesicht. »Von mir aus kann er gern nach oben springen. Hauptsache, er springt von St. Pölten weg.«

»Exzellente politische Verbindungen zahlen sich halt immer aus.« Er löste sich vom Türrahmen, stellte den Pappbecher auf ihren Schreibtisch und fläzte seine hundertfünf Kilo in den davor stehenden Sessel, der wie üblich mit einem leisen Ächzen antwortete. »Du willst wohl sagen, dass große Idioten besonders gern noch größere Dummköpfe rekrutieren.«

Da klopfte es an der offenen Tür. Ein Mitarbeiter, der offenbar Journaldienst hatte, wandte sich an Doris Lenhart. »Da ist eine Frau Machherndl am Apparat, die sich absolut nicht abwimmeln lässt. Sagt, dass sie unbedingt mit Ihnen sprechen muss.«

Malzacher schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Um Himmels willen. Die alte Schnapsdrossel hat uns gerade noch gefehlt. Hast du nicht gerade etwas von ‚Waterloo‘ gesungen?«

Offensichtlich hatte sie seine Spitze nicht gehört oder überhört, was er eher vermutete. In solchen Dingen war sie eine absolute Meisterin und ihm haushoch überlegen. Stattdessen blickte sie den Beamten an.

»Hat sie gesagt, weswegen sie mit mir sprechen möchte?«

»Absolut nicht aus ihr herauszukriegen. Will es nur Ihnen sagen.« Der Journalbeamte machte ein unglückliches Gesicht.

Doris ließ sich die Laune jedoch sichtlich nicht verderben. Mit dem Anflug eines bösen Lächelns deutete sie auf die Stelle, wo sein Bauch zwischen den Hemdknöpfen zum Vorschein kam. »Ich bin schon auf dem Sprung zu einem wichtigen Termin. Du redest mit ihr.«

»Sorry, das ist dein Waterloo.« Nun war es an ihm, verschmitzt zu grinsen. »Sie will nur mit dir reden, wie du ja gehört hast. Abgesehen davon bin ich dafür nicht der Richtige. Bei Nervensägen neige ich dazu, meine gute Erziehung zu vergessen.« Er kraulte einmal mehr seinen Bart. »Aber ich habe einen Vorschlag zur Güte. Du sprichst mit ihr, aber schaltest den Lautsprecher ein. Damit ich dich seelisch unterstützen kann, wenn das Gespräch aus dem Ruder läuft.«

Doris gab dem an der Tür wartenden Beamten einen Wink. »Dann geben Sie mir die Gute halt in Gottes Namen.«

Kurze Zeit später war die pensionierte Gemeindesekretärin in der Leitung. »Hier Frau Machherndl aus Dürnstein. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich.«

»Wie könnte ich Sie je vergessen. Wo brennt es denn?«

Er reckte seinen rechten Daumen hoch, während die Chefinspektorin begann, die Strähne ihres Haars, die wieder in die Stirn gefallen war, um ihren Zeigefinger zu drehen.

»Ich möchte einen Mord melden.«

Er sah, wie sich der ganze Körper seiner Chefin plötzlich anspannte, und sie die Haarsträhne wieder ins Gesicht fallen ließ. Er merkte aber auch sofort, dass sie sich um betonte Ruhe und Unaufgeregtheit bemühte.

»Und wo soll der Mord passiert sein?«

»Woher soll ich denn das wissen? Ich bin ja nicht dabei gewesen.«

Doris Lenhart holte tief Luft. »Frau Machherndl, woher wollen Sie dann wissen, dass es einen Mord gegeben hat?«

»Weil ich die Leiche gesehen habe. Sie schwimmt in der Donau.«

Die Leiterin der niederösterreichischen Mordkommission nahm einen auf ihrem Schreibtisch liegenden Kugelschreiber in ihre Hand.

»Und wo genau wollen Sie die Leiche in der Donau gesehen haben?«

»Frau Lenhart, als ehemalige Dürnsteiner Gemeindesekretärin, die immer für ihre Genauigkeit bekannt gewesen ist, sage ich Ihnen eines ganz klar: Ich will nicht eine Leiche gesehen haben, sondern ich habe sie gesehen.«

»Ist ja gut, Frau Machherndl. Also, wo haben Sie die Leiche gesehen?«

»Bei der Schiffsstation Dürnstein. Es ist keine drei Minuten her, da ist sie an mir vorbei getrieben. Ich bin nämlich auf einer Bank am Ufer gesessen.«

»In welcher Entfernung ist das Objekt an Ihnen vorbeigeschwommen?«

»Vierzig bis fünfzig Meter. Und meine Augen sind immer noch so gut, dass ich keine Brille brauche. Daher weiß ich auch, dass es kein Objekt sondern ein toter Mensch gewesen ist. Dem hat ein ganzes Eck vom Schädel gefehlt.«

Ihm war spätestens in diesem Moment klar, dass sie der Sache nachgehen mussten. Schnapsdrossel hin oder her.

»Gut, Frau Machherndl, wir kümmern uns darum. Wo können wir Sie erreichen, falls wir Sie noch brauchen?«

»In meinem Haus in Oberloiben. Und ich gehe davon aus, dass Sie mich bestimmt noch brauchen werden. Meine Telefonnummer haben Sie ja.«

Er war sicher, dass Doris die Nummer längst weggeschmissen hatte. War ja schließlich mehr als ein Jahr her, dass sie zum letzten Mal mit Josefa Machherndl gesprochen hatte.

»Selbstverständlich.«

Lügnerin, dachte er. Aber toll, wie sie es verstand, gut- Wetter zu machen.

»Und was werden Sie in dem Fall tun?«

»Das werde ich gleich mit meinem Stellvertreter, dem Herrn Chefinspektor Malzacher, besprechen, der gerade mir gegenüber sitzt.«

»Ist das noch immer der unmögliche ältere Herr mit dem dicken Bauch?«

»Auf Wiederhören, Frau Machherndl. Und nochmals Dank für Ihren Anruf.«

Die Chefinspektorin legte auf und sah ihn an. Sichtlich quietschvergnügt.

»Einen sehr tollen Eindruck hast du ja bei ihr nicht hinterlassen. Aber für eine Schnapsdrossel scheint sie noch sehr gute Augen zu haben. Zumindest was dich betrifft.«

»Blöde Kuh.«

»Und was hältst du von ihrer Geschichte?«

Er kratzte sich am Ohr. »Zwar nicht sehr viel, aber zu meinem Leidwesen auch nicht so wenig, dass wir es uns leisten könnten, sie zu ignorieren.«

»Sehe ich genauso. Sichtbar eingeschlagener Schädel. Wenn das stimmt, dann kann es kein Schwimmer gewesen sein, der sich totgestellt hat. Aber eine Leiche müsste doch eigentlich untergehen.« Sie rieb sich nachdenklich am Kinn. »Egal. Wenn die Machherndl die angebliche Leiche vor ein paar Minuten bei der Anlegestation in Dürnstein gesehen hat, dann kann sie ja noch nicht weit weitergetrieben sein. Also: Du verständigst in Krems die Strompolizei. Die sollen die Donau zwischen Krems und Loiben absuchen. Zur Sicherheit aber bis Dürnstein fahren. Vielleicht ist ja dort etwas ans Ufer gespült worden.«

Freitag, 16. April 17 Uhr 05

Der Kapitän hatte auf seinem Steuerstand so lange gewartet, bis der letzte Passagier in Krems von Bord gegangen war. Er zog den Knoten seiner roten Krawatte enger und rückte seine weiße Mütze so zurecht, dass sie auf seinem Kopf ganz leicht, aber erkennbar, schief saß. Nach rechts abfallend. Würde ihm nach Meinung seiner Frau ein besonders schneidiges Aussehen verleihen. Dann verabschiedete er sich von seinem Steuermann mit Handschlag und winkte den auf dem Deck stehenden Mitgliedern der Crew zu.

Er war froh, nur ein paar Schritte von der Anlegestelle entfernt einen reservierten Parkplatz zu haben. Weil Parken an dieser Stelle ein riesiges Problem war. Viele Passagiere ließen sich deshalb von Verwandten oder Bekannten mit dem Auto abholen. Nachdem die MS Wachau deutliche Verspätung gehabt hatte, würde heute kaum jemand auf seinen Chauffeur warten müssen.

Zu seiner Überraschung standen noch immer sechzig bis achtzig Leute um die Anlegestelle herum, einige sogar noch auf dem Ponton. Als er das Schiff verließ, wusste er genau, was folgen würde. Kameras und Handys wurden mit ihm als Ziel gezückt und einige Passagiere wollten sich mit ihm gemeinsam fotografieren lassen, wobei sich zwei Damen bei ihm sogar einhängten. Er war diese Prozedur gewohnt und ließ sie geduldig und auch recht gern über sich ergehen. Kundenzufriedenheit war für ihn oberstes Gebot. Allerdings hatte er eine eiserne Regel: Er würde sich nie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen lassen. Nicht einmal ins der Anlegestelle gegenüberliegende »Wellenspiel«. Das probierten alleinstehende Damen immer wieder.

Kaum war er mit der Foto-Prozedur fertig, steuerte ein schlanker, bebrillter Mann auf ihn zu, an den er sich erinnerte. Es war der Passagier, der die Vogelscheuche fotografiert hatte. In der Hand hielt er ein Tablet.

»Entschuldigung, Herr Kapitän. Ich wollte Ihnen nur das Foto zeigen, das ich gemacht habe. Ich habe es jetzt rüberkopiert.« Er hielt ihm den Bildschirm hin. »Hier in der Vergrößerung, sehen Sie? Ich habe mich geirrt. Es war doch keine Vogelscheuche.«