Dürnsteiner Puppentanz

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Freitag, 16. April 17 Uhr 09

Was für ein Kaff. Gföhl. Der Ort genauso nichtssagend wie sein Name. Noch gestern um diese Zeit hätte ihn das gar nicht gestört. Weil er zu dieser Zeit noch überzeugt gewesen war, hier seine Abschiedsvorstellung als niederösterreichischer Polizeidirektor zu geben. Die hätte von ihm aus auch in Alt-Nagelberg oder Großmugl stattfinden können. Alles Orte, die er ohnehin kein zweites Mal in seinem Leben sehen würde.

Heute stand die Eröffnung der neuen Polizeistation auf dem Programm. In Wahrheit nur ein Umbau. Er hatte sich alle Mühe gegeben, aus der Veranstaltung ein großes Fest zu machen. Nicht nur dem Image der Polizei, sondern auch dem Landeshauptmann zuliebe, der schon vor sechs Wochen sein Kommen zugesagt hatte. Ihn würde er ja auch in seiner neuen Funktion gut brauchen.

Wenigstens war das Wetter hervorragend. Blauer Himmel. Die Frühlingssonne spendete ausreichende Wärme. Kein Wind, allenfalls ein Lüftchen, schwer beladen mit dem aufdringlich süßen Duft des Flieders an der Mauer da drüben. Dazu allerlei Blütenpollen, die ihn in der Nase juckten. Im wahrsten Sinne des Wortes reizend war es hier im Freien. Auf dem Hauptplatz. Eine Festveranstaltung mit allem Drum und Dran. Örtliche Blasmusikkapelle. Glanzpolierter Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr. Mit Frühlingsblumen bekränzte Weinkönigin im Dirndl. Die Gföhler Gemeinderäte und sonstigen Honoratioren vollständig angetreten. Und gut hundert Personen als Publikum. Begrüßung durch den Bürgermeister, dessen Nase eine innige Beziehung zu alkoholischen Getränken aller Art verriet. Selbstverständlich mit dem Herrn Landeshauptmann als erstem Adressaten der Grußbotschaft. Dann hatte der Gemeindevorsteher aber als zweiten Ehrengast nicht ihn, sondern die neue Sicherheitssprecherin der Volkspartei begrüßt. Landtagsabgeordnete Katharina Krenn. Sie saß neben ihm, zog die Blicke auf sich und stahl ihm, Wolfgang Marbolt, dem obersten Sicherheitsverantwortlichen des Landes, die Show. Das tat weh. Aber lang nicht so weh wie der Telefonanruf eines guten Freundes gestern Abend.

Jetzt saß er in der ersten der vor dem Gemeindeamt aufgestellten sechs Reihen und tat so, als würde er den salbungsvollen Worten des Landeshauptmanns aufmerksam lauschen. Die ölige Stimme schien ihm heute den falschen Zungenschlag, den er bei Reden des Landesfürsten immer zu hören glaubte, besonders deutlich zu unterstreichen. Neben sich die Sicherheitssprecherin. Zugegeben attraktiv, aber in Sicherheitsfragen völlig unbeleckt. Eigentlich hatte er erwartet, vor der Besetzung dieser Position vom Landeshauptmann zumindest konsultiert zu werden. Wozu war er denn der oberste Sicherheitsbeamte des Landes? Aber nichts dergleichen. Als ob er Luft wäre.

Aber der Landeshauptmann und seine Abgeordnete konnten ihm heute so oder so gestohlen bleiben. Seine Gedanken kreisten um ein viel dringenderes Problem. Wie sollte er das Desaster seiner Frau erklären? Warum war er auch so dumm gewesen? Vor drei Wochen hatte er ihr gegenüber geprahlt, dass die öffentliche Ausschreibung eine reine Formsache sei. Weil er den Posten ohnehin schon so gut wie in der Tasche habe. Und dann vor knapp 24 Stunden die niederschmetternde Nachricht. Zwar inoffiziell, aber aus sicherer Quelle. Die sprudelten für ihn ja noch immer. Der Herr Innenminister habe sich für einen anderen Kandidaten entschieden. Dieser Hurensohn. Fand es nicht einmal der Mühe wert, ihn persönlich von seiner Entscheidung zu informieren. Ihn, der fast drei Jahre lang als Büroleiter mit seinem Chef ein Herz und eine Seele gewesen war. Die ganze Drecksarbeit, deren Erledigung der hohe Herr, feige wie Politiker eben waren, wie die Pest hasste, hatte er ihm abgenommen.

Dabei hatte er es geahnt. Aus dem Innenministerium hätte schon viel früher eine positive Nachricht kommen müssen. Schon seit einer guten Woche hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gefühl hinterließ bereits Spuren außerhalb des Magens. Im Büro war er noch kürzer angebunden gewesen, als es ohnehin seine Art war. Als Vorgesetzter war er nie einer von der Bussi-Bussi-Sorte gewesen. Wollte er auch nie wirklich sein, obwohl ihm in dem Punkt sein Minister ein großes Vorbild hätte sein können. War eben ein typischer Politiker, der den Höhepunkt seiner Karriere noch vor sich zu haben glaubte. Selbstverständlich mit halb Österreich per Du. Er hingegen war auf Distanz bedacht.

In den letzten Tagen auch mehr Alkohol als üblich. Sogar Whisky, den er eigentlich gar nicht mochte. Nur für hochrangige Besucher hatte er den in seinem Büro vorrätig. Die gaben ihm für seinen Geschmack allerdings viel zu selten die Ehre. Weil er seine Vorzimmerdamen nicht um ein Glas bitten wollte, hatte er gestern sogar einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen, oder auch zwei. Für ihn ein deutliches Signal, dass er mit sich nicht im Reinen war. Ein weiteres Signal dieser Art: Seine Frau war vorgestern durchaus in Stimmung für Sex gewesen. Kam nicht sehr häufig vor. Aber nicht einmal dazu hatte er Lust gehabt.

Seit gestern Nacht zermarterte er sich sein Gehirn. Wie war es nur möglich gewesen, dass er mit seiner Bewerbung nicht zum Zug gekommen war? Für eine Position wie maßgeschneidert für ihn. Generalsekretär des Innenministeriums. Also die klare Nummer Zwei. De facto eigentlich die Nummer Eins. Weil sich der Minister ja nie um operative Angelegenheiten kümmerte. Mit sieben Sektionschefs als Untergebenen. Selbstverständlich mit einer speziell für ihn entworfenen Uniform. Er sah an sich hinunter. Wie er seine jetzige Arbeitskleidung hasste, mit der er sich von seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern nicht unterscheiden konnte. Nicht einmal von denen aus Vorarlberg oder dem Burgenland. Dabei waren diese Bundesländer gerade einmal so groß wie ein einziger politischer Bezirk in Niederösterreich.

Der Landeshauptmann salbaderte dahin. Von der Präsenz der Polizei, die dem Volk Sicherheit vermitteln würde. Er galt wohl nur deshalb als guter Redner, weil alle anderen Politiker noch ermüdender redeten. Müde. Das war der Punkt. Diese ganze Sache machte ihn unendlich müde. Wahrscheinlich war er einer läppischen Intrige zum Opfer gefallen. Wenn er nur dahinterkommen würde, wer warum welches Gift in das Ohr des Innenministers geträufelt hatte, würde er gegensteuern können. Information war der Schlüssel zum Erfolg. Früher war er im Zentrum des Informationsflusses gesessen. Aber jetzt, jetzt saß er in Gföhl, in St. Pölten, oder sonst irgendwo im niederen Österreich, abseits der wichtigen Kanäle, abseits der Büros der Macht. Was für ein leichtgläubiger Mensch sein früherer Chef doch war. Immer auf die Person hörend, die sein Büro als letztes betreten hatte. Gerade deshalb hätte der Minister ihn als Generalsekretär so dringend gebraucht: weil er ein untrügliches Gespür für Intrigen hatte. Wie fein gesponnen sie auch immer sein mochten. Dabei half ihm seine überragende Menschenkenntnis. Als Leiter des Ministerbüros war er im ganzen Ministerium für diese Menschenkenntnis berühmt und gefürchtet gewesen. Der Minister mochte ja über eine Reihe von Qualitäten verfügen, aber Menschenkenntnis gehörte sicher nicht dazu.

Applaus. Applaus. Offensichtlich war der Landeshauptmann mit seiner Rede am Ende. Wenigstens etwas. Der Marsch, den die Kapelle jetzt intonierte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Diese Amateurmusikanten spielten doch immer dasselbe. Und der Landeshauptmann griff zum Taktstock. Der war sich auch für nichts zu blöd. Naja. Jetzt noch schnell ein bis zwei Gläser Wein, dann Händeschütteln mit den Ehrengästen und ab nach Hause.

Morgen beim Frühstück musste er seiner Britta endlich reinen Wein einschenken. War ohnehin eine schauspielerische Meisterleistung von ihm gewesen, beim gestrigen Abendessen so zu tun, als könnte er den Anruf des Ministers gar nicht mehr erwarten. Mit der Nachricht, die sie wahrscheinlich noch schlimmer treffen würde als ihn selbst, konnte er nicht länger hinterm Berg halten. Sonst würden ihm die Buschtrommeln womöglich zuvorkommen. Britta hasste dieses Niederösterreich noch mehr als er. Und überhaupt St. Pölten. In seiner Bedeutungslosigkeit höchstens von Eisenstadt übertroffen.

Ihre Wiener Arroganz würde er nie verstehen. Schließlich hatte sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Genossenschaftswohnung in Liesing gewohnt. Auch nicht besser als St. Pölten. Aber sie tat immer so, als wäre sie in einer hochnoblen Cottage-Villa in Hietzing oder Grinzing aufgewachsen. Eines aber musste er ihr lassen: Wenn es darauf ankam, hatte sie einen geradezu sagenhaften Instinkt. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Vielleicht konnte sie erraten, über welche Intrige er zu stolpern drohte.

Als er von seinem Sessel aufstand, fiel sein Blick auf das von der Sonne angestrahlte blonde Haar seiner Sitznachbarin. Die Frau Landtagsabgeordnete hätte ein gutes Model für eine Shampoo-Werbung abgegeben. Ihr Haar war beinahe so perfekt wie das von… Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Um Himmels willen! Das Model! Der Polizeiball vor zwei Monaten. Konnte der schuld an der Katastrophe sein? Britta war damals jedenfalls richtig wütend auf ihn gewesen.

Er hatte damals den Auftrag gegeben, den Polizeiball wieder zum Höhepunkt der Saison zu machen. Über die letzten Jahre war diese einst leuchtende Rose im St.Pöltner Ballkalender zu einem mickrigen Mauerblümchen verkümmert. Da galt es, keine Kosten und Mühen zu scheuen. Einem Mitglied des Organisationskomitees war die Idee gekommen, ein in Deutschland sehr bekanntes Erotik-Model für die Mitternachtseinlage zu engagieren. Das hatte ihm gefallen. Sozusagen als Kampfansage gegen den St. Pöltner Mief. Und gegen den niederösterreichischen gleich dazu. Die Lady war auch ein voller Erfolg gewesen. Bei den Medien schon im Vorfeld. Vor Ort bei den Herren aller Altersgruppen. Und auch bei den Damen, zumindest bei den jungen. Sowohl der Landeshauptmann als auch der Minister, die stark akklamierten Ehrengäste des Balls, hatten während der Vorstellung Stielaugen. Daher war er sehr zufrieden gewesen. Anders als seine Britta hatte er allerdings die Ehefrauen der beiden Politiker nicht beobachtet. Auf der Heimfahrt vom Ball war sie dann fuchsteufelswild gewesen. Warum hatte er nicht dafür gesorgt, dass die Damen der beiden hohen Herren während der Mitternachtseinlage weggelotst wurden? Ins Spielcasino im ersten Stock oder sonst wohin, wo sie die gierigen Blicke der Ehemänner nicht aus nächster Nähe mit ansehen mussten. Diese Dummheit würde ihm noch auf den Kopf fallen, hatte ihm seine Britta prophezeit. Denn der Landeshauptmann und der Minister würden ihn dafür verantwortlich machen, wenn bei ihnen der Haussegen wegen des tanzenden Models schief hing.

 

Er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Zwar konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob er die Verhinderung seiner Beförderung wirklich zwei spießigen Ehefrauen zu verdanken hatte. Aber er wusste aus vielen Erlebnissen, dass der Minister unter dem Pantoffel seiner Frau nicht nur stand, sondern geradezu darunter verschwand. Britta würde in diesem Faktum ganz sicher die Ursache der Misere sehen. Und er musste zugeben, dass ihr Instinkt sie wirklich selten trog.

Er blickte auf sein Handy, das er zu Beginn der Zeremonie auf lautlos gestellt hatte. Eine neue Nachricht: »Der Minister möchte Sie sehen. Bitte um Anruf Montag Früh.« Sein Herz machte einen Sprung. Sein ehemaliger Chef würde ihn nie zu sich bestellen, um ihm eine negative Nachricht zu geben. Dazu war er viel zu feig. Hatte er es sich doch anders überlegt?

Freitag, 16. April 17 Uhr 20

Zwar war es noch hell, aber die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden. Wegen den dunkel getönten Scheiben seines Wagens war von außen wohl höchstens schemenhaft zu erkennen, dass er mit dem Fernglas das Wasser absuchte. Kein anderes Auto stand auf diesem kleinen Parkplatz am Ufer. Hier war er schon oft allein gewesen. Meistens, um keine hundert Meter weiter stromaufwärts in die Donau zu steigen und sich bis Krems treiben zu lassen. Unter der Mauterner Brücke durch, wobei er dabei immer darauf versessen war, ganz nah an einen Brückenpfeiler heranzuschwimmen. Um sich seinen Mut zu beweisen. Schon als Zwölfjähriger hatte er begonnen, hart zu trainieren. Gern wäre er ein sehr schneller Schwimmer geworden. Aber andere waren noch schneller. Auch, weil er erst spät gewachsen war. Bis zum Ende der Schulzeit war er kleiner gewesen als seine Altersgenossen. Wenigstens hatte die Ausbildung zum Rettungsschwimmer geklappt.

Jetzt saß er nicht an diesem Platz, um in die Donau zu springen und sich neuerlich seinen Mut zu beweisen. Dazu hätte er heute einen Neoprenanzug gebraucht. Die Temperatur des Wassers schätzte er wegen des langen Winters auf maximal neun Grad.

Heute hatte seine Anwesenheit hier einen anderen Grund. Er zitterte. Obwohl es in seinem Auto sehr warm war. Er zitterte, weil er Angst hatte, sein Plan würde schon im ersten Anlauf scheitern. Dieses Zittern kannte er von früher. Fühlte sich ganz anders an als ein Frösteln, das ihm selbstverständlich ebenfalls vertraut war. Er fröstelte, wenn ihm kalt war. Er zitterte, wenn er Angst vor Misserfolg hatte.

Durch sein Fernglas blickte er über die Donau, hinüber zur Terrasse des Schlosshotels Dürnstein. Recht voll für Mitte April. Den Menschen schien die Kühle, die vom Fluss aufstieg, nichts auszumachen. Ein Paar an der Brüstung machte immer wieder schwungvolle Bewegungen mit den Armen. Offenbar warfen die beiden ein paar frechen Spatzen Krümel von ihrer Mehlspeise zu. Weiter oben erblickte er eine Gruppe von Leuten, die den steilen Weg von der Ruine herabstiegen. Durch das Fernglas alles gut zu erkennen. Aber auf der Donau selbst regte sich nichts.

Er war froh, im Auto sitzen zu können. Seit seiner Kindheit reagierte er äußerst empfindlich auf Kälte. Sehr robust war man in seiner Familie ja seit Generationen nicht gewesen. Sein Vater war schon im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben. Und seine Mutter mit vierundsechzig. Und sein Bruder sogar schon mit vierzehn.

In letzter Zeit hatte er sich öfter bei der Frage ertappt, wie lange er wohl selbst noch leben würde. Nicht, dass ihn ein frühes Ende übermäßig gestört hätte. So toll war sein bisheriges Leben ja nicht gewesen. Viel stärker als die mögliche Dauer seines Lebens hatte ihn seit vielen Jahren die Frage beschäftigt, warum ihm von seinen Eltern nicht die Gene, die er für ein erfolgreiches Leben hätte brauchen können, in die Wiege gelegt worden waren. Er hatte Erfolgsmenschen in seinem Umfeld über Jahre studiert. Fast alle waren intelligent, zum Teil sogar hochintelligent. Es war ein Lügenmärchen, dass Erfolg im Beruf auch ohne Intelligenz zu haben war. Aber daran allein konnte es nicht liegen. Er selbst hatte ja schon als Schüler als begabt gegolten. Nicht ganz so talentiert wie sein verstorbener Bruder, aber immerhin. Seinen Beobachtungen zufolge hatten Erfolgsmenschen ihm bestimmte Eigenschaften voraus: Sie hatten wesentlich kräftigere Ellbogen, die sie nicht nur benutzten, um sich vorzudrängen. Sie rammten damit auch ohne Hemmungen alle beiseite, die ihnen im Weg standen. Sie waren berechnender und ohne Mitgefühl. Schlossen nur Freundschaft mit Menschen, von denen sie sich etwas versprachen. Und logen, ohne rot zu werden, wenn die Lüge ihren Interessen diente. Manchmal fragte er sich, ob er diese Fähigkeiten insgeheim auch alle gern gehabt hätte. Kleinere Anläufe in diese Richtung hatte er zweifellos unternommen. Aber letztlich fehlte ihm dann doch die Härte. Im letzten Moment hatte er immer zurückgezuckt. Ob er diesmal auch zurückzucken würde? Nein. Diesmal nicht. Er war fest entschlossen. Er musste es tun.

Ungeduldig ließ er sein Fernglas über die Donau schweifen. Das Motorboot, auf das er wartete, würde er schon von Weitem sehen können. Ein ganz bestimmtes Motorboot. Wahrscheinlich würde es von Krems heraufkommen. Von dort, wo die vollbesetzte MS Wachau auf ihrer Fahrt zu ihrer Endstation schon vor einiger Zeit verschwunden war. Auf die MS Wachau hatte er die größten Hoffnungen gesetzt. Sein ganzes Timing war darauf ausgerichtet, dass ein Passagier oder sonst wer auf dem Schiff Alarm schlug.

Seine zweite Hoffnung waren die Paddler. Immer wieder kamen ein paar kleine Boote in gemächlichem Tempo an ihm vorbei. Es war ein schöner Tag gewesen. Da gab es auch unter der Woche immer ein paar Paddler, die sich mehr oder weniger treiben ließen. Am Wochenende würde sich deren Zahl sicher verzehnfachen. Vielleicht hätte er zur Sicherheit bis zum Wochenende warten sollen. Die Leute schauten ja eher in die Gegend oder in die Luft, als dass sie einen Blick auf die Wasseroberfläche warfen.

Das Motorboot kam einfach nicht daher. Vor mittlerweile drei Stunden hatte er sie der Donau übergeben. Enttäuschend war das. Aber er war noch nicht deprimiert. Spätestens bei der Staustufe in Altenwörth würde irgendjemand auf sie aufmerksam werden. Das war sein Plan B. Allerdings konnte es immer noch sein, dass sie doch am Ufer hängengeblieben war. Obwohl sie sich zunächst wie geplant Richtung Strommitte bewegt hatte.

Er schaute mit dem Fernglas Richtung Mauterner Brücke. Da sah er es. Das Boot. Endlich. Größer als die meisten Motorboote, die die Donau befuhren. Unverkennbar nicht nur an der silbergrau-blauen Lackierung, sondern auch an der rot-weiß-roten Fahne, die am Heck flatterte. Noch konnte er sich aber nicht sicher sein. Hätte ja auch eine Routinefahrt der Polizei sein können.

Keine zwei Minuten später war er sicher. Das Boot fuhr nicht in direkter Linie stromaufwärts, sondern in einem Zickzack-Kurs. Als würden die Personen an Bord nach etwas Ausschau halten. Er wollte gar nicht weiter warten. Was er sah, reichte ihm.

Das Zittern hörte mit einem Schlag auf. Die ersten beiden Schritte seines Plans hatten funktioniert. Er ermahnte sich, deswegen nicht übermütig zu werden. Diese Schritte waren eine vergleichsweise leichte Übung. Der nächste würde ihm viel schwerer fallen. Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust startete er sein Auto.

Freitag, 16. April 17 Uhr 30

Die Größe des Kunststücks, gleichzeitig das Boot zu steuern und die Wasseroberfläche mit dem Fernglas abzusuchen, hatte er zugegebenermaßen etwas unterschätzt. Das war sogar für einen Felix Frisch eine Herausforderung. Noch dazu im Zwielicht des späten Nachmittags. Es herrschte ja beinahe schon Dämmerung. Vielleicht hätte er seinen jungen Kollegen doch nicht wegschicken sollen. Aber er hatte eben ein weiches Herz und wollte für die jungen Kollegen ein leuchtendes Vorbild in Sachen Kameradschaft sein. Gerade als sie beide das schnittige Polizeiboot besteigen wollten, hatte der Kollege den Anruf von seiner Frau bekommen. Der kleine Sohn hätte hohes Fieber und würde ständig nach seinem Vater rufen. Da musste er den Kollegen doch drängen, sich schleunigst auf den Weg nach Hause zu machen. Die Donau abzusuchen würde er auch allein schaffen.

Schaffte er ja auch. Ein gestandenes Mannsbild wie er war sogar diesem schwierigen Auftrag gewachsen. Spezialauftrag von der Mordkommission. Die Donau zwischen Krems und Dürnstein sollten sie nach einer angeblichen Leiche absuchen. Oder einem Gegenstand, der wie eine Leiche aussah.

Irgendetwas musste da wohl im Wasser sein. Das sollte er finden. Also fuhr er im Zickzack stromaufwärts. Die Donau kannte er in diesem Abschnitt mittlerweile wie seine Westentasche. Vielleicht war es gut, dass er diesen Auftrag alleine erledigte. In letzter Zeit fehlten ihm sowohl die Herausforderungen als auch die Erfolgserlebnisse. Wenn da irgendwo doch eine Leiche schwamm, dann war er jedenfalls der Richtige, um sie zu bergen. Dazu brauchte es schon einen Mann mit seiner Erfahrung.

Vor einem knappen Jahr war er endlich vom Revierinspektor zum Gruppeninspektor befördert worden. Ohne dass ihm die Beförderung Freude bereitet hätte. Es hatte schon mit der Beförderungszeremonie begonnen. Die war gar nicht nach seinem Geschmack verlaufen. Er musste ja zugeben, dass es bei der Kremser Polizei nicht üblich war, dass bei solchen Anlässen der niederösterreichische Polizeidirektor oder zumindest ein Kremser Vizebürgermeister persönlich anwesend waren. Aber in seinem speziellen Fall wäre das schon gerechtfertigt gewesen. Welcher zukünftige Gruppeninspektor konnte schon von sich behaupten, einen so großen Beitrag nicht nur zur Aufklärung eines Mordes, sondern einer ganzen Mordserie geleistet zu haben. Gott sei Dank hatte wenigstens seine Elfriede für die Feier eine Torte gebacken. Die ließen sich natürlich alle gut munden. Sogar eine Kaffeemaschine hatte seine Frau mitgebracht, weil der Kaffee aus dem Automaten wie Abwaschwasser schmeckte. Im Torte-Essen waren alle ganz groß. Aber keiner der Kollegen erwähnte seine großartigen Ermittlungsleistungen auch nur mit einem Wort. Bei diesem einen Wort hätte er ihnen sogar einen mit Torte vollgestopften Mund nachgesehen.

Die Stimmung ihm gegenüber war auch in den folgenden Wochen und Monaten nicht besser geworden. Deshalb hatte er im Herbst den Antrag gestellt, zur Dienststelle Mautern, die im Abschnitt Wachau auch für die Strompolizei zuständig war, versetzt zu werden. Der Antrag war innerhalb von zwei Wochen bewilligt worden. Offensichtlich deshalb so schnell, weil die Kollegen in Mautern einen Mann mit seiner Erfahrung dringend brauchten. Zum Unterschied von Krems hatte der Postenkommandant von Mautern wohl keine Angst vor einem neuen Star in der Mannschaft. Natürlich war ihm die Prüfung für den Bootsführerschein nicht erspart geblieben. Für einen Mann seiner Klasse nur eine kleine Hürde, die er schon im zweiten Anlauf bewältigte.

So ein Polizeiboot war schon ein beachtliches Gerät. Ein Motor, bei dem jedes Motorrad vor Neid erblassen konnte. Pferdestärken ohne Ende. Diese Pferdestärken mit der linken Hand zu bändigen, während er mit der rechten das Fernglas hielt und den Adlerblick über den Strom gleiten ließ, das machte ihm so schnell keiner nach. Geschmeidig um die Kurve. Nur nicht zu nahe ans Ufer. Bei der ersten Boots-Prüfung war er knapper an die Ufersteine herangefahren. Der Prüfer hatte einfach die Nerven verloren.

Aber Moment einmal. Das war doch… Schlagartig bekam er eine Gänsehaut. Das musste es sein. Motor drosseln. Beidrehen. Geschmeidig beidrehen. Motor abstellen. Verdammt! Wo war das Biest jetzt? Ah, da tauchte es wieder auf. An der Längsseite des Boots war der lange Stock mit dem Enterhaken an der Spitze befestigt. Den nahm er zur Hand. Nur nicht zu weit vorbeugen. Nur nicht ins Wasser fallen. Er musste noch etwas näher heran. Zum Glück trieb dieses Ding in seine Richtung. Der Kopf sah tatsächlich eingeschlagen aus. Noch ein kleines Stück. Nein. Leiche war das keine. Es war eine ordinäre Schaufensterpuppe. Aus Holz. Mit eingerissenem Kopf und bekleidet mit einem dunkelblauen Trainingsanzug. Schöner Anzug. Er lächelte. Diese Suchaktion würde für ihn noch einen sehr befriedigenden Abschluss bringen. Sein eigener Trainingsanzug war ja doch schon sehr alt. An den Knien und an der Sitzfläche bereits mehr als fadenscheinig. Ein kurzer Blick auf die Puppe genügte, um zu erfassen, dass der Trainingsanzug so gut wie neu war. Konnte er feststellen, obwohl der Anzug klitschnass war. Da bewährte es sich wieder einmal, dass er immer gut darin gewesen war, zwei und zwei zusammenzuzählen und auch aus komplizierten Sachverhalten einfache Schlüsse zu ziehen.

 

Nach zwei vergeblichen Anläufen hatte er die Puppe endlich an Bord. Das Ding war sauschwer und das Wasser saukalt. Er musste darauf achten, mit dem Enterhaken nicht den Anzug aufzureißen. Aber es war die Mühe wert. Sowohl Oberteil als auch Hose waren wie neu. Noch am Boot rief er bei der Mordkommission an und berichtete, dass es sich bei dem Fund nur um eine alte Schaufensterpuppe handelte.

Ebenfalls noch am Boot entkleidete er die Puppe. Den Trainingsanzug drückte er aus, so gut es ging, und rollte ihn zu einem Bündel zusammen.

Den Hafen verließ er mit dem Bündel in der einen Hand. Mit dem anderen Arm umfasste er die Puppe und schleifte sie mehr oder weniger neben sich her. Schließlich konnte er das Ding nicht einfach am Boot oder im Polizeihafen herumliegen lassen. Leider war niemand da, der ihm zur Hand gehen konnte.

Verschwitzt kam er bei seinem roten Skoda Octavia an und verfrachtete das Ding in den Kofferraum. Später würde er die Puppe in einen Müllcontainer werfen, der in der Nähe seiner Wohnung aufgestellt war. Aber vorher würde er dem nassen Trainingsanzug noch eine schnelle Handwäsche im Waschbecken besorgen und ihn zum Trocknen aufhängen. Er konnte es kaum erwarten, seine Beute anzuprobieren. Seine Elfriede würde Augen machen.