Dürnsteiner Würfelspiel

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4. April, 09:50 Uhr

Die Schmidgasse galt nicht gerade als hervorragende Einkaufsstraße. Dazu war die Besucherfrequenz auf den knapp hundertfünfzig Metern zwischen Körnermarkt und Oberer Landstraße einfach zu gering – auch wenn das Steinertor gleich ums Eck stand. Dennoch hatte Hilde Dahlmeyer keine Sekunde gezögert, dort in einem nur dreißig Quadratmeter großen Lokal eine Boutique zu eröffnen.

Das Lokal übernahm sie von ihrer Mutter, die dort vierzig lange Jahre Wachauer Goldhauben gestickt und ausgebessert hatte, bevor sie eine schwere Arthritis dazu zwang, ihren geliebten Beruf aufzugeben. Die letzten fünfzehn dieser vierzig Jahre war die Stickerei ohnehin nur mehr reine Liebhaberei und ein Verlustgeschäft gewesen, weil die Hochzeiten der Wachauer Trachten und der dazugehörigen Hauben längst vorbei waren. Einzig dem Starrsinn ihrer Mutter war es zu verdanken, dass es diese Goldhauben noch immer gab. Hildes Mutter stand zu ihren Überzeugungen, wie falsch sie auch immer sein mochten.

Hilde stand der Sinn nicht mehr nach Goldhauben, seit sie diese als junges Mädchen ihrer Mutter zuliebe bei diversen Dirndlmodeschauen vorgeführt hatte. Natürlich unter größtem Applaus. Sie wäre bei diesen Gelegenheiten lieber im Bikini über den Laufsteg geschritten. Bis heute war sie davon überzeugt, dass sie damit orkanartige Begeisterungsstürme hervorgerufen hätte.

In ihrem Taufschein stand nicht Hilde, sondern Kriemhild. Damit hatte sie es aber noch besser getroffen als ihr vor einigen Jahren tödlich verunglückter Bruder, der den germanischen Edelnamen Giselher trug. Kein Wunder bei ihrer Mutter, die 1934 als Brunhilde Kaltenegger geboren worden war.

Hilde Dahlmeyer schämte sich ihres Vornamens nicht. Dazu liebte sie ihre Mutter zu sehr. Die hatte ohnehin nie viel Glück im Leben gehabt. Der Vater der kleinen Brunhilde war einst einer der ersten Kremser gewesen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen waren, und hatte so seine Frau als ganz junge Witwe mit zwei Kindern zurückgelassen. Als späterer Ehefrau war es ihrer Mutter nicht viel besser gegangen. Ihr neuer Ehemann war nicht wie ihr Vater in Polen geblieben, der hatte es nur bis nach Fürstenfeld geschafft. Er war von einer Dienstreise in die Steiermark wegen einer jüngeren Frau nicht mehr zurückgekehrt. Hilde und ihr Bruder hatten ihren Vater nie mehr wiedergesehen.

Auch wenn die Lage der Boutique alles andere als ideal war, brauchte sie ihren Entschluss geschäftlich nie zu bereuen. Es gab in Krems natürlich auch andere, durchaus herzeigbare Modegeschäfte, aber Frau Dahlmeyer war mit ihren jetzt vierundvierzig Jahren eine stadtbekannte Person, was den Nachteil der Lage mehr als wettmachte. Zu dieser Bekanntheit verhalf ihr ihre attraktive Erscheinung, die von einem makellos jung wirkenden Gesicht gekrönt wurde, auf dem ihr sehr intensives Leben nicht die geringsten Spuren hinterlassen hatte. Zur Bekanntheit trug aber mindestens ebenso sehr der Umstand bei, dass sie über Empfehlung ihrer Mutter bei der letzten Gemeinderatswahl für die FPÖ kandidiert und gleich die meisten Vorzugsstimmen unter den Kandidaten aller wahlwerbenden Gruppen erhalten hatte. Es gab sogar schon ein Angebot, die Partei als Spitzenkandidatin in die nächste Wahl zu führen. Aber davor scheute sie sich. Sie wusste selbst, dass sie sich im Grunde genommen für Politik gar nicht interessierte. Das war aber nicht der Hauptgrund für ihr Zögern. Obwohl sie ein sehr kontaktfreudiger Mensch war, hatte sie einfach wenig Lust, sich Abend für Abend auf Veranstaltungen, die sie anödeten, herumzutreiben und auf Dinge zu verzichten, die ihr wirklich wichtig waren.

Außerdem war ihr klar, dass für die erfolgreiche Vorzugsstimmenkampagne außer ihren Kundinnen, von denen sich die meisten neben ihrem entsprechenden finanziellen Background auch durch überdurchschnittlich hohes Selbstbewusstsein auszeichneten, vor allem ihre männlichen Fans verantwortlich waren. Das alleine würde aber für eine erfolgreiche Spitzenkandidatur nicht reichen.

Auch wenn sie wenig Freude mit ihrem offiziellen Vornamen hatte, wusste sie, dass sie mit ihren weizenblonden Haaren der Namensgeberin aus der Nibelungensage optisch alle Ehre machte. So sehr, dass ihr in der zweiten Klasse der Handelsakademie eine Klassenkameradin unter großem Hallo der ganzen Klasse den Vorschlag gemacht hatte, sich unbedingt nur von einem Siegfried entjungfern zu lassen. Ein Siegfried war aber nicht bei der Hand gewesen, und so hatte drei Monate später ein Oliver diese Aufgabe übernommen. Sehr ideologiefest war sie ja im Unterschied zu ihrer Mutter nie gewesen.

Die Boutique sollte laut dem Schild, das an der Innenseite der Eingangstür angebracht worden war, schon seit einer dreiviertel Stunde geöffnet haben. Doch Hilde Dahlmeyer hatte es nicht eilig, als sie von ihrer Wohnung am Dominikanerplatz, gleich neben dem Geburtshaus von Franz Liszts Mutter, in Richtung Schmidgasse ging.

Es war ein Fußmarsch von drei Minuten. Als sie am Körnermarkt beim Haus »Zu den vier Jahreszeiten« vorbeikam, stand gerade eine Touristengruppe davor, die sich von einem Stadtführer die Einzelheiten der prachtvollen Rokokofassade erklären ließ. Die Boutiquenbesitzerin, die trotz eines langen Abends aussah, als hätte sie mindestens neun Stunden tief und unschuldig geschlafen, tat so, als würde sie die Blicke der männlichen Touristen, die sich wie auf Kommando von der mehr als zweihundertfünfzig Jahre alten Fassade ab- und ihr zuwandten, nicht bemerken. Sie übersah jedoch auch die Touristin in ausgelatschten Schuhen nicht, die ihrem Begleiter den Ellbogen heftig in die Seite stieß.

Sie war derartige wortlose Komplimente gewohnt. Dennoch fand sie, dass der Rammstoß ihren Tag schon gerettet hatte, bevor er noch richtig beginnen konnte.

4. April, 11:05 Uhr

Gerhard Malzacher hatte beschlossen, das gefundene Skelett nicht mit besonderer Eile zu behandeln. Die Spurensicherung würde ohnehin mit ihrer gewohnten Mischung aus Schnelligkeit und Genauigkeit arbeiten, ohne dass er ihr im Nacken sitzen musste. Die Herrschaften würden nur bockig werden. Was den Arbeitseifer des Gerichtsmediziners anging, der von Wien nach Krems beordert worden war, und den er nicht persönlich kannte, war er da nicht so sicher. Aber auch das war für Spencer kein Problem. Wenn der sich Zeit lassen wollte, bitte sehr.

Er telefonierte gerade mit dem Chef der Schiedsrichterbesetzungskommission der niederösterreichischen Fußballlandesliga. Bei dem wollte er seinen Wunsch deponieren, nicht gleich wieder als Spielebeobachter bei einem Match hoch im Norden an der tschechischen Grenze eingesetzt zu werden. Als er gerade seine Gründe erklären wollte, steckte einer seiner Mitarbeiter den Kopf zur Tür herein. Spencer, der sich bei dieser Art von Telefonaten besonders ungern unterbrechen ließ, bedeutete dem Mitarbeiter mit einer unmissverständlichen Geste, die Tür gefälligst wieder von außen zu schließen. Das lag nicht daran, dass er vor seinen Mitarbeitern den Inhalt dieser Gespräche geheim halten wollte. Im Gegenteil, die ganze Mordkommission wusste über das Wochenendhobby ihres stellvertretenden Chefs Bescheid. Sie wussten auch, dass er zur Vorbereitung seines Freizeitvergnügens die Dienstzeit und das Diensttelefon benützte. Aber der Chef der Schiedsrichterbesetzungskommission war ein vielbeschäftigter Mann, den man schwer ans Telefon bekam.

Der Mann, der zu einem blitzartigen Rückzug aufgefordert wurde, schien dieses Zeichen entweder nicht bemerkt zu haben oder zu ignorieren. Er blieb nicht nur stehen, sondern bedeutete seinem Chef mit einer Auf- und Abwärtsbewegung der geschlossenen linken Hand, den Hörer aufzulegen. Diese Geste war ebenfalls unmissverständlich.

Spencer entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner mit einem Notfall und versprach, später noch einmal anzurufen. Dann wandte er sich dem Störenfried zu. »Ich kann für dich nur hoffen, dass es wirklich wichtig ist. Sonst kannst du in deinem Heimatkaff wieder Streife schieben.«

Malzacher grinste. »Dann wäre ich dich endlich als Chef los. Aber leider ist es wirklich dringend. Ich habe den Gerichtsmediziner am Apparat. Und er muss in spätestens drei Minuten weg.«

»Warum sagst du mir das nicht gleich? Worauf wartest du noch? Dalli, Dalli. Aber wie der Blitz, wenn ich bitten darf.«

Keine zehn Sekunden später hatte er den Mediziner am Apparat. Mit einer Lautstärke, die vielleicht einem Telefonat von der niederösterreichischen Metropole in die Hauptstadt von Burkina Faso angemessen gewesen wäre, begrüßte er seinen Gesprächspartner in Wien.

»Jetzt sagen Sie bloß, Sie können mir schon etwas über das Skelett erzählen. Dann arbeiten Sie ja schneller, als die Polizei erlaubt.«

»In Wien gibt es bei der Arbeit keine Geschwindigkeitsbeschränkung. Ich habe nicht gewusst, dass das in St. Pölten anders ist.«

Dem Chefinspektor war der ironische Ton natürlich nicht entgangen. »Den Rüffel habe ich verdient. Gefällt mir. Dann schießen Sie bitte los!«

»Sehr viel, das Sie weiterbringen wird, kann ich Ihnen leider nicht bieten. Der Verwesungsprozess der Knochen ist schon stark fortgeschritten. Ich bin allerdings sicher, dass das Skelett von einer Frau über sechzig stammt. Wahrscheinlich deutlich über sechzig. Circa ein Meter sechzig groß und wahrscheinlich eher von der dünnen Sorte. Und sie hatte eine künstliche rechte Hüfte. Gut erkannt. Nur leider wurde sie teilweise zertrümmert. Das kann aber erst vor Kurzem geschehen sein.«

»An der Zertrümmerung ist der Finder des Skeletts schuld. Unfreiwillig. Stimmt es übrigens, dass künstliche Gelenke alle eine Kontrollnummer haben müssen?«

»Prinzipiell schon, die Hüfte hat aber nur mehr Spuren davon. Ich bezweifle, ob Ihnen die Reste weiterhelfen werden.«

 

»Habe ich mir schon gedacht.« Spencer, der sich Notizen machte, konnte seine Ungeduld nur schwer zügeln. »Haben Sie schon eine Einschätzung, wie lange die Frau unter der Erde gelegen sein könnte?«

»Nachdem es keine Spur von Haaren mehr gibt und von den Zähnen auch nicht mehr viel übrig ist, würde ich sagen mindestens fünfzehn und maximal fünfundzwanzig Jahre. Bei einem reinen Lehmboden könnten es sogar ein bisschen mehr sein.«

»Anzeichen von Gewaltanwendung?«

»Sicher keine Schussverletzung und auch kein Schlag durch einen schweren Gegenstand. Der linke Ringfinger fehlt. Die Knochenfragmente sind an der Stelle sehr ausgefranst. Könnte sein, dass der Finger unsachgemäß entfernt worden ist. Aber viel Geld würde ich darauf nicht setzen. Tut mir leid.«

»Wie heißt es so schön in der Bibel, oder wo immer das steht: Ich bin so klug als wie zuvor. Ich habe nichts anderes erwartet. Die Frau könnte aber erwürgt oder vergiftet worden sein?«

»Die Frage, ob die Frau stranguliert worden ist, wird Ihnen kein Gerichtsmediziner der Welt beantworten können. Beim Gift sieht es anders aus. Ihnen brauche ich ja nicht zu erklären, dass sich einige Gifte in den Knochen eine Ewigkeit lang nachweisen lassen. Ganz nebenbei bemerkt: Das Zitat steht nicht in der Bibel, sondern im ›Faust‹.«

»Danke für den Hinweis. Aber dafür wissen Sie sicher nicht, wie letzten Sonntag der SV Würmla gegen den SC Retz gespielt hat. Man kann eben nicht auf allen Gebieten beschlagen sein.«

»Vielleicht auf mehr, als sie glauben, Herr Chefinspektor.« Malzacher merkte, dass dem Pathologen das Gespräch Spaß machte.

»Also, ob die Frau an Gift gestorben ist, kann ich auf die Schnelle nicht feststellen. Da müsste ich das Skelett nach Wien in die Gerichtsmedizin bringen lassen.«

»Könnte nicht schaden. Nachdem für eine solche Fahrt nach Wien der Amtsschimmel gesattelt werden muss, werde ich das von hier aus übernehmen. Ich werde mit dem Staatsanwalt reden. Eine letzte Frage habe ich noch. Halten Sie es für möglich, dass die Frau über das Hüftgelenk identifizierbar ist?«

»Wenn die Kontrollnummer nichts hergibt, eher chancenlos. Ich kann keinen Kunstfehler erkennen, an den sich ein Operateur erinnern würde. Abgesehen davon, dass er das sowieso nie täte, auch wenn er es könnte. Es sind auch vor fünfundzwanzig Jahren schon viele Hüftgelenke operiert worden. Selbst wenn sie alle Krankenakten über einen Zeitraum von zehn Jahren studieren, werden Sie da nichts finden, was Ihnen weiterhelfen wird. Abgesehen davon, dass die Frau ja nicht nur in Krems, St. Pölten oder Amstetten operiert worden sein könnte. Wien oder Linz wäre genauso denkbar.«

»Herr Doktor, Sie sind mir sehr sympathisch, aber das hilft mir nicht wirklich weiter. Haben Sie nicht wenigstens zumindest eine Kleinigkeit auf Lager, die Balsam für meine Seele sein könnte?«

»Ich glaube, die habe ich.«

Malzacher spürte, dass er den Hörer fast zerdrückte, so angespannt war er plötzlich. Gleichzeitig hörte er sich in einem überraschend sanften Tonfall sagen: »Ich habe doch noch das Gefühl, Sie in mein Abendgebet einschließen zu müssen.«

»Sie haben mich nach dem Resultat SV Würmla gegen SC Retz gefragt. Vier zu zwei. Und wenn Sie sich fragen, woher ich das weiß: Ich war bei der Partie zufällig Schiedsrichter.«

4. April, 11:30 Uhr

Der Chef der Chirurgie hatte von dem Skelettfund gehört. Es war aber nicht das Skelett, sondern vielmehr dessen künstliche Hüfte, die ihn dazu bewog, den Fund zu inspizieren. Rein professionelle Neugierde.

Er wollte einfach sehen, ob es daran Spuren starker Abnützung gab, die einen Hinweis auf die Qualität des verwendeten Materials liefern konnten. Wie oft bekommt man schon eine Prothese zwanzig Jahre nach dem Ableben seiner Trägerin zu Gesicht?

Nachdem man ihm mitgeteilt hatte, dass die Knochen so rasch wie möglich in die Gerichtsmedizin der Med-Uni in Wien zur weiteren Untersuchung gebracht werden sollten, rief er den Haus-Pathologen mit der Bitte, ihm die Knochen kurz zu zeigen, an.

Der Operationsgehilfe, der das in einen weißen Plastiksack gehüllte Skelett aus einer der vierundzwanzig Kühlboxen zog, über die die Prosektur verfügte, legte es vorsichtig vom Transportwägelchen auf einen der beiden schwenkbaren Seziertische. Der Primar öffnete selbst den Plastiksack, setzte eine Brille auf und beugte sich über die kümmerlichen Überreste der Leiche.

»Trotz des Hiebs, den sie abbekommen hat, ist deutlich zu erkennen, dass es sich um eine zementierte Prothese handelt. Der Eingriff ist also bei einer älteren Person vorgenommen worden. Mit schon reduziertem Knochenmaterial in der Pfanne.«

»Würde ich auch sagen. Dass die Frau zumindest bei ihrem Tod schon jenseits der sechzig gewesen sein muss, sieht man auch an anderen Merkmalen.«

»Ich hoffe, Sie wollen jetzt mit mir kein Anatomie-Seminar abhalten.« Ritzek lachte seinen deutlich jüngeren Kollegen an.

»Wie lange schätzen Sie, dass die Frau schon in dem Weingarten gelegen ist?«

»Der Gerichtsmediziner hat gesagt, mindestens fünfzehn Jahre. Eher mehr. Auch zwanzig bis fünfundzwanzig sind möglich.«

»Dann habe ich sie jedenfalls nicht operiert. In meiner Turnuszeit habe ich noch nicht operieren dürfen. Abgesehen davon, dass die Frau auch ganz woanders operiert worden sein könnte. Für die Operation müsste ich mich allerdings gar nicht schämen. Hat der Kollege damals gut gemacht. Und was geschieht jetzt mit den Knochen? Ich höre, Sie wollen sie nach Wien schicken.«

»Nicht ich, sondern die Kriminalpolizei. Wollen wissen, ob es Hinweise auf Gift gibt. Brauchen aber noch das Okay der Staatsanwaltschaft.«

»Verstehe.« Der Primararzt, der in der Zwischenzeit seine Brille wieder in die Tasche seines weißen Mantels gesteckt hatte, rieb sich zweifelnd und nachdenklich die Nase. »Da würde ich an deren Stelle zuerst einmal die Vermisstenmeldungen von damals überprüfen. So viele alte Damen werden in der Wachau in einem Zeitraum von mehr als zehn Jahren nicht verschwinden. Kann natürlich auch sein, dass die Dame ganz woanders vermisst wird. Ist zum Glück nicht unser Bier. Hat der Gerichtsmediziner geschaut, ob zumindest ein Teil der Kontrollnummer noch vorhanden ist?«

»Hat er. Hat nichts Brauchbares gefunden.«

»Kein Wunder, wie die Hüfte da bearbeitet worden ist. Haben Sie eine Lupe?«

4. April, 17:15 Uhr

Er hatte sich schon vor ewigen Zeiten vorgenommen, seinen jährlichen Friedhofsbesuch auf Allerseelen zu verlegen, ohne diesen Plan je zu verwirklichen. Dabei hätte Allerseelen viele Vorteile gehabt. Erstens das Wetter. Ein nasskalter Novembertag passte einfach besser zu einem Gräberbesuch als ein früher Frühlingsabend im April. Er hatte auf dem Friedhof an einem besonders warmen Tag sogar schon einmal einen Allergieanfall erlebt – wegen der vielen Pflanzen und Gräser, die hier wuchsen. Bevor er hierherkam, hatte er immer geglaubt, dass es auf einem Friedhof nur Schnittblumen gab. Jetzt wusste er es besser. Pollenallergie war eine der lästigen Leiden, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.

Zum anderen wäre er als Friedhofsbesucher an einem Allerseelentag nie aufgefallen. Nicht dass er sich deswegen große Sorgen machen musste. Warum sollte ein Mann nicht an einem Grab trauern dürfen? Oder zumindest so tun. Er hatte stets genau darauf geachtet, die vielen Frauen, die ihm meistens mit einer Gießkanne in der Linken und einer Forke in der Rechten entgegenkamen, im Unklaren darüber zu lassen, welches Grab Ziel seiner Visite war. Es war ihm erst im Laufe der Jahre bewusst geworden, dass Friedhofsbesuch und Grabpflege eine reine Frauensache war. Er war also selbst auf dem Friedhof ein Außenseiter. Von der Wiege bis zur Bahre. Um ein Haar hätte er geschmunzelt.

Das Verheimlichen seines Ziels fiel ihm leicht. Fast ein Kinderspiel. Da er nie wirklich trauerte, konnte er sich vor dem Grab darauf konzentrieren, die Umgebung zu beobachten. Sobald jemand in seine Nähe kam, wurde aus der Salzsäule, die vor einem Grab stand und in tiefe Trauer versunken schien, ein langsam dahin schlendernder Flaneur mit einem Faible für Friedhofsatmosphäre. Er hatte einmal davon gelesen, dass ein solches Faible ein Hinweis auf einen nekrophilen Charakter war. Dabei hatte er tatsächlich schmunzeln müssen. Er hatte sich einmal beim Schmunzeln vor dem Spiegel beobachtet. Er war allerdings nicht selbstverliebt genug, um sich dabei sympathisch vorzukommen.

Jetzt war niemand zu sehen. Seit acht Jahren beherbergte das Nachbargrab zur Linken einen Kommerzialrat Ing. Romeo Nowak, wie man auf dem Grabstein lesen konnte. Dafür waren dort weder ein Geburts- noch ein Sterbedatum zu finden. Alles bestand aus grauem Marmor. Ausgestattet mit zwei pompösen Bronzeleuchtern links und rechts.

Hinter dem Grabstein befand sich eine dichte Hecke aus Buchsbaum. Wahrscheinlich, um es gegen die bröckelnde Friedhofsmauer optisch abzuschirmen. Alles stank hier nach Geld. Heute musste er sich einmal mehr fragen, wie Eltern mit dem Namen Nowak nur so grausam sein konnten, ihren Sohn Romeo zu nennen. Schon von Geburt an mit einer Belastung geboren. Damit kannte er sich aus. Interessant, dass der Vorname auf dem Grabstein ausgeschrieben war. Es hätte immerhin auch R. Nowak gereicht. Vielleicht war dieser Herr sogar stolz auf seinen Vornamen gewesen. So wie auf seine Titel. War wahrscheinlich zu seinen Lebzeiten ein unguter Zeitgenosse gewesen.

Auf der anderen Seite des einzigen Grabes, das ihn hier wirklich interessierte, gab es eines, das auf ihn wie ein Kontrastprogramm zur letzten Ruhestätte des Kommerzialrats wirkte. Die einzige Gemeinsamkeit der zwei Gräber waren die Titel. Die Leute wollten nicht ohne Titel in die Grube fallen.

Der Grabstein bestand seiner Einschätzung nach aus Granit. Er war sehr schmalbrüstig und schon ziemlich verwittert, was kein Wunder war, da er seit fast siebzig Jahren an dieser Stelle stehen musste. Johann Töpfl. Amtsoberoffizial i.R. 8. VI. 1879 – 17. IX. 1951. Die goldfarbene Schrift war bereits teilweise abgeblättert, und das Grab selbst war mit Steinen verschiedenster Art eingefasst, die alle recht locker in der Erde steckten. Es sah fast aus wie ein Grab für arme Leute. In der Mitte lauter Vergissmeinnicht, die sogar er erkannte, obwohl er sich für Blumen überhaupt nicht interessierte. Das Erdreich war feucht, so als ob es erst kürzlich gegossen worden wäre. Wahrscheinlich von einer Tochter, die ihrem Vater wohl bald Gesellschaft leisten würde.

Jedenfalls war ihm klar, dass er sich von diesem Apriltermin nie würde trennen können. 5. April. Der Geburtstag seines Peinigers. Heute musste er mit dem Vorabend vorliebnehmen. Trotz größter Bemühungen hatte er seine morgige Dienstreise nicht verschieben können. Doch das war gar nicht so schlimm. Seine Mutter hatte ihm, als er bereits längst von zuhause weg war, auch immer am Vorabend telefonisch zu seinem Geburtstag gratuliert. Sie wollte sicher sein, wie sie ihm einmal erklärt hatte, die erste Gratulantin zu sein. Ihr Grab besuchte er seltener als dieses hier. Er hatte wenig Grund, ihr und seinem Vater dankbar zu sein. In die guten Gene, die er von den Eltern mitbekommen hatte, hatten sich zu viele schlechte gemischt. Deshalb war er sein ganzes Leben lang ängstlich und feig gewesen und unsportlich dazu. Jedenfalls würde er heute die Manie seiner Mama übernehmen und schon am Vorabend des Geburtstags gratulieren. Oder zumindest an das Geburtstagskind denken.

Seine Migräne war seit heute früh noch lästiger als sonst. Sie hatte eigenartigerweise bis jetzt nicht nachgelassen. Das war kein gutes Zeichen. Kommendes Ungemach hatte sich bei ihm immer mit einer besonders heftigen Attacke über seinem rechten Auge angekündigt. Schon seit Mittag war er dabei gewesen, sich den Kopf zu zerbrechen, aus welcher Ecke das Unheil wohl diesmal kommen konnte. Seine Überlegungen waren ohne greifbares Resultat geblieben.

Auch jetzt dachte er angestrengt nach. Dabei hätte er fast die alte Frau übersehen, die nur mehr dreißig Meter von ihm entfernt war und sich mit einer randvollen graugrünen Gießkanne abmühte. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie ihm auch nur die geringste Beachtung schenkte. Trotz allem höchste Zeit, die Maske des interessierten Flaneurs aufzusetzen.

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