Dürnsteiner Würfelspiel

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3. April, 15:22 Uhr

Er gab ja zu, dass Krems eine schöne Stadt war. Aber wie hatten die Stadtväter nur so einen idiotischen Architekten beauftragen können? Man konnte doch nicht eine Brücke auf der einen Hälfte mit zwei Bögen und auf der anderen Hälfte in der Form einer Geraden bauen.

Offensichtlich waren die Architekten früher schon genauso blöd gewesen wie heute. Wenn sie ihm den Auftrag gegeben hätten, er hätte eine schönere Brücke gezeichnet, auch wenn er überhaupt nicht vom Fach war.

Es war ihm klar, dass sein Missmut über die Brücke auch mit der Auffahrt von der Mauterner Seite zu tun hatte. Auf der konnte er gar nicht anders, als einen Blick auf die Spitze des Braunsdorfers zu werfen, einem der Hausberge der Kremser. Sie fiel einem geradezu ins Gesicht. Genau dort oben hatte er seiner Elfriede den Heiratsantrag gemacht. Oder besser gesagt, sie ihm. Wenigstens passte der grüne Anstrich der Brücke irgendwie zur Gegend.

Er fuhr heute mit seiner jungen Kollegin Julia Deckert Streife. Passte ihm sehr. Er gönnte sich immer mal wieder einen Seitenblick auf die junge Polizistin. Mindestens so sehr gefiel ihm aber, dass sie begierig war, von seiner langjährigen Erfahrung zu lernen.

Eigentlich hatte er gehofft, bereits in der Stellung des Gruppeninspektors mit seiner Kollegin die erfolgreiche Absolvierung ihrer Zeit als Polizeiaspirantin zu feiern, aber aus der Beförderung war noch nichts geworden. Warum, darüber konnte er nur rätseln.

Julia hatte sich bei der Feier aber auch von ihm als Revierinspektor einen herzhaften Gratulationsschmatz geben lassen. Gestört hatte ihn bei dieser Zeremonie allerdings, dass sie sich gleich nach seinem Kuss die linke Wange mit ihrem rechten Handrücken abgewischt hatte. Zugegebenermaßen war sein Kuss ziemlich feucht gewesen.

Als sie am Ende der Brücke auf den Kreisverkehr kurz vor Mautern fuhren, läutete das Telefon seiner jungen Kollegin. Nachdem sie abgenommen und kurz zugehört hatte, sprach sie nur das Wort »Verstanden« in den Hörer und legte auf.

»Felix, ein Hilferuf aus Weißenkirchen, weil die dortigen Kollegen wegen eines schweren Verkehrsunfalls unabkömmlich sind. In einem Weingarten soll eine Leiche gefunden worden sein. Schon ziemlich verwittert. Alles Weitere erzähle ich dir auf der Fahrt.«

Der Revierinspektor schaltete die Sirene ein und nahm im Kreisverkehr wieder die Ausfahrt Krems. Keine fünf Sekunden später war er erneut auf der Brücke. Diesmal warf er allerdings keinen Blick auf den Braunsdorfer.

Nach nicht einmal sechs Minuten – durch den Dürnsteiner Tunnel war Felix Frisch mit mindestens hundertvierzig Stundenkilometern geprescht – sahen die beiden Beamten kurz vor Weißenkirchen einen Mann, der am Straßenrand winkte. Felix schoss auf den Mann zu und bremste so spät, dass seine Kollegin in ihrem Sitz nach vorn gedrückt wurde.

Der Mann, der ihnen gewunken hatte, stellte sich als Max Nimmervoll vor und erklärte ihnen kurz, was seine beiden Kinder gefunden hatten. »Sie können da noch ein paar Meter hinein fahren. Dann müssen sie noch ein Stück zu Fuß gehen. Über die Bahn. Die da oben winken, das sind meine Kinder.«

»Felix, du kannst allein fahren. Ich begleite Herrn Nimmervoll. Wir sind gleich bei dir.«

Der Revierinspektor, der enttäuscht war, dass seine Kollegin bis jetzt nicht ein Wort über seine Fahrkünste gesagt hatte, stieg mit gesenktem Kopf ins Auto, startete und fuhr mit durchdrehenden Rädern den gesandeten Weg entlang, an dessen Ende man einen parkenden Geländewagen sehen konnte. Dort stieg er aus und nutzte die Gelegenheit, um seine immer dünner werdenden Haare, die ihm viel Kummer bereiteten, zu kämmen.

Auch daran war seine Frau schuld, die ihm immer in den Ohren gelegen hatte, sich täglich die Haare zu waschen. Sonst würden sie immer gleich fettig werden. Woher hätte er wissen sollen, dass man vom häufigen Haarewaschen Haarausfall bekommen konnte?

Als er fertig war, stieg er zusammen mit den beiden Fußgängern, die ihn in der Zwischenzeit erreicht hatten, über die Bahntrasse und dann auf einem schmalen, aber recht bequemen Steig zu den beiden Kindern empor.

Anna und David kamen ihrem Vater und den beiden Polizisten entgegen. Felix Frisch schätzte den Buben auf zwölf und das Mädchen auf zehn Jahre. Der Bub schien recht vergnügt zu sein, während seine Schwester sichtlich verstört war. Was sie aber nicht daran hinderte, zuerst seiner Kollegin und dann ihm die Hand entgegenzustrecken. »Ihr habt also eine Leiche gefunden. Dann zeigt mal her!«

Julia wandte sich an das Mädchen. »Dein Vater hat uns erzählt, dass du deinen geliebten Hund begraben wolltest.«

Das Mädchen nickte verängstigt. »Mama hat es verboten. Hätte ich nur auf sie gehört.«

Julia hatte die Kleine an der Hand genommen. »Wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht hilfst du dabei, ein Verbrechen aufzuklären. Dann wirst du noch berühmt.«

Man konnte sehen, dass dieser Gedanke der Kleinen alles andere als unangenehm war. Ein kurzes Lächeln machte ihr trauriges Gesicht gleich freundlicher.

In der Zwischenzeit hatten sie alle die kleine Grube erreicht. Neben ihr lag ein frischer, etwa siebzig Zentimeter hoher Erdhaufen. Felix Frisch bemerkte auch gleich die beiden Schaufeln und die Spitzhacke, die an einen nahen Weinstock angelehnt waren.

Als sein Blick in die Grube fiel, schien er enttäuscht zu sein. »Das ist keine Leiche. Das ist ein Skelett«, sagte der Revierinspektor im Ton eines Oberlehrers. Er wandte sich an David. »Gibst du mir eine Schaufel her?«

Es dauerte keine Minute, bis er das Skelett zumindest an der Oberseite völlig freigelegt hatte. »Auf die Schnelle würde ich sagen, das Skelett einer Frau. Schmale Schultern, breites Becken. Keine Spuren von Gewaltanwendung.«

»Es gibt hier auch keine Spuren von Kleidung. Jemand muss die Frau hier nackt vergraben haben.« Die Polizistin zupfte nachdenklich mit ihrem rechten Zeigefinger an ihrer Unterlippe.

Felix lächelte wissend. »Gut beobachtet, Julia. Schaut nach Sexualverbrechen aus.«

Julia warf dem Revierinspektor einen kritischen Blick zu. »Eine Frau mit einer künstlichen Hüfte kommt sicher nicht hierher, um sich auszutoben«, antwortete sie knapp.

Felix Frisch war zu überrascht, um das maliziöse Lächeln seiner jungen Kollegin zu bemerken. »Wie kommst du denn darauf, dass die Frau eine künstliche Hüfte hat?«

Julia, die in der Zwischenzeit Latex-Handschuhe übergestreift hatte, beugte sich über die Grube und wischte an der linken Hüfte des Skeletts etwas Erde beiseite. »Da schau. Das Stück da ist viel heller. Und viel weniger verwittert oder zerfressen.«

Felix Frisch, der sich schnell wieder gefasst hatte, wandte sich an den Besitzer des Weingartens. »Da können Sie einmal sehen, was eine junge Polizistin unter der sachkundigen Führung eines alten Hasen wie mir lernt. Ist schon toll, unsere Julia. Und nachdem eine künstliche Hüfte ein klarer Hinweis darauf ist, dass die Frau nicht schon seit hundert Jahren hier liegt, werde ich jetzt unsere Kollegen von der Mordkommission in St. Pölten verständigen.«

3. April, 15:50 Uhr

Die Chefinspektorin saß in ihrem schmucklosen Büro, in das sie heute früh Blumen gebracht hatte, und starrte aus einem der sechs schießschartenartigen Fenster. Sie dachte über das Gespräch mit ihrem neuen Boss nach. Was für ein himmelhoher Unterschied zu seinem Vorgänger. In der Sekunde, in der er sie über seinen Schritt in die Pension informiert hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ihn vermissen würde. So klug, kompetent und im persönlichen Umgang angenehm wie er war. Sie hätte sich jedoch nie träumen lassen, dass ihre Sehnsucht nach ihm bereits nach drei Tagen unter neuer Führung so groß sein würde. Schon möglich, dass dem Innenminister ihre gute Arbeit aufgefallen war. Die Morde, die dank ihrer Hilfe im letzten Jahr aufgeklärt worden waren, hatten immerhin auch in den überregionalen Medien viel Staub aufgewirbelt. Aber warum sollte er ihr deswegen einen Schreibtischjob in Wien anbieten wollen? Ihm musste außerdem klar sein, dass sie daran nicht sonderlich viel Interesse hatte. Sie war sicher, dass ihr möglicher Wechsel nach Wien eine Idee ihres neuen Chefs war. Er wollte sie loswerden, damit er sich mit seinen eigenen Leuten umgeben konnte. Und er hatte offensichtlich schon ihren Nachfolger im Auge.

Seine Taktik war ihr klar. Zuerst würde er in der Person ihres Stellvertreters den schwächeren Turm beschießen und, sobald der sturmreif geschossen war, sie selbst als eigentliches Ziel attackieren. Die Adresse des Landeskriminalamts hieß »Schanze 7«, früher hatte ihr Name »Auf der Bauernschanze« gelautet. Wie passend für ein Gefecht. Sie würde die Rolle der Scharfschützin übernehmen. Im Fall des Falles würde sie auch keine Skrupel haben, auf den Kredit zu setzen, den ihr die Zeitungen wegen ihrer spektakulären Erfolge eingeräumt hatten. Ihr kam entgegen, dass der »Niederösterreichische Tag« einen kritischen Kommentar über ihren neuen Vorgesetzten verfasst hatte, in dem es hieß, er verdanke seine Ernennung vor allem parteipolitischem Kalkül.

Ein kurzes Klopfen an ihrer Tür, und schon ging sie auf, ohne dass die eintretende Person auf ein »Herein« gewartet hätte. Obwohl sie ihren Schreibtischsessel so gedreht hatte, dass sie mit dem Gesicht zum Fenster saß, was sie immer tat, wenn sie nachdachte, wusste sie sofort, wer da gleich seinen massigen Körper ins Büro schieben würde.

Es konnte nur Gerhard Malzacher sein, den alle im Büro wegen seiner Ähnlichkeit mit der Filmfigur Bud Spencer »Spencer« nannten. Nur er konnte sich ihr gegenüber Freiheiten herausnehmen, die sie anderen Mitarbeitern nie hätte durchgehen lassen. Doris gab ihrem Drehstuhl mit ihrem rechten Bein einen kleinen Schwung und lächelte ihren Stellvertreter an.»Du willst wohl wissen, wie es mit dem Marbolt gelaufen ist?«

 

»Auch.« Ohne eine Aufforderung seiner Chefin abzuwarten, fläzte er sich in den Holzsessel, der vor dem Schreibtisch stand.

»Ich bin neugierig, wie lange der Sessel dein Gewicht aushält. Aber sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«

»Komm, lenk nicht ab. Wie war’s?«

»Was erwartest du denn? Du hast ihn doch beim Rundgang erlebt. Interessiert. Gescheit. Und wirklich sehr freundlich. So war er auch im Gespräch mit mir. Von dir hält er übrigens sehr viel.« Sie bemühte sich, ihren Stellvertreter besonders freundlich anzuschauen, in der Hoffnung, dadurch glaubhaft zu wirken.

»Komm, Doris! Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass du mir einen Scheiß erzählst. Der Mann war schon ein Schleimer, als er noch im Büro unseres hochverehrten Herrn Landeshauptmanns gearbeitet hat. Und glaub mir, in der Schule des Innenministers steht auch nicht ›Charakterbildung‹ als Hauptfach auf dem Stundenplan.«

Malzacher wuchtete seinen Körper von der linken auf die rechte Seite. Der Sessel ächzte und knarzte, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Malzacher schien das nicht im Geringsten zu stören.

»Spencer, du bist wieder einmal völlig auf dem Holzweg. Er mag dich. Und mich mag er auch.«

»Dass er dich mag, überrascht mich nicht einmal. Weil du für seine Karriere nützlicher bist als ich. Aber an deiner Stelle würde ich ihm auch nicht über den Weg trauen. Ich weiß nicht, ob es ein Rasierwasser gibt, das sich ›Falscher Hund‹ nennt. Wenn ja, dann wäre er dafür ein ideales Testimonial oder wie das heißt.«

Malzacher, der die abwehrende Handbewegung seiner Chefin bemerkte, sagte: »Ja, ich bin schon still. Und ich werde ihm selbstverständlich mit aller Loyalität, zu der ich fähig bin, dienen. Aber wegen dem Marbolt allein bin ich gar nicht da. Stell dir vor, wer mich gerade angerufen hat.«

»Keine Ahnung.«

»Dieser Unglücksmensch mit Namen Frisch, der sich als Revierinspektor verkleidet hat.«

»Der hat mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt. Wo drückt ihm denn der Schuh?«

»Er behauptet, in einem Weingarten bei Weißenkirchen zu stehen, in dem Kinder angeblich ein weibliches Skelett gefunden haben.«

»Der lässt auch nichts unversucht, um auf sich aufmerksam zu machen«, sagte Doris mit einem Kopfschütteln.

»Vielleicht macht ihm seine Frau die Hölle heiß, weil er noch nicht Gruppeninspektor ist.«

»Dann muss er entweder gescheiter werden oder sich eine andere Frau suchen. Sag ihm jedenfalls, dass wir für Skelette nicht zuständig sind. Er soll seinen Fund den Archäologen melden. Und du geh nach Hause und mach dir einen schönen Abend.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Vielleicht schaffe ich es noch zum Elternsprechtag.« Doris versuchte, ihre Stirnfransen aus dem Gesicht zu blasen, und stand auf. Ihr Stellvertreter blieb sitzen.

»Da gibt es nur einen Haken. Er behauptet, dass das Skelett eine künstliche Hüfte hat. Ich habe noch nie gehört, dass sich Archäologen für Gelenke aus Kunststoff interessieren.«

Die Chefinspektorin setzte sich wieder. »Dieser Frisch kann doch nicht einmal ein Knie von einer Hüfte unterscheiden. Wie will so jemand erkennen, ob ein Knochen aus Kunststoff ist?«

Malzacher feixte. »Vielleicht hat er den Tipp von den Kindern bekommen.« Er stand auf. »Wird mir nichts anderes übrig bleiben, als hinzuschauen. Ich nehme an, dass du keine Lust hast, mich zu begleiten?«

»Diesmal liegst du mit deiner Annahme ausnahmsweise richtig. Wenn das mit der künstlichen Hüfte wirklich stimmt, kann es ja nicht so schwer sein, die Person zu identifizieren. Meines Wissens haben künstliche Gelenke alle eine Kontrollnummer. Wegen eventueller Haftungsfragen.«

»Donnerwetter. Was du alles weißt.«

»Vielleicht kannst du dir bei der Gelegenheit wenigstens einen guten Urgesteinsriesling mitnehmen. Der vom Jamek ist besonders zu empfehlen.«

»Um Himmels willen. Sag das nicht so laut. Und vor allem nicht vor dem Marbolt. Sonst nützt dir dein ganzes Wissen um Kontrollnummern nichts. In deiner Personalakte wird nur stehen, dass du eine Säuferin bist.«

3. April, 16:30 Uhr

Gerhard Malzacher hatte sich entschlossen, zunächst ohne Begleitung durch die Kollegen der Spurensicherung nach Weißenkirchen zu fahren. Auch wenn ihm die Sache mit der künstlichen Hüfte eigenartig vorkam, glaubte er im Moment nicht wirklich an einen Fall für die Mordkommission. Zumal das Skelett auch keine Anzeichen von Gewalt aufwies, wie ihm Felix Frisch versichert hatte.

Dennoch war der Chefinspektor gar nicht unglücklich über seine Fahrt. Er war nicht wie seine Chefin in der Wachau geboren, aber er liebte diese Gegend, seit er in seiner Schulzeit einen Klassenausflug auf die Ruine Aggstein unternommen hatte. Für ihn als gebürtigen Amstettner war das ein Erlebnis gewesen. Wandertag. Zuerst eine Fahrt mit dem Schiff von Melk nach Aggstein und dann ein Fußmarsch hoch zur Ruine. Er erinnerte sich noch, wie er während des Aufstiegs gestöhnt hatte, weil er schon als Dreizehnjähriger zu den Kindern gehörte, bei denen das Essen besonders gut anschlug. Aber kaum oben angekommen, hatte ihn sofort das Gefühl überkommen, dass sich die Mühe gelohnt hatte. Dabei hätte er gar nicht sagen können, warum.

Sein Klassenvorstand hatte eine Führung durch die Ruine organisiert. Allerdings mit einem Führer, dem auch ein Halbwüchsiger anmerkte, dass er schon zum neunhundertfünfzigsten Mal den gleichen Text in der gleichen Tonlage herunterleierte. Dennoch hatten die Geschichten vom Rosengärtlein, von dem aus so viele Gefangene in den Tod gestürzt waren, und von den Burgherren, die eine Kette über die Donau gespannt und Handelsschiffe ausgeplündert hatten, die sich darin verfingen, ihre Wirkung auf den kleinen Gerhard nicht verfehlt.

Die Zeit der Raubrittergeschichten war für ihn allerdings längst vorbei. Ohne dass seine Faszination für die Wachau darunter gelitten hätte. Er fuhr deshalb nicht auf der neuen Brücke im Ostteil von Krems über die Donau. Er entschied sich, bis Mautern südlich der Donau zu bleiben und über die alte Brücke nach Stein und dann weiter in die Wachau zu fahren. Er mochte diese Brücke. Auch wegen ihrer unharmonischen Form. 1945 war sie von den deutschen Truppen, die sich auf dem Rückzug befanden, gesprengt worden. Das hatte ihm vor vielen Jahren ein Kremser Polizeikommandant erzählt. Glücklicherweise war sie wieder aufgebaut worden. Von ihr genoss man einen sagenhaften Blick auf die stromabwärts liegende, viele Jahrhunderte alte Häuserfront von Stein, die dem Namen der Stadt alle Ehre machte. Gleich vier Kirchtürme sprangen dem Betrachter ins Auge. Heute wurden sie von der untergehenden Sonne im Westen angestrahlt wie durch einen Scheinwerfer. Was für ein prachtvoller Anblick!

Ein paar Minuten später sah er knapp vor Weißenkirchen den Revierinspektor, dem er vor zwanzig Minuten seine ungefähre Ankunftszeit durchgegeben hatte. Er wartete am Straßenrand in Begleitung eines Mannes im Alter von Mitte vierzig. Wahrscheinlich handelte es sich um den Besitzer des Weingartens. Mit einer betont ausladenden Geste bedeutete Frisch dem Chefinspektor, der sich durch seine Lichthupe zu erkennen gegeben hatte, nach rechts einzubiegen. Ohne anzuhalten, fuhr Malzacher bis zum Polizei-Golf, neben dem er einparkte. Er wurde wie ein alter Bekannter von Felix Frisch begrüßt, der ihn dann mit dem Besitzer des Weingartens bekannt machte.

»Die Kinder des Herrn Nimmervoll habe ich nach Hause geschickt. Ich habe mir von ihnen ihre Geschichte genau erzählen lassen. Meine Kollegin Julia, die mich anfänglich begleitet hat, hat sie zu ihrer Mutter gebracht. Zu viele Leute auf einem Fleck stören nur.« Frisch blickte ganz beflissen auf den stellvertretenden Chef der Mordkommission. Malzacher hatte das Gefühl, dass er sich Lob für seine Umsicht erwartete. Den Gefallen wollte er ihm aber nicht tun.

»Hätten mich zwar nicht gestört, aber passt schon. Können wir gleich zur Fundstelle gehen?«

»Selbstverständlich. Wenn es dir recht ist, gehe ich voraus.«

»Jaja, geh nur.« Malzacher wandte sich im Gehen an Max Nimmervoll. »Seit wann haben Sie diesen Weingarten?«

»Soweit ich weiß, hat den mein Vater vor circa fünfundzwanzig Jahren gekauft. Er ist einer der ersten gewesen, die hier nach dem Weinskandal auf Qualität gesetzt haben. Hat sich für unsere Familie schwer ausgezahlt. Von der Riede da stammt unser berühmter Urgesteinsriesling. Achtzig Prozent der Flaschen gehen in den Export.«

Malzacher war nicht sicher, ob die Gesichtsfarbe des Weinbauers auf reichlichen Konsum seines Rieslings zurückzuführen war oder darauf, dass er die letzten Wochen schon viel Zeit im Freien verbracht hatte.

»Dann werden Sie ja wohl keine Flasche für mich übrig haben. Zum Glück, wegen meines Blutdrucks darf ich ohnehin keinen Alkohol trinken.« Er zwinkerte Max Nimmervoll zu. Der zwinkerte zurück.

»Da kennen Sie aber meinen Urgesteinsriesling schlecht, Herr Chefinspektor. Der hat sogar blutdrucksenkende Wirkung.«

Felix Frisch, der schnaufend fünf Meter vor Malzacher ging und sich sichtlich ausgeschlossen fühlte, drehte sich um. »Wir sind gleich da. Noch dreißig Meter.«

»Da bin ich jetzt aber gespannt.«

Keine Minute später standen sie vor der ausgehobenen Grube. Malzacher sah mit einem Blick, dass Frischs Einschätzung richtig war. Es handelte sich offensichtlich um das Skelett einer Frau. Einer ziemlich zierlichen Frau sogar.

»Herr Nimmervoll, Sie sagen, dass sich dieser Weingarten seit fünfundzwanzig Jahren im Familienbesitz befindet. Ist er in diesen fünfundzwanzig Jahren einmal umgegraben worden?«

»Schon, aber nicht hier am Rand. Da müssen wir allein schon wegen der Steinmauer aufpassen, dass sie uns nicht einstürzt.«

Frisch beeilte sich, in das Gespräch einzusteigen. »Als gebürtiger Kremser kenne ich mich beim Terrassenweinbau aus. Da muss man beim Graben wegen der Steinmauern höllisch aufpassen.«

»Das heißt aber, dass die Frau da schon seit hundert Jahren hätte begraben sein können.«

»Habe ich auch gedacht. Bis mir die Sache mit der künstlichen Hüfte aufgefallen ist. Da, schau her.« Der Revierinspektor zeigte mit sichtlichem Stolz auf einen Abschnitt des Skeletts, der weißer war als die angrenzenden Teile und auch weniger verwittert aussah.

Malzacher trat näher. »Schaut tatsächlich so aus. Gratuliere. Wer hat denn so auf die Hüfte da draufgehaut? Schaut ja ganz frisch aus.«

Malzacher merkte, dass Max Nimmervoll einen roten Kopf bekam. »Das ist leider meinem David passiert. Wie er mit der Spitzhacke in den Erdboden geschlagen hat.«

»Kein Grund zur Aufregung. Obwohl es natürlich schöner gewesen wäre, wenn wir das gute Stück völlig intakt in die Hände bekommen hätten. Dann hätten wir nämlich noch die Kontrollnummer der Prothese erkennen können.«

Malzacher ging in die Knie, was ihm wegen seines Gewichts ziemlich schwerfiel, und beugte sich über das Skelett. Dann nahm er eine kleine Bürste aus seiner Sakkotasche und begann, sorgfältig die Knochen der linken Hand zu säubern. »Eigenartig. Der linke Ringfinger fehlt. Ich bin kein Pathologe, aber es schaut mir nicht danach aus, als ob der Finger fachgerecht von einem Chirurgen amputiert worden wäre. Soweit man das überhaupt noch feststellen kann.«

Um aufstehen zu können, war er auf die Hilfe des Revierinspektors angewiesen.

»Danke.« Jetzt schnaufte auch er. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, sagte er: »Wirklich schlau werde ich aus der Geschichte noch nicht. Ich habe zwar keine Ahnung, wann man zum ersten Mal künstliche Hüften eingesetzt hat, aber allzu lang kann das nicht her sein. Da müssten sich doch noch irgendwelche Reste von Kleidern finden lassen. Gummibänder zum Beispiel. Aber keine Spur davon. Und die Sache mit dem Finger gefällt mir auch nicht. Da könnte ein Ring dran gewesen sein, der sich nicht ohne Gewalt hat entfernen lassen. Ich sage es ungern, aber es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diesen Weingarten vorerst zu einem Tatort zu erklären. Heute können wir hier nichts mehr untersuchen. Dafür wird es bald zu dunkel.«

Der Weingartenbesitzer unterbrach Malzacher aufgeregt. »Sie werden mir doch nicht den ganzen Weingarten umgraben lassen? Wissen Sie, wie lange es braucht, bis ich dann wieder Trauben auf den Stöcken habe?«

Felix Frisch stellte sich in Positur. »Dann hätten Sie den Köter Ihrer Tochter in die Donau schmeißen sollen. Wäre für alle Beteiligten ohnehin das Gescheiteste gewesen.«

 

Malzacher ertappte sich bei dem Gedanken, dass der Revierinspektor gar nicht so dumm war, wie er immer gedacht hatte, versuchte aber, den Weinbauern zu beruhigen. »Keine Sorge. Mehr als zwei, drei Weinstöcke werden nicht dran glauben müssen. Und ich bin natürlich froh, dass Sie den Hund nicht in der Donau entsorgt haben. Mein Kollege hat nur Spaß gemacht. Das Skelett werde ich abtransportieren lassen. Und morgen schicke ich gleich in der Früh die Spurensicherung. Felix, soll ich mit deinem Chef reden, damit der Fleck über Nacht bewacht wird, oder reicht es, wenn du ihm einen schönen Gruß von mir ausrichtest?«

»Ich werde mich darum kümmern, keine Sorge. Ich werde selbst Wache halten. Da braucht es einen sehr erfahrenen Mann.«