Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

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Kapitel II

Gründung und Grundlagen des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems

1.Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

1.2 Die territoriale und demographische Situation

2.Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen

2.2 Die Entstehung von CDU und CSU

2.3 Die SPD und ihr Selbstverständnis

2.4 Gemeinden und Länder als Rückhalt

2.5 Die Entwicklung in der SBZ. Gründung der DDR

3.Gründung der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag

3.2 Die neue Wirtschaftsordnung: Soziale Marktwirtschaft

3.3 Das Grundgesetz als neuer Gesellschaftsvertrag. Hauptstadtfrage

3.4 Die Bundesrepublik als »demokratischer Verfassungsstaat«

3.5 Restauration und Neubeginn

4.Kultur und Werte als Rückhalt

4.1 Die Situation in Westdeutschland

4.2 Kulturentwicklung in der SBZ/DDR

5.Religion und Kirchen in Westdeutschland und der SBZ/DDR

Literatur

1. Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

Die deutsche Staats- und Gesellschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in folgende Etappen einteilen:

 Verlust der staatlichen Eigenständigkeit mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte (unconditional surrender) am 7. und 8. Mai 1945 in Reims und Berlin-Karlshorst.

 Herausbildung demokratischer Strukturen auf Gemeinde- und Länderebene in den drei westlichen Besatzungszonen ab Ende 1945; Beginn einer von der Sowjetunion gelenkten Entwicklung zum sozialistischen Staatsaufbau in der sowjetischen Zone.

 Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 6. Oktober 1949.

 Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durch Beitritt der neuen Bundesländer und Ost-Berlins zum Staatsgebiet der BRD.

In der »Berliner Deklaration« vom 5. Juni 1945 der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte wurde auch formell die Regierungsgewalt in Deutschland durch die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich im Alliierten Kontrollrat übernommen und die Einteilung des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen und vier Berliner Sektoren endgültig festgelegt. Die Verwaltung wurde auf allen Ebenen von den Besatzungsmächten übernommen; wo Deutsche mit ihrer Wahrnehmung betraut wurden, geschah dies im Auftrag und unter Kontrolle der jeweiligen Besatzungsmacht. Deutsche Gerichte durften erst 1946 ihre Tätigkeit wiederaufnehmen (vgl. »Akten …«; Eschenburg 1983).

Die bedingungslose Kapitulation war das Ende einer zwölfjährigen totalitären Gewaltherrschaft, die die Deutschen aus eigener Kraft nicht hatten beseitigen können. Nur wenige Länder in Europa – Schweden und die Schweiz, Spanien und Portugal – waren durch die deutsche Kriegsmaschinerie und die nachrückenden Sondereinheiten, der SS, die mit der Vernichtung von Juden, Kommunisten, Zigeunern (Sinti und Roma) et al. beauftragt waren, nicht heimgesucht worden.

In mehreren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Sozial- und Bewusstseinslage in der unmittelbaren Nachkriegszeit, an denen auch bekannte Soziologen aus den USA teilnahmen, wurden die dominanten Lebensgefühle wie folgt beschrieben: introvertiert, apathisch, gebrochener Lebenswille, das Gefühl, »nun endgültig erledigt zu sein« (Articus/Braun 1984 : 716). Nicht alle Deutschen empfanden die Niederlage als Akt der Befreiung von einer menschenverachtenden Diktatur, verbunden mit der Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn.

Im Alliierten Kontrollrat, der Entscheidungen, die ganz Deutschland betrafen, einstimmig zu treffen hatte, wurde die Konsensbasis zwischen den Alliierten immer schmaler. Daran konnte auch die Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 abgehalten wurde, nicht viel ändern. Die Konferenz hatte zwar den Neuaufbau des demokratischen Lebens zugestanden, aber die Auffassungen von Demokratie differierten zwischen den zwei Westmächten (Frankreich war in Potsdam nicht vertreten) und der Sowjetunion erheblich. In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) zeichnete sich ein Sonderweg ab.

Auch in den osteuropäischen Ländern Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wurden unter dem Diktat der Sowjetunion kommunistische Regimes errichtet, die nicht aus freien Wahlen hervorgingen. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Die Besatzungspolitik wurde mehr und mehr zum Anlass, die aus den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen resultierenden Differenzen zu Vehikeln auf eigenen Wegen zu nutzen. Am 20. März 1948 zerbrach der Alliierte Kontrollrat endgültig und damit die gemeinsame Basis der vier Besatzungsmächte im Hinblick auf die Neuordnung Deutschlands.

1.2 Die territoriale und demographische Situation

Grundvoraussetzung für einen Staat ist die Souveränität über ein klar abgegrenztes Territorium mit zugehöriger Bevölkerung. Nach dem 8. Mai 1945 war dies für Deutschland nicht mehr gegeben. Neben der Machtausübung durch den Alliierten Kontrollrat in den Besatzungszonen und Berliner Sektoren gab es Gebietsverluste in erheblichem Umfang. Die bisherigen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden formell unter sowjetische und polnische Verwaltung gestellt, faktisch aber diesen Staaten einverleibt. Die deutschen Ostgebiete umfassten 1939 insgesamt 114 296 qkm und hatten 9,6 Mio. Einwohner; der geringere Teil mit 13 205 qkm und 1,16 Mio. Einwohnern (1939) fiel unter die sowjetische, der Rest unter polnische Verwaltung (u. a. Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien). Auch vor dem Zweiten Weltkrieg waren diese Grenzen nicht unstrittig; der »Korridor« in die Freie Stadt Danzig und nach Ostpreußen war ein Dauerproblem.

Von den 11,73 Mio. Vertriebenen und nationalen Flüchtlingen der Jahre 1945– 1947 in den vier Besatzungszonen kamen 6,94 Mio. aus den deutschen Ostgebieten (Ostpreußen, Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien) und 4,79 Mio. aus deutschen Siedlungsgebieten im Ausland, die Mehrzahl aus der Tschechoslowakei (2,92 Mio. Sudetendeutsche; vgl. Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden, Bd. 19).

Im Westen des ehemaligen Deutschen Reiches fielen Elsass und Lothringen nach kurzem deutschem »Zwischenspiel«, das von 1940 bis 1945 dauerte, an Frankreich zurück. Das Saarland blieb bis zum 1. Januar 1957 unter französischer Verwaltung und Teil des französischen Wirtschaftsraums. In einer Volksabstimmung wurde die Rückgliederung an Deutschland entschieden.

Eine besonders gravierende Einschränkung der gesellschaftlichen und staatlichen Erneuerung lag in der Zerstörung der Städte. Auf insgesamt 131 deutsche Städte waren Großangriffe aus der Luft geflogen worden, in Berlin allein 29 Mal. Die Zentren großer Städte waren zu etwa vier Fünfteln zerstört, unter ihnen Berlin, Dresden, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Mainz, Münster und Würzburg. Für einige Städte, z. B. Hannover und Dresden, wurde erwogen, sie an der bisherigen Stelle nicht wieder aufzubauen (vgl. die Dokumentationen zum Bombenkrieg und dem Zerstörungsgrad der Städte bei von Beyme 1987, Groehler 1990, Friedrich 2002). Eine vergleichbar chaotische territoriale und demographische Situation gab es in der deutschen Geschichte in der Zeit des 30-jährigen Krieges und nach der Zerstörung der Pfalz und Badens durch französische Truppen Ende des 17. Jahrhunderts.

Einige Fakten können die Ausgangssituation 1945 beschreiben:

 Die 11,7 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene der Jahre 1945–1947 verteilten sich sehr disproportional auf die vier Besatzungszonen, vor allem auf die amerikanische und britische Zone, und wegen des hohen Zerstörungsgrades der Städte überwiegend auf die ländlichen Räume. In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen (britische Zone) nahm bis 1946 die Bevölkerung gegenüber 1949 um 62 % bzw. 37 % zu, in Bayern, wohin ca. drei Mio. Sudetendeutsche flüchteten, um 24 %.

 

 Die Rückkehr der ca. 9 Mio. Evakuierten aus den großen Städten zog sich über viele Jahre hin.

 Am 1.4. 1947 gab es unter den 65,9 Mio. Einwohnern der vier Besatzungszonen noch 3,1 Mio. Evakuierte.

 Ein Evakuierungsproblem besonderer Art stellten die Displaced Persons (DPs) dar. Bei Kriegsende sollen es etwa neun Mio. gewesen sein, der Großteil von ihnen ins Reich verschleppte Zwangsarbeiter aus fast allen Ländern Europas.

 Die Verkehrsinfrastruktur lag weitgehend brach, über den Rhein gab es keine Brücke mehr; was Bombardierungen an Eisenbahnlinien nicht getroffen hatten, wurde nun zum Teil demontiert und in die Länder der Alliierten gebracht (»Reparationen«). Die SBZ war hiervon besonders stark betroffen.

Die Disproportionalität zwischen Frauen- und Männeranteilen an der Gesamtbevölkerung war gravierend. Am 1. April 1947 kamen auf 100 Männer 125 Frauen. In der Altersgruppe der 25- bis 45-Jährigen betrug um das Jahr 1950 der Frauenanteil bezogen auf 100 Männer 164 (Köllmann 1983).

2. Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen

Die Not der Nachkriegszeit führte zur Dominanz familien- und verwandtschaftsbezogener Sozialverhältnisse. Die schlechten bzw. nicht vorhandenen Verkehrsmöglichkeiten, die weitgehende Zwangsbewirtschaftung, die Suche nach Wohnraum, die große Bedeutung des Naturaltausches und des Schwarzmarktes und die Beschränkungen der Freizügigkeit – auch die Besatzungszonen waren untereinander mit Grenzen und Schlagbäumen abgeriegelt – reduzierten das ökonomische und soziale Leben auf lokale und enge regionale Grenzen. So verwundert es nicht, dass es in der Bevölkerung an den erforderlichen Möglichkeiten, aber auch Interessen und Einstellungen fehlte, über den Tag hinaus zu denken und zu planen.

Die politische Situation war für die deutsche Bevölkerung noch undurchschaubarer als für die alliierten Politiker und Militärs, die häufig auch nicht wussten, wie weit ihre Kompetenzen in der Auslegung der Direktiven reichten. Theodor Eschenburg (1983 : 402) resümierte: »Deutsche Politiker, die den Ehrgeiz hatten, eine profilierte Rolle bei der Entstehung eines zukünftigen Deutschland zu spielen, befanden sich im Jahre 1945 in keiner beneidenswerten Lage. Sie standen im Kreuzfeuer höchst divergierender Konzeptionen der Alliierten, und es erforderte schon prophetische Gaben, um die künftige Kräftekonstellation richtig einzuschätzen«.

Vor allen anderen Politikern besaß Konrad Adenauer (1876–1967) die politische Gabe, sich die Neugestaltung Deutschlands in neuen Grenzen vorzustellen. Adenauer war von 1917 bis 1933 Oberbürgermeister von Köln und während der Weimarer Republik populärer Politiker der katholischen Zentrumspartei (der nach 1870/71 gegründeten Partei des politischen Katholizismus). In einem Brief vom Oktober 1945 (abgedruckt in: Kleßmann 1982 : 425) stellte Adenauer u. a. heraus, dass die Trennung in ein von der Sowjetunion beherrschtes Osteuropa und ein von Frankreich und Großbritannien dominiertes Westeuropa eine Tatsache sei und daher die »Schaffung eines zentralisierten Einheitsstaates nicht möglich« sein würde. Weiter stellte Adenauer fest, dass »der nicht von Russland besetzte Teil Deutschlands ein integrierender Teil Westeuropas« sei und dass »dem Verlangen Frankreichs und Belgiens nach Sicherheit auf die Dauer nur durch wirtschaftliche Verflechtung von Westdeutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland wirklich genüge geschehen« könne (vgl. auch die Dokumentation bei Adenauer 1965).

2.2 Die Entstehung von CDU und CSU

Die wohl erstaunlichste und für die weitere politische Entwicklung in den drei Westzonen und Berliner Westsektoren wichtigste parteipolitische Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Auflösung (bzw. Umstrukturierung) der Zentrumspartei und die damit zusammenhängende Gründung der CDU, der Christlich Demokratischen Union, und in Bayern der CSU, der Christlich-Sozialen Union. Die Bedeutung dieser Neugründungen für die Konsolidierung der sozialen und politischen Verhältnisse, als Sammelpartei des bürgerlichen, des christlich-überkonfessionellen und christlich-gewerkschaftlichen Lagers, kann kaum überschätzt werden (zur Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert vgl. Rüther 1989).

Erstaunen muss die Gleichzeitigkeit der Bestrebungen an verschiedenen Orten, und zwar noch vor Kriegsende. Für die spätere CDU waren die wichtigsten Köln (Karl Arnold und ab Ende 1945 v. a. Konrad Adenauer), Berlin (Jakob Kaiser, Ernst Lemmer, Andreas Hermes) und Frankfurt. Für die CSU ist Würzburg zwar der Gründungsort (10. Oktober 1945), München aber sehr bald das Zentrum der weiteren Entwicklung. In beiden Fällen wirkten Gedanken des nach dem Ersten Weltkrieg viel diskutierten Christlichen Sozialismus auf die ersten Parteiprogramme ein.

Der Name CDU geht auf Andreas Hermes zurück, dem »die Protestanten nur halbherzig zustimmten« (Eschenburg 1983 : 187). Aber »die Wahl des Wortes ›christlich‹ entsprach der religiösen Renaissance jener Zeit, zugleich löste sie aber auch das Problem, den Namen für eine überkonfessionelle Partei zu finden, die in der deutschen Geschichte bis dahin eine unbekannte Erscheinung war« (1983 : 201). Zustimmung kam sehr bald von den beiden christlichen Kirchen.

Die anti-kapitalistische Stimmung jener Zeit sowie planwirtschaftliche Überlegungen spiegelten sich in ersten Aufrufen und Programmen. In den Augen vieler Deutscher hatte der »Pakt« Hitlers mit der Großindustrie das Dritte Reich überhaupt erst ermöglicht. So gehörten die Verstaatlichung der Bodenschätze und der Monopol- und Schlüsselindustrien zu den breit akzeptierten Forderungen, die sich auch im Ahlener Programm der CDU vom Februar 1947 finden. Zugleich wurde das Privateigentum an Produktionsmitteln hingegen ausdrücklich bejaht.

2.3 Die SPD und ihr Selbstverständnis

Die Konsensbasis für den Sozialismus scheint in der unmittelbaren Nachkriegszeit breiter gewesen zu sein als für Demokratie und den »Parteienstaat«. »Demokratie« war nicht nur positiv besetzt. Das Scheitern der Weimarer »Parteiendemokratie« war in der Erinnerung.

Dass die künftige Gesellschaftsordnung eine sozialistische sein würde und sein müsse und nur auf diesem Fundament eine »wahre« Demokratie« möglich sei, wurde nicht nur als Konsequenz aus dem totalen Zusammenbruch bzw. dessen Ursachen abgeleitet, sondern auch als Quintessenz geschichtsphilosophischer Überlegungen postuliert. So schrieb der Ökonom Heinz Dietrich Ortlieb in einem Aufsatz über »Sozialismus gestern, heute und morgen« in der für das Wiedererwachen des intellektuellen und politischen Lebens wichtigen Zeitschrift DER RUF (1. Jg., Nov. 1946): »Die nun einige Menschenleben währende geistig-politische Auseinandersetzung um den Sozialismus kann heute wohl als zugunsten des Sozialismus entschieden angesehen werden (…). Zwar führen die Neo-Liberalisten, die heutigen Verfechter einer freien Verkehrswirtschaft, den Kampf gegen den Sozialismus fort, sie sind aber (…) in die Verteidigung gedrängt«. Mit dieser Ansicht stand Ortlieb nicht allein. Eine im Jahr 1946 in Heidelberg erschienene Schrift der renommierten Wissenschaftler Alexander Mitscherlich und Alfred Weber (Bruder Max Webers) hatte den Titel: »Freier Sozialismus«.

Die SPD, Deutschlands älteste Partei, hatte als einzige Partei im Deutschen Reichstag (die Kommunisten waren bereits ausgeschaltet) dem »Ermächtigungsgesetz« Hitlers am 24. März 1933 nicht zugestimmt (zur Geschichte der SPD von 1848–1983 vgl. Miller/Potthoff 1988). Bereits im Mai 1946 hatte die SPD in den Westzonen wieder 600 Tsd. eingeschriebene Mitglieder (zur organisatorischen Neubegründung der SPD durch Kurt Schumacher im kriegszerstörten Hannover ab Mai 1945 vgl. Miller/Potthoff 1988 : 173 ff.). Doch obwohl viele Intellektuelle damals in die SPD eintraten, wie 1967 ff., gelang »der beabsichtigte Einbruch in die neuen und alten Mittelschichten so gut wie gar nicht« (Eschenburg 1983 : 180).

Mit ihrem energischen Vorsitzenden Kurt Schumacher (1895–1952) hatte die SPD sowohl eine Symbolfigur des Widerstandes im Dritten Reich als auch des Anti-Totalitarismus und Anti-Kommunismus an ihrer Spitze. Im In- und Ausland war Schumacher ein geachteter Sprecher der Deutschen nach der Kapitulation. Am 5. Oktober 1945 führte er aus: »Im Sinne der deutschen Politik ist die Kommunistische Partei überflüssig. Ihr Lehrgebäude ist zertrümmert, ihre Linie durch die Geschichte widerlegt«. Und im Mai 1946 sagte Schumacher: Sozialismus sei zwar an Demokratie gebunden, aber unter dem Primat von »Freiheit des Erkennens und Freiheit der Kritik« und der »Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit«. Er fügte aber auch, gegen die Neo-Liberalen gewandt, hinzu: »Wie der Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich ist, so ist umgekehrt eine wirkliche Demokratie im Kapitalismus in steter Gefahr« (Informationen zur politischen Bildung, Heft 157/1974).

2.4 Gemeinden und Länder als Rückhalt

Das politische Leben konkretisierte sich zunächst in Kommunalwahlen, die ab April und Mai 1946 in der amerikanischen und in der britischen Zone sowie im Oktober 1946 in der französischen Zone stattfanden. Der Aufbau der politischen Grundstrukturen von der Gemeinde über die Länder zu einem (möglichen) Gesamtstaat entsprach auch angelsächsisch-amerikanischen Vorstellungen von der Bedeutung der gemeindlichen Basis für eine stabile politische Kultur.

Theodor Eschenburg (1974 : 64 ff.) betonte, dass trotz der Niederlage, dem Zerfall des Reiches, der Zerschlagung Preußens und der Einteilung in vier Besatzungszonen die Verwaltungseinheiten und bürokratischen Strukturen auf den Ebenen Gemeinde, Kreis und Land im Wesentlichen bestehen geblieben waren. Diese Strukturen bezeichnete Eschenburg als »demokratischen Rückhalt«. Insbesondere der Gemeinde, als der untersten Verwaltungseinheit und dem unmittelbaren Lebensraum der Menschen, kam die Aufgabe der Linderung der Not und des Wiederaufbaus zu.

Neben der Gemeinde waren es vor allem die Länder, die vor der Konstituierung der Bundesrepublik als Staat für die Erfordernisse der Nachkriegszeit die notwendige Vorsorge trafen. In der amerikanischen Besatzungszone wurden schon am 18. September 1946 die Länder Bayern, Großhessen und Württemberg-Baden gebildet. In der britischen Besatzungszone entstanden Anfang 1947 aus den vier ehemaligen Provinzen die Länder Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. In der französischen Besatzungszone kam es 1945/46 zur Gründung der Länder Baden, Württemberg-Hohenzollern und Rheinland-Pfalz.

Bei den Landtagswahlen zwischen Oktober 1946 und Oktober 1947 erreichte die CDU/CSU mit 6,55 Mio. Stimmen vor der SPD mit 6,07 Mio. Stimmen knapp die Mehrheit. In den Landesverfassungen spielten Fragen der Wirtschaftslenkung und der so genannten »Lebensordnungsrechte« für die Familie, für Unterricht und Bildung und für die Ausgestaltung der sozialen Rechte – wie das Recht auf Arbeit – eine viel größere Rolle als im späteren »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland«, das am 23. Mai 1949, fast ein Jahr nach der Währungsreform, verabschiedet wurde. Auch die Regelung der wirtschaftlichen Mitbestimmungsfragen und das Verbot der Aussperrung (wie in der Hessischen Verfassung) spiegeln die Diskussionen um die Neugestaltung und Einheit des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens dieser Zeit wider.

2.5 Die Entwicklung in der SBZ. Gründung der DDR

In seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (Bd. 5 : 1949–1990) schreibt Hans-Ulrich Wehler, dass »der Weg in die SED-Diktatur« sehr kurz gewesen sei (2008 : 23 ff.). Die Sowjetisierung der SBZ begann praktisch mit Kriegsende. Bereits am 29.4 1945 war die »Gruppe Ulbricht« aus dem Moskauer Exil mit einem Arbeitsstab zurückgekehrt. Die Gruppe war benannt nach Walter Ulbricht (1893–1973), einem führenden Funktionär der KPD seit der Weimarer Republik (zu diesen und allen folgenden Daten vgl. Staritz 1984, Kleßmann 1982 : 535 ff.).

Im Herbst 1945 wurde mit der Bodenreform begonnen. Die erste Maßnahme war die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes über 110 ha (»Junkerland in Bauernhand«), des Grundbesitzes des ehemaligen Deutschen Reiches, der NSDAP, der Wehrmacht und der großen Industrie- und Handelsunternehmen. Diese erste Stufe der Bodenreform sollte nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 eine große Rolle spielen. Am 23. Juli 1945 wurden die Großbanken geschlossen.

 

Von bis heute nachwirkender Bedeutung war auch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« (SED) am 22. April 1946. Aber noch hatte die am 9. Juni 1945 gebildete »Sowjetische Militäradministration in Deutschland« (SMAD) das Sagen.

Deklamatorisch ging man davon aus, dass die deutsche Einheit zu erhalten sei und alle Schritte in Richtung auf ein eigenständiges Wirtschafts- und Staatsgebiet nur eine Reaktion auf die Vorgänge in den drei westlichen Besatzungszonen und Berliner Sektoren seien. Auf die dort vom 18.–20. Juni 1948 durchgeführte Währungsreform wurde mit der Sperrung der Zufahrtswege nach West-Berlin reagiert. Die Berliner Bevölkerung musste aus der Luft versorgt werden. Dies gelang für die Zeit der Luftbrücke vom 26. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 in erstaunlichem Ausmaß. Gestartet wurde vor allem auf dem amerikanischen Militär-Flughafen Frankfurt/M.; gelandet wurde auf dem innerstädtischen Berliner Flughafen »Tempelhof«.

Nur eine Woche nach der Währungsreform in den drei Westzonen (»Trizonesien«) wurde auch in der SBZ eine Währungsreform durchgeführt, unter Beibehaltung der Reichsmark (im Westen »Reichsmark Ost« genannt). Auf die am 23. Mai 1949 erfolgte Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland reagierte die SBZ bzw. die Sowjetunion am 7. Oktober 1949 mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Am 15. Oktober wurden die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR offiziell aufgenommen. Auf einer SED-Konferenz im Juni 1949 hatte die Partei »ein devotes Bekenntnis zu Stalin abgelegt, überdies pries sie die Sowjetunion als verpflichtendes Modell« (Wehler 2008 : 27).

Die immer unerträglicher werdende Situation in der »sozialistischen Volksdemokratie« entlud sich im Juni 1953 in einem das Regime gefährdenden Volksaufstand, der nur durch sowjetische Panzer niedergeschlagen werden konnte. Der Beginn des Aufstands am 17. Juni 1953 in der (Ost-)Berliner Stalin-Allee war bis zur Einführung des 3. Oktober, dem Tag der Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990, in der Bundesrepublik ein nationaler Gedenktag.

3. Gründung der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Die zunächst hoffnungslos erscheinende Ausgangslage durch die Zerstörungen des Krieges und die soziale und demographische Situation barg jedoch bessere Voraussetzungen für einen Gesellschaftsvertrag, als sie zuvor gegeben waren.

Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und seine Folgen hatten soziale Klassen und Schichten miteinander in Berührung gebracht, die vorher in jeder Beziehung stark segregiert waren. Berufs- und lokalspezifische Milieus waren entweder verschwunden oder in ihrer Besonderheit eingeebnet. Das galt insbesondere für die Arbeiterbewegung und ihre Kultur, der ihre Basis durch die sich wechselseitig verstärkenden Wirkungen der Gleichschaltung, des Krieges, der Vertreibung und die neu entstehenden Wohnmilieus des sozialen Wohnungsbaus mehr und mehr entzogen wurde.

Auch der Eigentumsverlust in breiten Schichten der Bürger und Hochbürger, nicht zuletzt durch die Inflation, führten zu sozialen Nivellierungen bisher ungekannten Ausmaßes, die von den neuen »Volksparteien« CDU und CSU geschickt aufgegriffen wurden. Es kamen zudem Faktoren hinzu, die sich für die neue gesellschaftliche Konsensbasis als günstig erweisen sollten:

 Die Ausgliederung spezifischer Regionalstrukturen: »der protestantisch ostdeutschen Landwirtschaft, des katholischen schlesischen Industriegebietes, der sächsisch-thüringischen Industrie- und Gewerbegebiete, der altpreußisch-mecklenburgischen Agrarregionen« und Berlins in der Funktion der Reichshauptstadt« (Lepsius 1983 : 11 f.).

 Die für Deutschland einst so bedeutsame Konfessionsspaltung verlor durch Krieg und Kriegsfolgen an Bedeutung. Der Anteil der Katholiken betrug im Deutschen Reich im Jahr 1939 33 % an der Gesamtbevölkerung (Protestanten 61 %). Auf dem Territorium der Bundesrepublik war dieser Anteil bis 1950 auf 44,3 % gestiegen. Da die Protestanten (um das Jahr 1950) nur noch über einen Anteil von 51,5 % verfügten, konnte konfessionell insgesamt – nicht regional – von einer quasi paritätischen Situation ausgegangen werden (zu den Daten vgl. Flora 1983).

 Entgegen einer verbreiteten Auffassung wurden die Elite-Positionen »in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Verbänden und Kultur insgesamt gesehen gründlicher umbesetzt bzw. neu besetzt als 1933 oder 1918/19« (Kocka 1979 : 157; vgl. auch Zapf 1965).

 Die für die deutsche Geschichte so zentralen Rollen der Großgrundbesitzer, des preußischen Staates und Militärs waren ausgespielt und bei der Gründung der Bundesrepublik keine Belastung. Das Militär hatte aufgehört, ein bestimmender Faktor des politischen und öffentlichen Lebens zu sein.

 Die traditionale Dreigliederung des deutschen Gewerkschaftswesens wurde nach 1945 nicht restauriert. Die bereits vor 1933 aktiven Bemühungen um eine »Einheitsgewerkschaft« konnten nach dem Krieg, nicht zuletzt durch das Wirken von Hans Böckler (1894–1951; 1949 erster Vorsitzender des DGB) verwirklicht werden.

 Proletariat und Arbeiterkultur verloren im »Schmelztiegel« der Kriegs- und Nachkriegszeit und den bald nach der Währungsreform spürbaren Wirkungen der »Sozialen Marktwirtschaft« mehr und mehr das Interesse und die Basis für die Restauration einer klassenspezifischen Teilkultur.

Die Veränderungen in der deutschen Sozialstruktur durch den Nationalsozialismus, den Krieg und die Kriegsfolgen bewirkten etwas ganz Entscheidendes: erstmals in der deutschen Geschichte wurde die Demokratie als einzig mögliche Regierungs- und Staatsform auch in den besitzenden Oberschichten, im Beamtenbund, aber auch von den Kirchen akzeptiert. Der Sonderweg einer »verspäteten Nation«, wie die bekannte These von Helmuth Plessner (1974) lautete, war beendet.

3.2 Die neue Wirtschaftsordnung: Soziale Marktwirtschaft

Bemühungen um die Durchsetzung einer bestimmten Wirtschaftsordnung wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit hartnäckiger verfolgt als Gedanken einer politischen und verfassungsmäßigen Neuordnung. Das Wirtschaftssystem hatte seine eigene Dynamik. Die weltwirtschaftlichen Verflechtungen wie die weltpolitischen Auseinandersetzungen waren im Wirtschaftsbereich direkt. Programmatiken des wieder erwachenden parteipolitischen und des gewerkschaftlichen Lebens konzentrierten sich auf die Wirtschaftspolitik, auf Eigentums- und Vermögensfragen, Bildung und Ausbildung. Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Diskussionen dieser Zeit gipfelten in der Frage, ob die Gefahren für die individuelle Freiheit in der künftigen Gesellschafts- und Staatsordnung eher von einem schrankenlosen Kapitalismus oder von einer umfassenden Planwirtschaft kommen würden.

Als vom 18.–20. Juni 1948 die Währungsreform durchgesetzt wurde, war die Diskussion zugunsten des Ordo-Liberalismus entschieden. Er allein schien in der Lage, die Vorteile der freien Märkte mit der Freiheit der Individuen und einem Ordnungsrahmen zu verbinden, der ein Abgleiten in schrankenlosen Kapitalismus ebenso verhinderte wie eine dirigistische Planwirtschaft (vgl. zur Durchsetzung der freien Marktwirtschaft Ambrosius 1977).

Die Währungsreform war mit vielen Bestimmungen zur Abschaffung der Zwangswirtschaft verbunden. Der unermüdliche Motor dieser Reformen, die er z. T. gegen den ausdrücklichen Willen des Alliierten Kontrollrates durchsetzte, war Ludwig Erhard (1897–1977). Er war zunächst Leiter der »Sonderstelle Geld und Kredit des Wirtschaftsrates« und seit März 1948 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der amerikanischen und britischen Zone, mit Sitz in Bad Homburg. Zur Akzeptanz der Währungsreform und neuen Wirtschaftsordnung hatten klare wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen und das Konzept Soziale Marktwirtschaft beigetragen. Ludwig Erhard übernahm diesen Begriff, der erstmalig 1947 in einer Schrift des Münsteraner Professors der Volkswirtschaftslehre, Alfred Müller-Armack (1901–1978), auftauchte. Erhard »machte daraus eine gängige Parole« (Eschenburg 1983 : 439; vgl. Müller-Armack 1974).

Für die (spätere) Bundesrepublik war von großer Bedeutung, dass die Grundzüge der Wirtschaftspolitik entwickelt waren und Eingang in die Praxis gefunden hatten, bevor das neue Staatswesen existierte. So kann man dem Historiker Hans-Peter Schwarz (1974 : 59) zustimmen, wenn er resümiert: »Die Bundestagswahl von 1949 war denn auch in der Tat eine Art Plebiszit über die Wirtschaftsordnung. Sie ging zugunsten der marktwirtschaftlich orientierten Parteien aus«.