Die Anerkennung des Verletzbaren

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- Demokratie und Partizipation | Moralischer Fortschritt erweist sich daran, wie demokratische Informations- und Entscheidungsprozesse für die ethische Urteilsbildung fruchtbar gemacht werden und möglichst viele Menschen, im Sinne einer zunehmenden Inklusion, an diesen Urteilsbildungen teilnehmen und an deren Ergebnissen partizipieren können.

Die Konsequenz hieraus ist, dass die Menschen jeder Zeit selber mit ihren Erfahrungen für die Definition von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eintreten müssen. Auch die theologische Ethik hat als Maßstäbe keine umfassenden Entwürfe zur Hand, sondern muss und darf sich mit den Prinzipien konkreter Menschlichkeit zufriedengeben. Dieses Prinzip erkennt auch das kirchliche Lehramt an, wenn es in der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae erklärt, dass zwischen der Wahrheit und der menschlichen Person eine intime Freiheitsbeziehung besteht, die durch keine allgemeine Rationalisierung, kein Dogma, keine moralische Norm ersetzt werden kann. Die Freiheit des Subjekts, seine Würde, kann nicht mehr hintergangen werden.24 Dadurch kommt es auch zu einem wachsenden Bewusstsein des Rechts auf Pluralität in ethischen Fragen und somit nicht zu einer Aufhebung der Frage nach dem Guten, seinen Bedingungen und seiner Gestaltung, sondern zu einer Herausforderung und Pointierung.25

„Die Einheit der Moral besteht in einheitsstiftenden Grundsätzen, und nicht in einer positivistischen Übereinkunft der konkreten Normen.“26

Diese einheitsstiftenden Grundsätze liegen einerseits in der Universalität des Menschseins als solchem mit seinen fundamentalen moralisch-anthropologischen Implikationen und andererseits in den Kulturen und Individuen übersteigenden empirischen Grundlagen von Moral und Ethik, wie z. B. im grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Anerkennung: „In unserem tiefsten Inneren möchten wir mit unseren Lebensentwürfen von anderen nicht nur in Frieden gelassen werden, sondern wir wünschen respektiert zu werden, d. h. die anderen sollen zu uns ‚ja‘ sagen können. […] Der neuzeitlich, abendländische Individualismus kann dazu verführen, über der Ich-Faszination die grundlegende Gemeinschaftlichkeit im Menschsein zu vergessen, über sie hinweg zu sehen. Doch lebt auch er letztlich aus der freien Anerkennung der gleichen Würde aller.“27 Ziel muss eine Kultur der Kulturen, eine interkulturelle Ethik sein, die sich durch folgende Thesen umreißen lässt:28

- Anerkennung des Zusammenlebens | Der Wille zum Zusammenleben bildet eine conditio sine qua non, da ohne ihn überhaupt keine soziale Existenz möglich ist. Dies bringt auch eine Wachsamkeit gegenüber Tendenzen mit sich, die diesen Willen – wohlgemerkt aus sehr unterschiedlichen Motiven – untergraben, sowie gegenüber sozialen Bedingungen und politischem Handeln, die die Chancen zum Zusammenleben verbauen oder erschweren.

- Anerkennung der materiellen und sozialen Voraussetzungen | Um das Zusammenleben einer Gesellschaft zu ermöglichen bedarf es materieller und sozialer Grundlagen, die die Voraussetzung einer gesellschaftlichen Partizipation und Integration durch und von Subjekten bilden.

- Anerkennung der zentralen Bedeutung der Person | Alle Menschen müssen als Subjekte und zentraler Bezugspunkt einer gesellschaftlich-moralischen Ordnung anerkannt werden. Diese Anerkennung bildet oberstes formales und materiales Prinzip einer modernen Moral und gesellschaftlichen (Rechts)Ordnung.

- Anerkennung einer gemeinsamen Rechtsordnung | Rechtsordnungen bilden neben der materiellen Basis die institutionelle Grundlage einer Gesellschaft und regeln das Zusammenleben von Menschen. Für plurale Gesellschaften muss es sich dabei um eine Rechtsordnung handeln, die nicht konfessionell oder religiös ausgerichtet oder gebunden ist, da sie allen Recht verschaffen und vor Unrecht schützen sollte. Sie kann somit eine das Zusammenleben ermöglichende Ordnung schaffen, indem sie einerseits das Gemeinsam-Erforderliche und andererseits Freiheit und Vielfalt garantiert.

1.2.2 Sprachphilosophie: Dynamische Vagheit und Kohärenz des Diskurses

Einen inneren Zusammenhang weisen diese für eine (post)moderne Ethik aufgezeigten Prinzipien mit der postmodernen Sprachkritik auf, da Moral und Ethik nur in und durch Sprache und somit Geschichte existent sein können. Insbesondere Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty können hier herangezogen werden:

Ludwig Wittgenstein29 wendet sich gegen den philosophischen Begriff der Bedeutung und plädiert für die „Gebrauchstheorie der Bedeutung“, wonach alle sprachlichen Ausdrücke ihre Bedeutung ihrer Rolle in einem Sprachspiel verdanken. Deswegen kann es keine verwendungsunabhängige Bedeutung von Sprache geben. Außerdem bringt Wittgenstein den Terminus der Familienähnlichkeit ein, wonach Gegenstände nicht deshalb unter einen Begriff fallen, weil sie eine bestimmte Anzahl von Merkmalen teilen, sondern weil sie ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“30 aufweisen. Hjalmar Wennerberg führt diesen Begriff der Familienähnlichkeit in seiner Interpretation fort und erweitert ihn, indem er davon ausgeht, dass Begriffe nicht nur in statischer, sondern auch in dynamischer Hinsicht vage sind. Statische Vagheit bezeichnet den Umstand, dass Begriffe unscharfe Ränder haben, weshalb im Einzelfall fraglich werden kann, ob ein Gegenstand unter einen Begriff fällt, oder nicht. Ertragreich ist aber seine Auffassung von dynamischer Vagheit, wonach die Klasse der Gegenstände, die unter einen Begriff fällt einer Evolution unterliegt. Daraus lässt sich die Konsequenz ziehen, dass die Klasse der unter einen Begriff fallenden Gegenstände niemals abgeschlossen ist und dass es deshalb immer wieder der Entscheidung bedarf, ob ein neu auftauchender Gegenstand einem Begriff zugeordnet wird, oder nicht. Dieses evolutiv-dynamische Moment ist in gewissem Sinne absolut, weswegen letztendlich kein zeitstabiles und abschließendes Kriterium für die Subsumtion von Gegenständen unter einen Begriff genannt werden kann und somit von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden muss.31 Hierfür lässt sich wiederum Wittgensteins Begriff der Lebensform fruchtbar machen, der davon ausgeht, dass sich Begriffe (Sprache und Sprachspiele) in Abhängigkeit von sozialen Umständen entwickeln.32

Auch die Überlegungen Richard Rortys33 sind in Bezug auf die Prämissen moderner Ethik weiterführend.34 Er geht davon aus, dass Sprachen, d. h. Sprachspiele und Vokabulare, in einem historisch-kontingenten Prozess entstehen. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, die Teil dieses Prozesses sind und unterliegt somit derselben Kontingenz wie der gesamte Sprachprozess.

„Was unter der Ägide eines bestimmten historisch-kontingenten Vokabulars wahr ist, ist falsch, sobald sich ein neues Vokabular etabliert hat. Die Entstehung eines neuen Vokabulars vollzieht sich nicht aufgrund eines Abgleichs des alten Vokabulars mit der Wirklichkeit und der daraus folgenden Erkenntnis der Inadäquatheit jenes Vokabulars, sondern in einem kulturellen bzw. gesellschaftlichen Prozess. Erkenntnis und Wahrheit sind damit – ebenso wie die Sprache, von der sie abhängen – kontingent, sie sind ein Produkt von ‚time and chance‘.“35

Außerdem geht Rorty davon aus, dass es keinen Standpunkt außerhalb eines gegenwärtig historisch-kontingenten Vokabulars, kein Metavokabular gibt, mit dem man verschiedene Vokabulare vergleichen, oder einen Wechsel von einem zum anderen Vokabular begründen kann. Auch Rortys Sprachverständnis ist dynamisch, evolutiv und in die Zukunft unendlich offen. Somit kann es kein zeitstabiles und kontextinvariantes Kriterium bereithalten, mit dessen Hilfe korrekte Anwendungen überprüft werden könnten. Jeder Sprachanwender entscheidet über die Beibehaltung eines ursprünglichen oder die Übernahme eines neuen Vokabulars. Es lassen sich somit also auch keine zeitstabilen, nicht-kontingenten sprachlichen Konventionen festlegen, die den korrekten Gebrauch von Worten abstrakt festlegen, weil schon der Versuch dazu selbst Teil des Prozesses ist. Es kann sich also immer erst im Nachhinein zeigen, ob ein Sprachgebrauch korrekt war, ob er sich durchsetzt. Damit wird aber auch für eine Ethik bzw. Moral die Vorstellung einer statischen Beziehung zwischen einer moralischen Aussage bzw. Norm und der Klasse der von ihr erfassten Gegenstände zumindest problematisiert da sich diese Beziehung maßgeblich im Rahmen eines historisch-kontingenten und niemals abgeschlossenen Prozesses entwickelt. Diese dynamische Vagheit von Begriffen lässt sich außerdem noch in einem weitergehenden Sinne interpretieren: Wenn neue Gegenstände unter einen Begriff subsumiert werden, dann ist davon auszugehen, dass auch der Begriff durch die Gegenstände beeinflusst wird, insbesondere dann, wenn durch den neuen Gegenstand Eigenschaften hinzukommen, die bisher bei keinem der subsumierten Gegenstände vorhanden waren. Es liegt also eine wechselseitige Rekursivität zwischen Gegenständen und Begriffen vor.36

Bedeutung befindet sich in einer natürlichen Sprache also ständig im Wandel. Definitionen und die Klasse der von ihnen erfassten Gegenstände beeinflussen sich permanent wechselseitig. Als Konsequenz hieraus folgt die Notwendigkeit einer Entscheidung, wobei der Bedeutungskonflikt vom sprachverwendenden Subjekt entschieden werden muss. Damit verbunden ist aber auch die Überlegung, dass im Konfliktfall um die Gültigkeit einer Aussage, sobald also Argumente erforderlich werden, eine ‚rein sprachliche‘ Argumentation als taugliches Mittel zur Begründung einer Auslegungshypothese ausscheidet, da es schlichtweg an Kriterien mangelt, „anhand derer jenseits des Evidenz- bzw. Höchstwahrscheinlichkeitsbereichs ‚korrekter‘ oder ‚zulässiger‘ Sprachgebrauch von ‚weniger korrektem‘ oder ‚zulässigem‘ unterschieden werden könnte.“37

 

Damit wird allerdings auch die Existenz von a priori gegebenen Prinzipien fraglich, die im Streitfall den Zugang zur wirklichen Natur der Sache und bspw. die Klärung von Streitfällen gewährleisten können, da kein Prinzip als ahistorisches Phänomen schon immer gegeben war. Jean-Francois Lyotard bezeichnet solche Streitfälle als „Widerstreite“, d. h. als Streite der Form, bei denen es unmöglich ist, sie durch einen Rekurs auf übergeordnete Regeln zu lösen, die den Streitparteien gemeinsam wäre.38 Alle moralischen, ethischen und rechtlichen Prinzipien, „die wir heute mit guten Gründen als kulturelle Errungenschaften bezeichnen dürfen, haben vielmehr eine spezifische Genealogie. Werden sie aus dieser herausgerissen und zu abstrakten Entitäten hypostasiert, können die daraus geformten neutralen Prinzipien für Argumente herangezogen werden, die eben jener Historie Hohn sprechen.“39 Eine ontologisierende Prinzipienlogik droht somit den Blick dafür zu verlieren, dass ethische Prinzipien und Institute stets als Reaktionen auf bestimmte historische Zustände und unter bestimmten historischen Entstehungsbedingungen zustande gekommen sind.40

Rorty schlägt an dieser Stelle das Konzept eines „ironischen Behaviorismus“ vor, das davon ausgeht, dass sich (ethische) Diskurse auf ein historisch-kontingentes letztes Vokabular zurückfuhren lassen, für das es keine nichtzirkuläre Begründung gibt. Die Fälle, in denen nach einem Konflikt um die Bedeutung von Begriffen und einem Austausch aller Argumente konträre Positionen bestehen bleiben, werden „teilinkommensurable Positionen“ genannt. Sie sind deswegen teilinkommensurabel, weil alle Diskursteilnehmer auf ein gemeinsames Bezugssystem zurückgehen könnten, so z. B. das Grundvokabular des demokratischen Rechtsstaates. Allerdings liegt auch genau hier ein Unterscheid bspw. zur klassischen Diskurstheorie: durch den fortschreitenden Diskurs kommt es nicht zu einer Reduzierung, sondern zur Steigerung der Komplexität von Aussagen.41

Dies führt aber – trotz der Paradoxie, dass Begründungen unumgänglich und gleichzeitig unmöglich sind – nicht zu einem Relativismus. So sind die Bindungen im Diskurs nicht gegenständlicher, sondern pragmatischer Art, d. h. nicht alle Propositionen im Diskurs können beliebig miteinander verbunden werden. Wer eine bestimmte Grenze überschreitet, die allerdings nicht präzise beschreibbar ist, der wird im Diskurs nicht anschlussfähig sein. Was der Diskurs in diesem Sinne verlangt und was damit seine pragmatische Bindung ausmacht, ist das Erfordernis einer stimmigen Begründung einer Entscheidung vor dem Hintergrund des geltenden Vokabulars bzw. der konstruierten Sprache. Entscheidungen müssen argumentativ mit anderen Elementen des bisherigen Diskurses verknüpft werden. Damit ist die Stimmigkeit bzw. die Kohärenz des Diskurses „not a fact, but an achievement“. Dies ist eine Konsequenz einer nicht-ontologischen Position.“42

Sehr pointiert wird dies von Zygmunt Bauman zusammengefasst43, der davon ausgeht, dass eine Gesellschaft den Status der Autonomie erreicht hat, wenn sie weiß, dass es keine gesicherte Bedeutung gibt, dass sie selbst auf der Oberfläche des Chaos lebt, dass sie selbst Chaos auf der Suche nach einer Form ist, aber einer Form, die nie für immer fest und fixiert ist. Das Fehlen garantierter Bedeutungen – absoluter Wahrheiten, natürlicher Unterscheidungen zwischen richtig und falsch – ist die conditio sine qua non sowohl einer autonomen Gesellschaft als auch freier Individuen. Somit beruhen auch alle Sicherheiten, die Demokratie und Individualität bieten, nicht auf dem Kampf gegen die endemische Kontingenz und Ungewissheit der menschlichen Existenz, sondern auf deren „ungeschminkter Anerkennung“ und der Auseinandersetzung mit ihnen. Diese ungeschminkte Anerkennung und deren Konsequenz eines Lebens mit einer Vielzahl konkurrierender Werte, Normen und Lebensstile, ohne die Garantie es selbst richtig zu machen, ist gefährlich und fordert einen hohen psychischen Preis, da Menschen zur kompensatorischen Schutzreaktion großer Vereinfachungen neigen. „[…] unaufgefordert fallen wir in regressive Phantasien vom Typ Mutterleib und ummauerter Festung zurück.“44

1.3 Fazit: Eine hermeneutisch orientierte Lebenswelttheorie

Nach dem bisher Gesagten erweist sich eine Konzeption bzw. ein Verständnis von (theologischer) Ethik als hermeneutische und somit schwach normative Theorie als zentrale Annahme, d. h. als Theorie, die das Verstehen dessen leisten will, was individuell verschieden bleibt und nicht einfach unter universelle Regeln zu subsumieren ist. Damit ist auch die Einbettung und Kontextualisierung subjektiver Verantwortung in bereits laufende Diskurse über Werte und Normen zu verstehen, wodurch die individuelle Wahl einerseits nicht restlos determiniert, andererseits aber auch nicht vollkommen autonom getroffen werden muss.45 Hermeneutische Ethik geht davon aus, dass es keine eindeutigen Lösungen für alle denkbaren Probleme gibt, da Menschen über keinen absoluten, material formulierbaren Maßstab verfügen – und hält dies nicht für einen Nachteil. Im Gegenteil: durch diese hermeneutische Offenheit bleibt eine stete Rückbindung von Theorien der Moral an Alltagserfahrungen als Ort der Bewährung begrifflicher Anstrengungen möglich. Damit ist sie gleichzeitig an die Autorität individueller Erfahrungen gebunden und steht autoritativen Fixierungen kritisch gegenüber bzw. wirkt sich als deren Korrektiv aus, da sie soziale Gebilde und Überlieferungen als Konstrukte versteht, deren Genese prinzipiell rational nachvollziehbar sein muss, um mit einem Anspruch auf Geltung oder Normierung verknüpft werden zu können. Der hermeneutisch-ethische Prozess ist deswegen auch grundlegend intersubjektiv ausgerichtet, d. h. er geht nicht von einer absoluten Autonomie des Subjekts bzw. von einer vollständig autarken Schöpfung ethischer oder moralischer Geltungsansprüche aus, hat aber andererseits Respekt vor Differenzen und vermeidet die Einebnung des moraltheoretischen Pluralismus.46 Damit lässt sich auch ethisches Denken in der Tradition Gianni Vattimos als „schwaches Denken“47 kennzeichnen – und natürlich auch kritisieren –, das sich nicht in die Erkenntnis ewiger Wahrheiten versteigt, sondern die „nihilistische Berufung der Hermeneutik“ ernst nimmt, wonach „Wahrheit Interpretation ist, das heißt, dass jede Verifikation oder Falsifikation von Urteilen nur im Horizont einer vorausgehenden, nicht transzendentalen, sondern ererbten Entschlossenheit erfolgen kann“, was die „Auflösung der Wahrheit als endgültiger und ‚objektiver‘ Evidenz“ bedeutet.48 Ein hermeneutischer, interpretierender Ansatz geht damit über die Annahmen des Überlieferten hinaus, da sich Traditionen im Prozess ihrer Rezeption verändern, „so dass der rückwärts gewandte Blick keine Garantie dafür bietet, an den unversehrten Kern einer ursprünglichen Wahrheit zu gelangen […]“49. Unter diesen Vorzeichen kann eine (theologische) Ethik, die sich als schwach normative und hermeneutisch orientierte Lebenswelttheorie versteht, ihren Anteil an der Arbeit der Ideologiekritik leisten, die im Namen der Gewissensfreiheit die Pluralisierung von Überzeugungen begrüßt und sich sensibel für Bevormundungen und Verletzungen jeder Art erweist, wodurch sie zur besseren Gestaltung eines immer fragmentarischen und in mancher Hinsicht „beschädigt“ bleibenden menschlichen Handelns beiträgt.50 Das mögliche Ziel der besseren Gestaltung menschlichen Lebens besteht dann darin, „die sachliche und existentielle Vielfalt durchzustehen und zur Geltung zu bringen, um eine dieser Offenheit innewohnende Menschlichkeit ausschöpfen und für das Gelingen des Lebens gestalten zu können“51.

2. ANERKENNUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE ALS GANGBARER WEG: FORMALES KONZEPT POSTTRADITIONALER SITTLICHKEIT

Im Verlauf dieser Arbeit soll nun zunächst gezeigt werden, dass ethische Entwürfe, die sich in der Tradition anerkennungstheoretischer Ansätze bewegen mit den aufgeführten, pluralen Voraussetzungen einer zeitgenössischen Ethik und darüber hinaus auch mit den umrissenen Voraussetzungen einer modernen (theologischen) Ethik kompatibel sind.

Historisch betrachtet hat die Anerkennungstheorie eine Reihe von Vorläufern. Beginnen kann man eine Aufzählung durchaus mit der klassisch-griechischen Vorstellung der Freundschaft, die im Renaissancehumanismus wiederentdeckt und in der Aufklärung präzise analysiert wurde. Vor allem aber wird der Ursprung der Anerkennungstheorie im deutschen Idealismus, insbesondere im Werk Fichtes und Hegels verortet werden müssen. Marx hat die dort gewonnenen Erkenntnisse aufgegriffen und sie im Hinblick auf den identitätsbildenden und auch entstellenden Charakter der kapitalistischen Produktionsverhältnisse neu formuliert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Anerkennungsbegriff vor allem von psychoanalytischen Schulen und der entwicklungspsychologischen Forschung aufgegriffen, die beide die zentrale Bedeutung der Intersubjektivität betonten. Einen zusätzlichen Impuls brachte der linguistic turn in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ein, welcher durch die Theorie des kommunikativen Handelns auf die sprachliche Konstitution von Subjekt und Gesellschaft einging. Zwei wichtige zeitgenössische Strömungen, die ihre Impulse aus den anerkennungstheoretischen Überlegungen Hegels beziehen waren und sind der Feminismus der zweiten und dritten Generation und die durch die soziopolitischen Herausforderungen multiethnischer Gesellschaften geprägte Spezifizierung des Anerkennungsbegriffs, die die rechtlichen und sozialen Ansprüche verschiedener Gruppierungen und Minderheiten zu begreifen versucht.52

Inhaltlich weist die Anerkennungstheorie als Moraltheorie Verbindungen zu verschiedenen philosophischen Strömungen auf. So einerseits zum Neoaristotelismus, da sie ihre Aufmerksamkeit auf den konstitutiven Zusammenhang von gesellschaftlichen Umständen, Bildung und Entwicklung eines guten Lebens richtet. Darüber hinaus gibt es auch Anleihen beim Konsequentialismus. Nicht im Sinne eines einfachen Präferenzutilitarismus, wohl aber in der Bewertung des Ausmaßes, in welchem der größten Anzahl von Individuen umfassende Formen der Selbstverwirklichung möglich sind. Auch werden Elemente der kantischen Philosophie aufgegriffen, indem der Anspruch erhoben wird normative Bewertungen erklären und begründen zu müssen und zwar unter der Prämisse, dass sie weder kulturell noch sozial kontingent sind.53

Zu ihrer charakteristischen Ausprägung findet die Anerkennungstheorie in der Verbindung von Hegelscher Analyse intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen, moralischer Phänomenologie erfahrener Missachtung, Darstellung der intersubjektiven Voraussetzungen der Ontogenese und einer theoretischen Begründung des intersubjektiven Charakters der Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. Das Resultat dieser Melange stellt eine moralorientierte philosophische Anthropologie dar, die mit Erklärungs- und Rechtfertigungsansprüchen der politischen Philosophie und der Sozialtheorie verknüpft ist und „in aufschlussreicher Weise unterscheiden kann zwischen drei verschiedenen Formen intersubjektiver Anerkennung – typisiert als Liebe, Achtung und Wertschätzung –, deren Verhältnis zur Entwicklung verschiedener Formen der Selbstbeziehung und den verschiedenen Typen sozialer Beziehungen, welche die Entwicklung einer ganzheitlichen und gesunden personalen Identität befördern oder behindern“54.

2.1 Anerkennung als (motivationale) Ressource formal-prozeduraler Ethikkonzeptionen

Axel Honneths intersubjektivistische Theorie der Anerkennung existiert als eine Variante neben bspw. der interkulturellen Theorie der Anerkennung von Charles Taylor und der Theorie der subjektivierenden Anerkennung von Louis Althusser und Judith Butler. Sie kann auch als anthropologisch grundiert bezeichnet werden, da Honneth in der Notwendigkeit der intersubjektiven Anerkennung die Bedingung für ein authentisches, autonomes Selbstverhältnis sieht. Honneth geht von der Voraussetzung aus, dass Individuen nur mit anderen zu einem Bewusstsein ihrer selbst gelangen, nur ein gelingendes Selbstverhältnis ausbilden können, wenn andere Menschen und gesellschaftliche Institutionen ihnen ein positives Selbstbildnis vermitteln. Anerkennung ist also als Voraussetzung eines gelungenen Selbstverhältnisses ein menschliches Grundbedürfnis.

Damit ist gleichzeitig eine unhintergehbare und fundamentale Motivation für die Entstehung von Vergesellschaftung gegeben. Vergesellschaftung, das Soziale nimmt hiernach seinen Ausgang also beim Subjekt, weswegen Kritiker anmerken, dass somit die Eigendynamik des Sozialen unterbestimmt bleibt (deswegen auch die Rede von der intersubjektivistischen Ausrichtung der Anerkennungstheorie Axel Honneths).55 Anstelle der Anerkennung lediglich der Rechtsperson, wie in liberalen politischen (Gerechtigkeits-)Theorien, zielt Honneth auf die ganze Person. Verbunden damit ist eine Kritik an einer rein formalen Theorie der Moral,56 die er durch eine normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie bzw. durch eine formale Theorie des Guten ergänzen möchte.57 Diese Ergänzung wird von Honneth vor allem in der Auseinandersetzung mit der Diskursethik Habermas‘ vorgenommen, die in ihrer Trennung von Gerechtem und Gutem zwar auf der konzeptionellen Ebene, nicht aber in der Realisierung trägt, indem Honneth die Diskursethik um einen Anerkennungsbegriff zu ergänzen bzw. zu fundieren sucht, der eine dem moralisch-praktischen Diskurs genealogisch vorausliegende Ermöglichungsbedingung bildet.58

 

Axel Honneth hält außerdem die moralische Sensibilität für eine zentrale Gattungskompetenz von Menschen, wohingegen Jürgen Habermas mit seiner Diskurstheorie sie in der Fähigkeit zur argumentativen Verständigung festmacht. Kein Subjekt – so die Kritik Honneths – empfindet allerdings moralisches Unrecht, weil bestimmte Argumentationsregeln nicht eingehalten werden59 und moralische Erfahrungen entstehen nicht in der Einschränkung von Sprachkompetenzen60.

Honneth kritisiert den Ansatz Habermas‘ also insofern, als er den formalen Prozeduralismus der Diskurstheorie für zu uniformativ hält, um Phänomene und Missstände einer modernen Gesellschaft angemessen erfassen zu können. Nicht eine ideologiekritische Demokratietheorie, sondern eine Theorie, die die Anerkennungserwartungen von Individuen rekonstruiert und „das von Habermas entwickelte Kommunikationsparadigma stärker auf seine intersubjektivitätstheoretischen, ja soziologischen Voraussetzung hin“61 entfaltet hält er für geeignet die Motivation zu erfassen, die Menschen dazu bewegt für eine Veränderung des gesellschaftlich-sozialen Status quo zu kämpfen: nicht verzerrte Kommunikationsverhältnisse, sondern ungerecht erfahrene Verletzungen von Identitätsansprüchen motivieren diese Kämpfe um Anerkennung.

2.2 Axel Honneths Programm einer (intersubjektivistischen) Anerkennungstheorie

Honneth baut seine Theorie wesentlich auf zwei Systemen auf: Der Sittlichkeitskonzeption Hegels, welcher er die Idee entnimmt, dass intersubjektive Anerkennung konstitutiv für die menschliche Identitätsbildung ist und der Sozialpsychologie Meads, welcher er die nachmetaphysische, materialistische und empirisch orientierte Konkretion dieser Form der Selbstwerdung entnimmt.

2.2.1 Der Vater des Gedankens: Begierde, Negation, Kampf und Anerkennung bei Hegel

Seinen Ausgang nimmt Honneth mit der Rekonstruktion der Jenaer Schriften Hegels, dessen Idee eines moralisch motivierten Kampfes um Anerkennung ihm für die Konzeptionierung einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie, als grundlegend erscheint.62 Danach ist die Etablierung moderner Gesellschaften als Prozess einer Ausdifferenzierung verschiedener Sphären der Anerkennung zu beschreiben. Anerkennung bringt zum Ausdruck, dass die andere, anerkannte Person Geltung besitzen soll und außerdem Quelle von legitimen Ansprüchen ist. Die Anerkennung des Anderen wird darüber hinaus zur Bedingung der eigenen Anerkennung, d. h. sie ist reziprok.63 Mit dem Begriff der Anerkennung soll Aufschluss darüber gewonnen werden, welche Antriebe die Gesellschaftsmitglieder zur Übernahme sozialer Verpflichtung bewegen. Diese Antriebe, so folgert Honneth mit Talcott Parsons, liegen darin, dass jeder Mensch an der Wahrung einer Form von Selbstachtung interessiert ist, die auf Anerkennung durch ihrerseits anerkannte Interaktionspartner zurückzuführen ist. Die Achtung von Menschen zu verlieren, die man selber achtet stellt dementsprechend einen empfindlichen Rückschlag für die eigene Selbstachtung dar. Die Anerkennungskonzeption geht aber über die individuelle Sphäre hinaus und sieht auch gesellschaftliche Institutionen als von Praktiken und Ordnungen der Anerkennung abhängig. Soziale Sphären sind also immer schon Anerkennungsverhältnisse, in denen man sich nicht bewegen kann, ohne zumindest implizit auf jeweils institutionalisierte Anerkennungsprinzipien zurückzugreifen. Daraus ergeben sich dann zwei Akzentsetzungen für eine Gesellschaftstheorie: Gesellschaftliche Subsysteme und Institutionen müssen zum einen als ausdifferenzierte, um Normen der reziproken Achtung konstruierte Handlungssphären begriffen werden, weil sie die ihnen innewohnenden Pflichten und Verantwortlichkeiten vor allem aus dem Streben nach sozialer Anerkennung heraus erfüllen. Normen und Werte, die in diesen Institutionen gültig sind müssen also Standards bereitstellen, mit deren Hilfe sich die Teilnehmer wechselseitig anerkennen können. Zum anderen nimmt die Beschreibung sozialer Konflikte eine neue Form an, da sie, um auf Hegels Denkfigur zurückzukommen, als ein Kampf um Anerkennung begriffen werden, als Ringen um Neubewertung, Neuinterpretation oder Neuformulierung der in der jeweiligen Sphäre geltenden Anerkennungsnormen. Honneth möchte mit diesem Begriff des Kampfes um Anerkennung soziale Konflikte in Gesellschaften entschlüsseln, um darauf aufbauend die normativen Grundlagen einer Gesellschaftstheorie zu entwickeln.64

Hegel übernimmt den Begriff der Anerkennung von Fichte, der ihm als begriffliches Mittel dient, die interne Struktur sittlicher Verhältnisse unter den Menschen theoretisch zu bestimmen und der bereits betont, dass sich das vernünftige Selbstbewusstsein eines Menschen nur durch eine reziprok angelegte Beziehung zwischen den Subjekten ausbilden kann. Fichte hatte in seiner Schrift „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ Anerkennung als eine dem Rechtsverhältnis zugrundeliegende Wechselwirkung zwischen Individuen aufgefasst: die wechselseitige Aufforderung zu freiem Handeln und die damit korrespondierende Beschränkung der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen führt zur Bildung eines gemeinsamen Bewusstseins zwischen den Subjekten, das dann im Rechtsverhältnis objektive Geltung erlangt.65

Hegel greift diesen Ansatz des Selbstbewusstseins auf. Auch er nimmt an, dass das Subjekt nur dann zu einem Bewusstsein seines eigenen Selbst gelangen kann, wenn es mit anderen Subjekten in ein Verhältnis der Anerkennung tritt. Diese Annahme führt ihn über historisierende oder soziologisierende Deutungen auf Grundsätzlicheres hinaus, da ihm an der Anerkennung als quasi transzendentalem Faktum und damit als Voraussetzung menschlicher Sozialität gelegen ist. Dies bedeutet in der Interpretation Hegels, dass das Subjekt aus seiner Selbstbezüglichkeit der bloßen Begierde herausgetreten ist und sich der Abhängigkeit von seinem sozialen Gegenüber bewusst wird,66 was er über eine Kritik an Kant und Fichte verdeutlicht:

„Nunmehr aber ist dies entstanden, was in diesen früheren Verhältnissen nicht zu Stande kam, nämlich eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist; denn die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtsein ist sich selbst das Wahre.“67

Zunächst erkennen Subjekte, dass alles generische Wissen und alles Wissen über Dispositionen und Möglichkeiten nicht rein passiv wahrgenommen, sondern aktiv vom Bewusstsein konstituiert wird. Das Selbst ist also jenes, welches sich abstrakt seiner wirklichkeitskonstituierenden Wirkung bewusst ist. Dieses Bewusstsein reicht nun allerdings nicht aus, damit sich das Individuum seiner synthetisierenden und bestimmenden Aktivität versichern kann, da es einer Rückkehr aus dem Anderssein zu sich selbst ähnelt. Es ist noch nicht Selbst-Bewusstsein.