Dürnsteiner Puppentanz

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Samstag, 17. April 10 Uhr 10

Der Anblick der Küche erschlug sie. Mindestens fünfzig Quadratmeter nichts als blitzender Edelstahl. Acht Kochinseln mit gewaltigen Gasherden. In den von der Decke hängenden Oberschränken Töpfe und Pfannen in allen Größenordnungen. Sie hatte ja schon viele Küchen gesehen. Von anderen Restaurants und Hotels. Aber nicht so etwas. Diese Küche hatte wirklich was gekostet. High-Tech, wohin sie schaute. Nur die Messer, die penibel nach Größe gereiht auf einem magnetischen Ständer auf jedem Arbeitstisch griffbereit standen, schienen ihr auf den ersten Blick Low-Tech zu sein. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie allerdings Schleifspuren auf allen Messerblättern. Wahrscheinlich waren sie gefährlich scharf.

Sie riss sich vom einschüchternden Anblick der Küche los und nahm die anderen Kursteilnehmer in Augenschein. Wenig überraschend: Mindestens drei Viertel von ihnen waren Frauen. Die vier männlichen Teilnehmer wirkten fast deplatziert. Es überraschte sie allerdings, dass sich die wenigsten Teilnehmerinnen an die tollen Bekleidungstipps ihres Erich zu halten schienen. Abgesehen von zwei älteren Damen waren alle so herausgeputzt, als würden sie sich gleich an einen festlich geschmückten Tisch setzen wollen, um ein von hilfreichen Geistern zubereitetes und serviertes Fünf-Gänge-Menü zu verzehren. Wobei ihre Anstrengungen einzig und allein darin bestehen würden, die kunstvoll gefaltete Serviette über dem Rock auszubreiten und das Silberbesteck in ihre zarten Hände zu nehmen.

Natürlich waren die Dirndln in der Überzahl. Kein Wunder bei einem Kochkurs in der Wachau. Aber es waren keine gewöhnlichen Dirndln. Jedenfalls nicht solche, wie sie Doris Lenhart kaufte. Hier waren Dirndln von Nobelmarken das untere Limit. Die meisten waren allerdings maßgeschneidert. Sündteuer. Das sah sie auf den ersten Blick.

Eine der Damen trug zwar nur ein Nobelmarken-Dirndl, dafür aber eine ungewöhnlich tief ausgeschnittene Bluse. Viel fehlte da nicht, und die Brustwarzen wären freiliegendes Ziel der allgemeinen Bewunderung geworden. Ganz schön schamlos. Dazu eine blonde Haarpracht, die in makellosen Wellen auf die Schultern herabfiel. Hier wollte jemand unbedingt die strahlende Königin des Tages sein.

Doris blickte sich kurz um. Zu dieser Dame schien kein Mann zu gehören. Das würde sich im Lauf des Kurses ändern, davon war sie überzeugt. Jede Wette. Diese Frau hatte etwas vor. Wobei abgesehen vom Chefkoch von den vier anwesenden nur zwei Herren als Bewunderer in Frage kamen. Von vornherein schied der ältere Herr aus, der schon sehr nach Großvater aussah und neben einer ebenfalls sehr großmütterlich wirkenden Frau stand, die noch legerer gekleidet war als sie selbst. Und ihr Erich.

Natürlich inspizierte sie auch die Schuhe der Damen. Zwei flache Paare, einmal sogar Turnschuhe, und der Rest waren Schuhe mit Absätzen zwischen drei und sechs Zentimetern Höhe. Mit den Stilettos der Möchtegernkönigin als krönendem Abschluss. Die Bleistiftabsätze mussten mindestens zehn Zentimeter hoch sein. Was ja auch gar kein Wunder war. Ohne diese Absätze würde ihr die Dame nicht einmal bis zur Schulter reichen. Doch irgendwie eine Genugtuung.

Erst jetzt nahm sie den Chefkoch richtig wahr. Obwohl er sie und ihren Mann schon vor fünf Minuten begrüßt hatte. Für einen Koch ausgesprochen schlank, maximal vierzig, mit schon leicht grau meliertem, gleichwohl dichtem dunkelblondem Haar. Mit der Ausstrahlung von jemandem, der weiß, dass er Erfolg hat. Würde sie nicht wundern, wenn der Mann bald in einer Fernsehshow auftreten würde. Vielleicht hatte es die Dame mit den Stilettos ja auf ihn abgesehen.

»Einen recht schönen, guten Morgen, meine Damen und Herren!«, hob er an. »Ich heiße Sie in meinem Lokal herzlich willkommen. Ich habe natürlich gesehen, dass speziell die Damen unter Ihnen diese Küche bestaunen. Ich würde Sie aber bitten, zunächst aus dem Küchenfenster hinauszuschauen. Sie werden mir Recht geben mit meiner Einschätzung, dass es in der ganzen Wachau keine Küche gibt, die einen schöneren Blick auf die Donau erlaubt. Wenn Sie diese Aussicht für einen Moment auf sich wirken lassen, wird Ihnen Ihr Menü gleich viel besser gelingen. Was mich bereits zu meiner Lektion Nummer eins bringt: Wirklich gut kochen kann man nur, wenn man in guter Stimmung ist.«

Er machte eine kleine Pause.

»Die entsprechenden Zutaten braucht es natürlich auch.« Doris sah auf fast allen Gesichtern der Teilnehmer ein zumindest leises Lächeln.

Gekonnte Eröffnung, dachte sie. Obwohl sie nicht in der vom Meister beschworenen Gemütsverfassung war, verstand sie natürlich sofort, warum er diese Eröffnung gewählt hatte. Die Stimmung im Kurs würde sich vielleicht nicht auf die Kochkünste aber ganz sicher auf die Nachrede und die daraus folgende Mundpropaganda auswirken. Sein Konzept schien aufzugehen. Die Kursteilnehmer blickten alle voll andächtiger Begeisterung aus dem Riesenfenster. Die Lage des Restaurants zwischen Donau und Uferstraße war ja auch tatsächlich großartig. Das gab es in der ganzen Wachau wahrscheinlich nur in Joching.

Überrascht war sie, dass vom starken Autoverkehr auf der Uferstraße, also auf der Rückseite des Hauses, gar nichts zu hören war. Dafür aber das leise Plätschern der Donau. An diesem Effekt musste ein Toningenieur tagelang getüftelt haben. Vielleicht funktionierte es auch deshalb, weil am gegenüberliegenden Donauufer eine bewaldete Böschung aufragte, die wohl viel Schall schluckte. Im Blickfeld waren nur der Fluss und die Aulandschaft. Natur pur. Sie hatte das Gefühl, nur eine Angel aus dem Fenster hinaushalten zu müssen und schon würden Barsche und Karpfen daran zappeln. Mit dem sanften Plätschern war es allerdings gleich vorbei, weil ein Lastkahn daherkam, der sich laut brummend stromaufwärts mühte.

Von der Aussicht war sie höchst angetan. Allerdings ärgerte sie sich, dass sie in Sachen Kleidung auf Erich gehört hatte. Sie hatte auch ein Dirndl, nicht ganz so teuer, aber sehr hübsch, das sie bei ihrer Größe sogar mit flachen Schuhen hätte tragen können. Aber morgen war ja auch noch ein Tag.

»Ich werde natürlich oft speziell von den Kursteilnehmerinnen nach Bekleidungstipps gefragt. Wenn ich mich hier kurz umblicke, dann haben Sie alle instinktiv das Richtige getan. Es gibt nämlich auch keine fürs Kochen typische Bekleidung. Man soll einfach das anziehen, worin man sich wohlfühlt. Und das reicht eben von ganz zwanglos und leger bis elegant.«

Ein richtiger Profi, dachte sie. Kein Wunder, dass er pro Kursteilnehmer dreihundert Euro verlangen konnte. So sehr sie sich auf das Wochenende gefreut hatte, so kamen ihr jetzt doch Zweifel, ob ihr Mann und sie die sechshundert Euro nicht für etwas anderes hätten verwenden sollen. Aber ihr Erich war ja richtig versessen auf diesen Kurs gewesen.

»Und bevor ich Ihnen jetzt eine kleine Einführung in meine Küche gebe, möchte ich Sie bitten, dass sich jeder von Ihnen jetzt eine von diesen Schürzen umbindet. Damit gleich das richtige Gefühl aufkommt für das, was wir in den nächsten Stunden gemeinsam tun wollen.«

Der Koch zeigte auf den Stapel an beigen Schürzen, die auf einem Hocker lagen. Amüsant zu sehen, wie die Damen diese Schürzen skeptisch ansahen. Mit diesen Fetzen sollten sie ihre schönen Kleider überdecken? Farblich passend war das Beige auch in den seltensten Fällen.

Sie selbst hatte zwar ebenfalls keine gesteigerte Sehnsucht nach einer Schürze. Aber ihr Outfit zu verdecken konnte nicht schaden. Allerdings wollte sie sich die missmutigen Gesichter der Damen nicht entgehen lassen. Daher ließ sie den anderen Kursteilnehmern den Vortritt.

Da sah sie, wie die Dame mit dem tiefen Ausschnitt sich an Erich wandte, der unmittelbar hinter dieser Exhibitionistin stand. Mit der offensichtlichen Bitte, ihr die Schürze an ihrem Rücken zusammenzubinden. Und was tat ihr Mann? Er kam dieser Aufforderung bereitwilligst, wie ihr schien, nach. Aber nicht nur das. Er nutzte auch die Gelegenheit, der trotz ihrer Stilettos klein geratenen Frau über die Schulter ins Dekolletee zu schauen. Bei seiner Körpergröße von 1,85 kein Problem.

Doris wusste nicht, ob sie in dem Moment rot oder ganz blass wurde. Aber eines wusste sie: dass ihr Gesicht mit Sicherheit seine Farbe wechselte. Am liebsten hätte sie Reißaus genommen.

Das ließ allerdings ihr Stolz nicht zu. Außerdem hätte sie damit alles nur noch schlimmer gemacht. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie war doch bis jetzt immer selbstbewusst genug gewesen, um sich ihres Mannes sicher zu sein. War vielleicht doch diese verdammte Josefa Machherndl und nicht diese Kokotte an ihrer Gemütslage schuld?

Bei der Zubereitung des Menüs konnte sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie war so zerstreut, dass sie sich sogar vom Koch die Frage gefallen lassen musste, ob sie heute zum ersten Mal in einer Küche stehen würde. Zwar mit einem Augenzwinkern vorgetragen. Aber bei jemandem, dessen oberstes Ziel es doch war, nur ja keinen Kursteilnehmer zu verärgern, war das doch eine sehr deutliche Ansage. Den heutigen Tag musste sie jedenfalls abschreiben.

Samstag, 17. April 16 Uhr 05

Die Weinreben des Tausendeimerbergs zeigten erst einen kleinen Anflug von Grün. Dennoch schirmte das knorrig verästelte Gehölz ihn und sein Fernglas gut genug gegen Blicke ab. Im Garten seiner Zielperson war alles ruhig. Er wusste nicht, ob sich Klaus Strasser an der Blütenpracht seiner Marillenbäume erfreute. Wenn ja, dann sollte es heute zum letzten Mal sein.

Wieder dieses Zittern. Würde Klaus Strasser heute laufen gehen oder nicht? Schon seit eineinhalb Stunden beobachtete er das Haus. Jedenfalls war Strasser spät dran. Um drei Uhr war ein Lieferwagen vorgefahren. Mehrere Kisten wurden ausgeladen. Er hätte es trotz seines Fernglases nicht beschwören können. Aber so vorsichtig. wie Fahrer und Beifahrer mit den Kisten umgingen, musste es sich hauptsächlich um Geschirr handeln. Bei den Strassers gab es offensichtlich ein Fest zu feiern.

 

Zum fünften oder sechsten Mal richtete er sein Fernglas auf die umliegenden Hügel. Es kam vor, dass auch andere Menschen mit einem Fernglas unterwegs waren. Die hätten ihn erspähen können. Zumal immer das Risiko bestand, dass sich das Sonnenlicht in seinen Linsen spiegelte und das Glas aufblitzen ließ. Aber da war niemand.

Vor dem Haus tat sich wieder etwas. Zwei junge Mädchen, er schätzte sie auf Anfang zwanzig, kamen in einem Kleinwagen an. In schwarzem Gewand und weißer Schürze. Extra engagierte Serviererinnen. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis das Fest begann. Wenn die ersten Gäste ankamen, war seine Chance vorbei.

Das Zittern erfasste seine Arme. Unkontrollierbar. Er konnte das Fernglas kaum noch halten. Die Puppe war gestern in der Donau gefunden worden. Daher musste er heute zuschlagen. Heute. Samstag. Da war Strasser noch hier. Am Sonntag fuhr er meist schon am frühen Nachmittag zurück nach Wien.

Da kam der Anwalt aus seinem Bau. Zielstrebig steuerte er auf seinen protzigen Porsche zu. In einem blauen Trainingsanzug mit weißen Streifen. Er ging laufen. Trotz des Festes. Trotz des baldigen Eintreffens der ersten Gäste.

Den Porsche durfte er nicht entwischen lassen. Daher rannte er zu seinem Wagen, der nur ein paar Meter entfernt im Schatten von ein paar Bäumen parkte. Er fuhr, so schnell er konnte, den Berg hinunter durch die verwinkelten Gassen. Bald sah er den Porsche in einiger Entfernung vor sich.

Jetzt musste Strasser nur noch eine einsam gelegene Laufstrecke wählen. Die Chancen dafür standen 7:2. Von vielen Beobachtungen wusste er, dass Klaus Strasser immer wieder seine Laufstrecken wechselte. Bis heute hatte er neun gezählt. Von diesen eigneten sich sieben für seinen Plan. Wegen der einsamen Lage und der Uneinsehbarkeit von Teilen der Laufstrecke. Jetzt kam es drauf an. Fuhr Strasser zur Donau hinunter, um am Treppelweg zu laufen, der an einem so schönen Samstag im Frühling voller Radfahrer war? Oder wählte er eine einsame Strecke in den Wäldern?

An der Hauptstraße bog der Porsche nach Norden Richtung Waldviertel ab.

Das Schicksal war heute offenbar nicht auf Strassers, sondern auf seiner Seite. Er wollte bewusst von Schicksal reden, nicht von Glück. Schicksal passte besser zu dem, was in der nächsten Stunde geschehen sollte.

Samstag, 17. April 17 Uhr 55

Ihre ursprüngliche Idee war gewesen, sein Geburtstagsfest ohne fremde Hilfe zu gestalten. Nur die Familie Strasser. Klaus, Theresa, Katja und Mathias. Bald hatte sie jedoch eingesehen, dass das für sie nicht zu schaffen war. Weil die Kinder protestierten und auch Klaus von diesem Plan alles andere als begeistert war. Hilfe im Haushalt war nie seine Sache gewesen. Daher hatte sie einen Koch und zwei junge Studentinnen aus Spitz engagiert. Die schienen sich über den in Aussicht gestellten Verdienst aufrichtig zu freuen.

Der Koch war schon gestern Nachmittag zu einem Bauern nach Mühldorf gefahren, um sich von einem frisch geschlachteten Kalb die schönsten Stücke auszusuchen. Und von einem Rind, das schon seit einer Woche in der Kühlkammer des Bauern hing. Mit dem Auftrag an den Landwirt, das Fleisch bis heute vierzehn Uhr bei den Strassers abzuliefern. Hatte auch bestens geklappt.

Seit einer guten Stunde füllte sich das Haus mit den angesagten zwanzig Gästen. Obwohl das Geburtstagsfest offiziell erst um achtzehn Uhr starten sollte. Gute Freunde nahmen es mit Beginnzeiten eben nicht so genau. Die meisten Gäste waren schon mehrmals bei ihnen zu Besuch gewesen und hatten keine Mühe gehabt, das Haus zu finden. Dennoch verbrachte sie viel Zeit am Telefon, um diejenigen herzulotsen, die sich in dem verwinkelten Ort verfuhren.

Die, die über Nacht bleiben wollten, hatten schon in ihren Quartieren eingecheckt und sich auch vorsichtshalber den Schlüssel zu ihrer Unterkunft mitgenommen, wie sie es ihnen empfohlen hatte. Der Abend würde ja sehr lang werden und die Rezeptionen der meisten kleinen ländlichen Hotels waren nachts nicht durchgehend besetzt.

Gott sei Dank hatte sie die Mehrheit der zu früh Kommenden überreden können, noch einen kleinen Ausflug zur Ruine Hinterhaus und zum Tausendeimerberg, dem bekanntesten Weinberg der ganzen Wachau, zu machen. Keine zehn Gehminuten vom Wochenendhaus der Strassers entfernt. Jetzt waren fast alle wieder zurück.

Das Geburtstagskind war jedoch noch immer nicht da. Sie hatte Klaus gebeten, doch ausnahmsweise am Vormittag laufen zu gehen. Aber nein. Seit der Zeit ihres Kennenlernens wusste sie, dass Klaus erstens ein Sturkopf und zweitens wenig rücksichtsvoll war. Also Joggen am Nachmittag. Heute kurz nach sechzehn Uhr. Dieses Timing hatte er bestimmt absichtlich so gewählt, um sie nervös zu machen. Langweilig würde ihr mit ihm nie werden.

Zum Glück kannten ihn seine Freunde gut genug, um sich von seiner Sturheit und seiner Abwesenheit nicht vor den Kopf stoßen zu lassen. Anders als der Bürgermeister von Spitz, der gestern sichtlich empört von dannen gezogen war.

Normalerweise brauchte Klaus eine Stunde zum Joggen. Bis jetzt war er immer spätestens binnen eineinhalb Stunden zurück gewesen. Diese eineinhalb Stunden waren längst vorbei.

An seine manchmal merkwürdige Art von Humor hatte sie sich im Lauf der Jahre gewöhnt. Wollte Klaus erst im letzten Moment auf der Bildfläche erscheinen? Ohne geduscht und sich umgezogen zu haben? Um ja sicherzugehen, dass alle Gäste bereits erschienen waren? Um das Gehabe eines Königs an den Tag zu legen? Oder wollte er sie und seine Gäste in Schrecken versetzen, um ihr und allen anderen klar zu machen, welch unbeschreiblichen Verlust für die Welt ein Verschwinden von Klaus Strasser bedeuten würde?

Sie war froh, dass ihre Gäste ihre steigende Nervosität nicht zu bemerken schienen. Jedenfalls ließen sich alle die Horsd’oeuvres und den Champagner schmecken, den die beiden Studentinnen auf ihr Geheiß fleißig ausschenkten. »Typisch Klaus!«, war ein Kommentar, den sie immer wieder aufschnappte. Bis ihr ein Kollege ihres Mannes durch die offene Küchentür zurief: »Theresa! Jetzt übertreibt dein Mann aber schön langsam. Auf diese Art wird er nie Kammerpräsident.«

Sie bemühte sich um ein Lächeln und konterte: »Wenn er deswegen nicht Präsident wird, dann soll er von mir aus ruhig noch eine Stunde wegbleiben.« Sie hoffte dabei, dass niemand ihr Zittern bemerken würde. Diese Hoffnung währte allerdings nur eine Sekunde lang. Eine Sekunde brauchte die Porzellanplatte mit hauchdünn geschnittenem Zarenlachs, die sie eben noch in der Hand gehalten hatte, um auf dem Boden vor ihren Füßen zu zerspringen. Da wusste sie, dass sie Angst hatte. Große Angst.

Samstag, 17. April 18 Uhr 05

Sie hielt ihren rechten Arm am Sicherheitsgurt und drehte ihren Kopf nur ganz vorsichtig nach links, weil Erich ihre Bewegung gar nicht bemerken sollte. Sie versuchte, in seinem Gesicht, das ganz auf die Fahrbahn konzentriert zu sein schien, zu lesen. Das Gesicht eines wahren Unschuldslamms. In der Dienststelle war sie bekannt dafür, dass ihr niemand etwas vormachen konnte. Da wäre es doch gelacht, wenn das ihrem Ehemann gelingen würde. Der ohnehin immer wie ein offenes Buch für sie war.

Dabei glaubte er wahrscheinlich, es besonders schlau angelegt zu haben. Mit geradezu obszöner Lässigkeit hatte er dieser Femme fatale die Schürze umgebunden. Nur ein paar Zentimeter über ihrem aufreizenden Hintern. Dabei hatte er diesen verräterischen Blick in ihren Ausschnitt riskiert. Die Dame hatte das ganz sicher bemerkt. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen hatte sie es auch goutiert. Danach jedoch gab es nur mehr ganz gelegentlichen und wie zufällig wirkenden Blickkontakt zwischen den beiden. Aber dafür einen umso intensiveren, wie es ihr schien. Besonders einmal. Da kam ein Augenaufschlag von ihr, als hätte sie es auf ihn abgesehen.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er seinen Blick von der Straße ab und ihr zuwandte.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir diesen Kurs belegt haben. Du wirst sehen, der morgige Tag wird noch besser werden. Heute warst du nicht ganz bei der Sache. Hat diese Frau Machherndl dich noch beschäftigt?«

Diese scheinbar besorgte Frage war doch geradezu der Gipfel an Heuchelei. Sie hatte ja selbst für einen Augenblick geglaubt, dass die alte Giftspritze schuld an ihrer schlechten Stimmung war. Aber diese Erklärung erschien ihr viel zu billig. Erst recht aus seinem Mund. Kurz überlegte sie, ob sie widersprechen sollte. Hielt es dann aber für klüger, zu schweigen.

»Gegen trübe Gedanken weiß ich ein tolles Rezept«, fuhr er fort. »Du kannst dich schon auf zuhause freuen.«

Durfte das wahr sein?! Der Mensch konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie dafür herhalten würde, seinen gestiegenen Hormonspiegel wieder auf Normalmaß zu reduzieren. Sie wusste zwar aus langjähriger Erfahrung, dass ein gutes Essen bei ihm eine anregende Wirkung hatte. Oft hatte sie das durchaus genossen. Aber sie war sicher, dass sie seinen Vorschlag diesmal dem Blick über die Schulter einer anderen zu verdanken hatte. In der Sekunde beschloss sie, ihren Ehemann zumindest für einige Zeit zappeln zu lassen und ihm fürs Erste den Blick auf ihren eigenen Busen zu verwehren.

Samstag, 17. April 22 Uhr 05

Die Scheinwerfer hatte Theresa Strasser abgedreht. Denn das starke Strahlen tauchte den Wald abseits des Scheinwerferkegels in umso tiefere Dunkelheit. Der Vollmond hingegen leuchtete den gesamten Waldweg gleichmäßig sanft aus. Der Nachthimmel war wolkenlos und das erst seit wenigen Tagen sprießende Laub an den Bäumen ließ noch genügend Licht durch. Im Schritttempo fuhr sie mit ihrem von Klaus so bezeichneten Einkaufswagen über den Schotter. Irgendwo in diesen Hügeln musste der dunkelblaue Porsche Cayenne doch stehen. Vor jeder Kurve stand die Hoffnung, hinter jeder Kurve stand die Enttäuschung. Immer und immer wieder. Sie kämpfte mit den Tränen. Seit mittlerweile mehr als drei Stunden fuhren sie auf Wegen dahin, die sonst wohl nur ein paar Jäger und Waldarbeiter kannten. Warum fanden sie nicht einmal diesen vermaledeiten Wagen?

Am Beifahrersitz saß ihre Tochter Katja. Sie hatte den Kampf gegen die Tränen längst aufgegeben, schluchzte vor sich hin, schaute aber dennoch angestrengt hinaus in die Dunkelheit.

Hinter ihr folgten noch zwei andere Autos, ebenfalls im Schritttempo und mit abgeschalteten Schweinwerfern. Denn in diesem Waldstück gingen laut Karte drei kleinere Wege von diesem Hauptweg ab. Sie suchten systematisch. Die meisten Gäste beteiligten sich an dieser Suchaktion. Die hatten sich den Abend sicher anders vorgestellt.

Knapp nach neunzehn Uhr hatten sie es nicht mehr ausgehalten. Weil Klaus noch immer nicht aufgetaucht war, hatten sie gemeinsam beschlossen, sich an den Polizeiposten in Spitz zu wenden. Denn weder Theresa noch die Kinder hatten eine Ahnung, welche Strecken Klaus beim Joggen bevorzugte. Ihnen war nur klar, dass er mehrere Lieblingsstrecken hatte. Die meisten davon irgendwo in den umliegenden bewaldeten Hügeln.

Für eine formelle Vermisstenanzeige war es zu früh. Dennoch schickte der diensthabende Postenkommandant sofort einen Einsatzwagen mit zwei Beamten zu ihrem Haus. Beim Eintreffen der Funkstreife waren noch sechzehn der ursprünglich zwanzig Gäste anwesend. Nur zwei Paare hatten es vorgezogen abzureisen. Mit der Begründung, dass sie keinen Orientierungssinn hätten und mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut wären. Daher würden sie die Suche nach Klaus womöglich noch zusätzlich behindern. Nutzlos herumsitzen wollten sie auch nicht.

Die meisten der verbliebenen Freunde dachten anfangs, dass sie bei einer Suche ebenfalls keine große Hilfe sein würden. Ihre Kenntnis der Wachau beschränkte sich mehr oder weniger auf die Straße am Donauufer.

Die beiden Polizisten machten ihnen jedoch klar, dass es ein großer Glücksfall war, dass sie alle da waren, und dass sie sehr wohl helfen konnten. Gemeinsam mit dem Streifenwagen hatten sie zehn Autos zur Verfügung. Die meisten waren soweit geländegängig, dass sie auch Forststraßen befahren konnten. Außerdem entpuppten sich die beiden Serviererinnen als Glücksgriff, weil sie beide gerne wanderten und sich in der Gegend auskannten.

Die Polizisten zeigten ihnen auf einer großen Karte, wie die Suche funktionieren konnte. Die meisten Straßen, die von der Hauptstraße abzweigten, fanden irgendwo an einem Hügel oder tief im Wald ein Ende. Diese Nebenstraßen mussten sie gemeinsam absuchen, ihnen also bis zu ihrem Ende folgen und keine Abzweigung auslassen. So hofften die Polizisten, zunächst irgendwo den dunkelblauen Porsche Cayenne von Klaus aufzuspüren. Dann konnten sie die Suche dort konzentrieren. Denn sie alle rechneten mit einem Unfall beim Laufen. Vielleicht ein böser Sturz oder ein Herzinfarkt.

 

Jedenfalls fand der Plan der beiden Polizisten schnell allgemeine Zustimmung.

Die eintretende Dunkelheit erschwerte ihr Unterfangen. Aber der Tipp der Polizisten, die Scheinwerfer auszuschalten und sich auf das Licht des Vollmonds zu verlassen, gab ihnen wieder Sicherheit. Einen irgendwo geparkten Porsche Cayenne würden sie jedenfalls sehen.

Mit zehn Autos konnten sie ein großes Gebiet zügig durchkämmen. Per Mobiltelefon blieben sie in ständigem Kontakt, trafen sich immer wieder als Kolonne auf der Hauptstraße und nahmen die nächsten Abzweigungen in Angriff. Im Nu rückten sie Richtung Norden bis ins fünf Kilometer entfernte Mühldorf vor. Sie weiteten den Suchradius immer mehr aus.

»Da ist die nächste Abzweigung.« Katja deutete nach vorne und schaute gleichzeitig auf ihr Handy. Dank GPS war ihre Position als roter Punkt am Display zu sehen. »Fahr rechts, das ist der Weg ohne weitere Abzweiger«, kommentierte sie matt.

Theresa betätigte kurz den rechten Blinker. Die beiden Autos hinter ihr blinkten links. Soweit alles klar.

Nach der Abzweigung begann ihr Wagen zu holpern. Sie fuhr noch langsamer. Die Furchen waren so tief, dass sie im fahlen Licht aussahen wie dunkle Lacken. Nach ein paar Metern ging es außerdem steil bergauf. Wahrscheinlich fuhren hier nur Waldarbeiter mit Fahrzeugen, die meterhohe Reifen hatten. Über Stock und Stein, ohne das Auto zu schonen, holperten sie weiter. Eine ganze Weile.

»Vergiss es«, kommentierte Katja schließlich. »Mit seinem heißgeliebten Cayenne wäre Papa keine drei Meter weit auf diesem Weg gefahren. Und gelaufen wäre er hier auch nicht.«

Theresa nickte und brachte den Wagen zum Stehen. »Wo können wir noch suchen?«

Katja verkleinerte die Karte auf ihrem Display und zog die Stirn in Falten. »Wir sind hier oben.«

»So weit von Spitz entfernt?«, fragte Theresa ungläubig.

»Ja. Vorhin waren wir bis hier drüben. Die andere Gruppe hat sich von der Straße hinter Weißenkirchen gemeldet. So weit weg würde Papa doch nie fahren.«

»Ja. Wenn er laufen will, will er laufen, nicht herumkutschieren«, pflichtete sie ihrer Tochter bitter bei.

Da läutete ihr Handy.

»Mathias?«

»Mama, wir haben nochmal alle Krankenhäuser angerufen. Und alle, zu denen er gefahren sein könnte. Auch Roman. Der sucht jetzt in Krems. Sonst fällt uns niemand mehr ein.« Dass er verzagt war, war nicht zu überhören. Zwei Gäste, die besonders viele andere Kollegen, Freunde und Bekannte von Klaus kannten, waren bei Mathias zu Hause geblieben und hatten sich ans Telefon gehängt. Auch erfolglos.

Sie holte tief Luft, atmete bewusst langsam aus. Das Schlimmste war, dass sie sich das Verschwinden von Klaus nicht erklären konnte. Hätte er einen Unfall gehabt, dann hätten sie ihn bestimmt gefunden. Aber was sollte es sonst sein? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach 22 Uhr. »Kinder«, sagte sie und machte eine Pause, um ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Ich denke, es liegt an uns, eine Entscheidung zu treffen.« Ihre Stimme zitterte trotzdem. »Ich denke,… wir haben getan, was wir konnten. Wir finden ihn nicht.«

»Aber das kann doch nicht sein«, schrie Mathias durchs Telefon.

Katja vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Theresa legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Wir brechen die Suche ab.«

Ihre Tochter heulte auf.

»Mathias, bitte ruft alle zurück nach Hause.«

»Das kann doch nicht sein«, wiederholte ihr Sohn leise.

Da kamen auch ihr die Tränen.