Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

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Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft war die wichtigste Grundlage für die Integration heterogener Bevölkerungsschichten in die neue Gesellschaft der im Entstehen begriffenen Bundesrepublik (über den bis November 1948 sich hinziehenden Widerstand der westdeutschen Arbeiterschaft gegen die Marktwirtschaft vgl. Benz 1984 : 92). Die neue Wirtschaftsordnung wurde durch den Marshall-Plan unterstützt. Im Rahmen dieses im April 1948 beschlossenen Auslandshilfegesetzes der USA, das nach dem vormaligen General und Außenminister der Jahre 1947–1949, George Marshall, benannt war, erhielten die vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Länder Westeuropas erhebliche Aufbauhilfen in Form von Sachleistungen und Krediten. Die Ostblockländer waren von der Sowjetunion gezwungen worden, die angebotenen Hilfsleistungen zurückzuweisen.

Dass die vor allem von Ludwig Erhard konzipierte und couragiert durchgesetzte Währungsreform zum entscheidenden Umbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte führte und die Konsensbasis für die neue Wirtschaftsordnung schnell breiter wurde, hatte auch Ursachen, die mehr in epochal-typischen Phänomenen als in gänzlich neu geschaffenen Bedingungen lagen. Deutschland war bereits – entsprechend der Stadienlehre des wirtschaftlichen Wachstums von Rostow (1960) – in den 1920er Jahren in das »Zeitalter des Massenkonsums« eingetreten. Diese Entwicklungen wurden durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg zwar unterbrochen, doch die Wege zu einer modernen Konsumgesellschaft waren schon vor 1948/49 ff. beschritten worden.

3.3 Das Grundgesetz als neuer Gesellschaftsvertrag. Hauptstadtfrage

Seit dem 10. Juli 1948 tagte im Schloss Herrenchiemsee der Verfassungskonvent zur Vorbereitung des Parlamentarischen Rates, der die endgültige Verfassung auszuarbeiten hatte. Diesem Konvent lag eine Aufforderung zur Gründung eines westdeutschen Teilstaates zugrunde, die von den drei westlichen Militärgouverneuren am 1. Juli 1948 in Frankfurt den Ministerpräsidenten überreicht wurde (sog. »Frankfurter Dokumente«). Dagegen gab es einen nicht unerheblichen Widerstand auch seitens einiger Ministerpräsidenten (vgl. Benz 1984 : 98 ff.). Man befürchtete, damit den Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu beschreiten. Doch auf Druck der Alliierten trat am 1. September 1948 in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, um über eine Verfassung für einen westlichen Teilstaat zu beschließen. Er bestand aus 65 Mitgliedern, die von 11 Landtagen gewählt waren, je 27 von der CDU/CSU und der SPD, fünf von der FDP, je zwei von der Deutschen Partei, dem Zentrum und der KPD. Hinzu kamen fünf Vertreter (West-)Berlins mit beratender Stimme.

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« verabschiedet. Der Tag ist das Gründungsdatum der zweiten deutschen Republik. Der Name »Grundgesetz« (GG) statt »Verfassung« wurde gewählt, um auf die Vorläufigkeit der Staatsgründung hinzuweisen. In der dem GG vorangestellten Präambel hieß es unter anderem, dass »auch für jene Deutsche gehandelt wurde, denen mitzuwirken versagt war« und dass »das gesamte deutsche Volk aufgefordert« ist, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«.

Auch mit der Wahl Bonns als Regierungssitz sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um nichts Endgültiges handele. Bereits am 12. Mai 1949 war die Entscheidung gefallen, dass Bonn und nicht Frankfurt/M. vorläufige Hauptstadt der Bundesrepublik sein sollte. Für Frankfurt hätte nicht nur die zentrale Lage, sondern auch die deutsche Geschichte gesprochen: von 1562 bis zum Ende des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« im Jahr 1806 war der Frankfurter Dom die Stätte der Kaiserkrönung. In den Jahren 1848/49 tagte in der Frankfurter Paulskirche die erste frei gewählte Nationalversammlung, um eine Verfassung für ganz Deutschland auszuarbeiten.

In der Hauptstadtfrage lief die Entwicklung in der SBZ/DDR fast parallel. Am 7. Oktober 1949 wurde die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik verkündet und (Ost-) Berlin zur Hauptstadt erklärt. Hier gab es weder eine Vorläufigkeit wie mit Bonn noch die Selbstbeschränkung auf Ost-Berlin. Es hieß: »Berlin, Hauptstadt der DDR«.

3.4 Die Bundesrepublik als »demokratischer Verfassungsstaat«

Die im Grundgesetz verankerte Staatsordnung gehört zum Typus des westlichen »demokratischen Verfassungsstaates«. Ohne hier auf die Frage einzugehen, ob mit der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 bereits ein Wiederanknüpfen an die nach dem Scheitern der Paulskirchen-Verfassung von1848/49 unterbrochene westeuropäisch-nordamerikanische Verfassungsgeschichte gegeben war, konnte in den Jahren 1948/49 von einem breiteren Grundkonsens für diesen Verfassungs- und Staatstypus ausgegangen werden als 1918/19.

Bei allen an der Ausarbeitung des Grundgesetztes beteiligten Personen und Parteien – ausgenommen die beiden KPD-Mitglieder im Parlamentarischen Rat – bestand Konsens über folgende Eckpfeiler:

 Das neue Staats- und Gesellschaftssystem beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und des Föderalismus.

 Die Sicherung der Freiheits- und Bürgerrechte hat Vorrang vor »Staatsinteressen«.

 Die Handlungsfähigkeit und zugleich Kontrolle der Exekutive ist zu gewährleisten.Plebiszite sind ausgeschlossen.

 Grundlegende Prinzipien des neuen Gesellschaftsvertrages dürfen nicht, auch nicht mit Zweidrittelmehrheit, abgeändert werden (Art. 79 Abs. 3 GG).

Dass das Grundgesetz gleichwohl für den gesellschaftlichen Wandel offen ist, war von vornherein Konsens. Inzwischen sind rund 60 Änderungen vorgenommen worden, zuletzt relativ umfangreich im Zusammenhang mit dem deutschen Einigungsprozess. Carlo Schmid (1896–1979), einer der wichtigsten »Väter des Grundgesetztes« (es gab auch vier »Mütter«) und SPD-Parlamentarier, schrieb in seinen »Erinnerungen« (1979 : 373 f.): »Auch gegen die von vielen gewünschte Einführung so genannter sozialer Grundrechte, an denen die Weimarer Verfassung so reich gewesen ist, habe ich mich energisch gewehrt, waren sie doch nichts anderes als Programme oder Tautologien oder Kennzeichnungen der Zustände, die bei einem vernünftigen Umgang mit den klassischen Grundrechten aus den politischen Auseinandersetzungen hervorgehen sollten« (über weitere Prinzipien bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes vgl. Di Fabio 2011).

Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum Ersten Deutschen Bundestag statt. Die Wahlbeteiligung betrug 78,5 %. Zur Überraschung vieler lag der Stimmenanteil von CDU/CSU mit 31,0 % (139 von 399 Sitzen) fast zwei Prozent über dem der SPD (131 Sitze). Die FDP erhielt 11,9 % der Stimmen und 52 Sitze, die Deutsche Partei (DP) erhielt 4,2 % der Stimmen und 17 Sitze. Die KPD erzielt 5,7 % und 15 Sitze.

Konrad Adenauer betrieb geschickt seine Kanzlerschaft und erreichte sie in einer Koalition mit FDP und DP (vgl. Adenauer 1965 : 223 ff.). Da es noch keine Fünf-Prozent-Sperrklausel auf Bundesebene gab, kamen sechs weitere Parteien ins Parlament. Mit Adenauer an der Spitze der neuen Regierung zeichnete sich bald das ab, was später Kanzlerdemokratie genannt wurde, gestützt auf Art. 65 GG (»Richtlinienkompetenz« des Bundeskanzlers).

3.5 Restauration und Neubeginn

Die Restaurationsthese wurde schon im Herbst 1946 von Hans Werner Richter (1908–1993), Mitbegründer der für das intellektuelle Leben in der jungen Bundesrepublik so wichtigen Literatenvereinigung »Gruppe 47«, in der Zeitschrift DER RUF vertreten: nach Kriegsende sei nicht, wie doch zu erwarten war, eine Revolution über dieses Land hinweggegangen, sondern es habe »lediglich eine behördlich genehmigte Restauration stattgefunden«. Richter tat aber auch kund, dass ihm die »revolutionäre« Entwicklung in der SBZ ebenso wenig gefiel. Wie also hätte die Revolution aussehen können und welcher Handlungsspielraum bestand überhaupt?

Man darf folgende Tatsachen nicht aus dem Blick verlieren, wenn über einen falschen oder zu restaurativen Neubeginn nach 1945 bzw. 1948/49 räsoniert wird. Auf der einen Seite waren es extreme Notlagen, Kälte- und Hungerkrisen, der Kalte Krieg und die durch die Entwicklung in der SBZ und den vormals deutschen Ostgebieten mit verursachte alte und neue Furcht vor einer Bolschewisierung bzw. Sowjetisierung, die für einen sozialistischen Neubeginn keine idealen Ausgangsvoraussetzungen boten. Auf der anderen Seite war der Nationalsozialismus trotz der irrigen Behauptung von der »Stunde Null« nicht einfach verschwunden, sondern in Personen und Institutionen, Gesinnung und Weltanschauung noch präsent (vgl. über »Die lange Stunde Null«: Braun et al. 2007).

In der breiten Beteiligung aller Bevölkerungsschichten am Nationalsozialismus lag eine Ursache für die Zurückweisung einer Kollektivschuld. Über das Gewesene wurde auch deshalb der Mantel des Schweigens und Vergessens gebreitet, um nicht die familiäre, berufliche und nachbarschaftliche Gegenwart permanent mit Infragestellungen und Verdächtigungen zu belasten. Zudem gab es ja die offizielle Entnazifizierung und die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Das Übrige war Alltagswelt, Irrtum und Irreführung und nicht der »wahre« Nationalsozialismus, an den man geglaubt hatte. So verwundert nicht, dass sich die Aufarbeitung von Schuld und Vergehen bis in die Gegenwart hinzieht. Wegen der vielen Restitutionsansprüche (z. B. an konfiszierter »jüdischer Kunst«, an Bodenbesitz ehemals jüdischer Familien) und neuen Darstellungen von Betroffenen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern wird das Thema: »Wie war es möglich?« weiterhin präsent sein. Der jungen Generation kann so ein viel differenzierteres Bild der Naziherrschaft in allen ihren Bereichen vermittelt werden.

 

Die Grundlagen des neuen Wirtschaftssystems und Gesellschaftsvertrages gewannen schnell an Überzeugung und Zustimmung. Viele Probleme blieben zunächst ungelöst, wie z. B. die Monopolfrage. Hier war Ludwig Erhard kein Motor. Erst im Jahr 1957 wurde ein »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« (Anti-Kartellgesetz) verabschiedet. Doch das Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung mit sich ständig erweiternden Konsummöglichkeiten, der soziale Wohnungsbau, der Lastenausgleich für Vertriebene und Flüchtlinge und die anhaltende Massenflucht aus der DDR (vor allem über die bis 1961 offene Grenze nach West-Berlin) trugen zur Legitimation der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung bei.

Auch die »Modernisierung im Wiederaufbau« (vgl. Schildt/Sywottek 1993), die ja nicht nur den Wohnungs- und Städtebau und die Kunst betraf, sondern auch das Design für viele Gebrauchsgegenstände wie Auto und Plattenspieler, Telefon und Radio, trug dazu bei, ein modernes, in die Zukunft weisendes Lebensgefühl zu vermitteln und den Anschluss an die als vorbildlich angesehenen Entwicklungen in den USA zu schaffen.

4. Kultur und Werte als Rückhalt

Werte sind die in einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft wirksamen »ethischen Imperative«, ihr verbindendes Element. Nicht nur in der desolaten Situation nach dem Zweiten Weltkrieg wurde versucht, sich einer gemeinsamen Wertbasis zu vergewissern:

In ihrem Werk zur Sozialstruktur Europas betonen Mau und Verwiebe (2009), in welchem Ausmaß auch die Entwicklung der Europäischen Union auf der Gemeinsamkeit von gleichen Werten beruht (vgl. Kap.XII).

Werte verweisen auf kulturelle, religiöse und soziale, rechtliche und ethische Leitbilder des Handelns. Über den Normbegriff hinaus sind die in einer Gesellschaft vorherrschenden Werte das Grundgerüst der Kultur und der Weltanschauung.

4.1 Die Situation in Westdeutschland

Die Berufung auf die grundlegenden Werte der deutschen Kultur, auf Reformation und Humanismus, auf die deutsche Klassik und den Idealismus in Philosophie und Pädagogik, auf das Erbe des Christentums und die große deutsche Bildungstradition gehörte zu den moralischen Stützen der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Das Goethe-Jahr 1949 zum 200. Geburtstag des Dichters bot einen willkommenen Anlass für eine geistige Neubesinnung – aber auch zum Streit um das deutsche Erbe in nunmehr zwei deutschen Staaten, die in diesem Jahr, auch mit Anspruch auf das Erbe des »anderen, wahren Deutschland«, gegründet wurden (vgl. Glaser 1997 : 107 ff.: »Auf Goethe hoffend«). Die geteilte Nation und die weitgehend zusammengebrochene Gesellschaft fanden eine Stütze in den Werten der deutschen Kultur- und Bildungstradition. Das Wort von der deutschen Kulturnation bekam eine unerwartete Bedeutung und wurde zu einer Grundlage der Zusammengehörigkeit. Glaser (1997) hat diese Zeit anschaulich mit Beispielen aus allen Kulturbereichen beschrieben: Die Rückbesinnung auf das Erbe einerseits, das Nachholen und Einholen der durch den Nationalsozialismus verzögerten oder zerstörten Moderne in Musik und Literatur, Malerei und Theater, Architektur und Städtebau andererseits.

Doch ein bruchloses Anknüpfen an das Erbe der deutschen Kultur konnte es ebenso wenig geben wie eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft allein aus deutschem Geist, der ja hinlänglich seine Unfähigkeit bewiesen hatte, vor der Barbarei zu bewahren. Es gab warnende Stimmen, das deutsche Bildungs- und Kulturerbe nicht aus der Mitverantwortung für die Entwicklung zum und im Nationalsozialismus zu entlassen.

Wie für die Erneuerung des staatlichen und politischen Lebens auf ein Schwanken zwischen Restauration und Erneuerung hingewiesen wurde, so gilt dies auch für die Kulturentwicklung nach 1945. Die erwähnte »Gruppe 47«, die Uraufführung (Hamburg 1947) des Dramas »Draußen vor der Tür« des früh verstorbenen Autors Wolfgang Borchert (1921–1947), der dieser »verlorenen Generation« eine Stimme gab, die Aufführungen der Neuen Musik in ihren Zentren Darmstadt, Baden-Baden und Donaueschingen und der Siegeszug der bisher verbotenen abstrakten Kunst können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Veranstaltungen für eine kleine Kulturelite handelte. Die große Mehrheit lauschte den »Capri-Fischern«, die aus den alten Volksempfängern bis in den Straßenraum drangen und schaute Filme an, die die Sehnsucht stillten und von Vergangenheit und Gegenwart ablenkten.

4.2 Kulturentwicklung in der SBZ/DDR

Im »Philosophischen Wörterbuch« von Klaus Buhr, das in der DDR und in der Bundesrepublik weit verbreitet war, hieß es zum Begriff Kultur: »Entwicklung und allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um die Beherrschung der Naturkräfte und ganz besonders des eigenen gesellschaftlichen Zusammenlebens«.

Nicht erst 1945/49 kam diese historisch-materialistische Auffassung der Kultur zum Tragen. Sie hatte Wurzeln, die bis in das 19. Jahrhundert zurückgingen, verbunden mit dem Anspruch, auch auf diesem Gebiet das Erbe des deutschen Idealismus und einer wohl verstandenen Klassik anzutreten. In gewisser Weise konnte man bei der 1933 gewaltsam unterbrochenen Kulturentwicklung der Weimarer Republik wieder anknüpfen, die zu einem nicht unwichtigen Teil sozialistisch geprägt war (das gilt auch für das später weltberühmte Bauhaus in Dessau).

Es hatte erhebliche Signalwirkung, auch im Ausland, dass anerkannte Schriftsteller wie Heinrich Mann oder Bertolt Brecht aus dem Exil kommend in die SBZ/DDR gingen. Brecht leitete das »Theater am Schiffbauerdamm«, das über seinen Tod im Jahr 1956 hinaus Weltruhm genoss. Der Lyriker Peter Huchel redigierte die Zeitschrift »Sinn und Form«, die als eine der besten deutschsprachigen galt.

Der hohe Stellenwert, der auf der einen Seite Literatur, Theater und anderen Künsten bei der Schaffung des »neuen Menschen« eingeräumt wurde, korrespondierte auf der anderen Seite mit der Furcht vor Abweichung, was zu entsprechenden Zensurmaßnahmen und Überwachungen führte. Mit der Ausweisung des auch im Westen sehr bekannten Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1976 wurden die Drangsalierungen von Künstlern zum weltweit beachteten Skandal. Aber die DDR-Literatur blieb eine wichtige Klammer der deutschen Kulturnation. Werke von Christa Wolf gelangten auszugsweise auch in westdeutsche Schulbücher und waren Anlass für Abituraufsätze (Der geteilte Himmel, 1963; Nachdenken über Christa T., 1968; Störfall. Nachrichten eines Tages, 1987).

Die SBZ förderte ein breites, mit den Werktätigen verbundenes Kulturschaffen. Entsprechend zahlreich waren die Kultureinrichtungen, auch in abgelegenen Regionen.

Im Jahr 1989 gab es, bei rund 17 Mio. Einwohnern, 217 Theater, 87 Orchester, 719 Museen (davon 128 Geschichtsmuseen), fast 17 Tsd. Bibliotheken – darunter ca. 6 Tsd. Betriebsbibliotheken – und 1709 Kulturhäuser (Thomas 1993 : 421).

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (vgl. Art. 35 des Einigungsvertrages) ging diese Differenzierung und kulturelle Basis zu einem guten Teil verloren, auch auf Grund der völlig anderen Organisationsstrukturen des kulturellen Lebens. Es entwickelte sich jedoch eine neue Form der kulturellen Förderung, bei der kommunale und private Initiativen eine große Rolle spielten. Nur dadurch konnte, häufig in letzter Minute, viel vor Verfall und Ausverkauf, z. B. von wertvollen Bibliotheksbeständen, bewahrt werden.

5. Religion und Kirchen in Westdeutschland und der SBZ/DDR

Nach dem ideologisch-weltanschaulichen Zusammenbruch des Nationalsozialismus und dem Verfall vieler Institutionen konnten die christlichen Kirchen zunächst eine dominante Rolle spielen, was sich nicht zuletzt bei der Gründung von CDU und CSU zeigte. Doch dies bedeutete nur ein Interregnum. Zum einen wurden, neben geleistetem Widerstand, auch Verstrickungen der Kirchen in die Politik des Dritten Reiches und dessen anti-semitische Grundlagen offenkundig, zum anderen setzten sich säkulare Trends fort, die bereits in der Weimarer Republik verstärkt zur Geltung gekommen waren. Für die Zeit nach 1949 gilt: »Der politische Prälat verschwand allmählich aus den Landtagen und trat im Bundestag erst gar nicht auf« (Maier 1989 : 166). Die katholischen Gewerkschaften wurden ebenso aufgegeben wie andere Vereinigungen und Parteien, die einen über die engeren kirchlichen Aufgaben hinaus wirkenden, allgemein-politischen Anspruch hatten.

Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Tradition der Katholikentage bekam für die Repräsentanz des Katholizismus in der Öffentlichkeit eine bis heute anhaltende Bedeutung. Ihnen wurden seit 1949 die Evangelischen Kirchentage an die Seite gestellt (Maier 1989 : 167). Seit 1957 finden sie im zweijährigen Rhythmus statt, alternierend mit den Katholikentagen. Bis zur Vereinigung waren beide Kirchentage auch eine gesamtdeutsche Klammer.

Nach langen Verhandlungen und den Erfahrungen mit der »Bekennenden Kirche« im nationalsozialistischen Deutschland kam es zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als Bund lutherischer, reformierter (calvinistischer) und unierter Kirchen. Die Grundordnung wurde nach einer ersten Kirchenversammlung in Treysa bei Kassel im August 1945 in Eisenach (Thüringen) im Juli 1948 beschlossen. Der Wechsel der Namensgebung von »Deutscher Evangelischer Kirche« zu »Evangelischer Kirche in Deutschland« geschah in der Absicht, »der Vorstellung einer mehr politisch bedingten Zuordnung von Nation, Staat und Kirche entgegenzutreten, aber zugleich die kirchliche Verpflichtung gegenüber dem deutschen Volk zu unterstreichen« (Wilkens 1989 : 185).

Trotz aller anti-religiöser und anti-kirchlicher Politik der DDR waren sowohl das Hineinragen der katholischen Bistümer Fulda, Osnabrück, Paderborn und Würzburg in das DDR-Territorium als auch die Gründung der EKD eine gesamtdeutsche Klammer – zumindest bis zum Jahr 1969, als nach langen Auseinandersetzungen die Klammer zur EKD beseitigt und der »Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR« gegründet wurde (Henkys 1989 : 199 f.).

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 wurden die Ursprungsländer des deutschen Protestantismus als »neue Bundesländer« in die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik eingegliedert. Gehörten noch 1945 90 % der Bevölkerung einer Kirche an, überwiegend der protestantischen, so war durch die äußerst rigide Kirchenpolitik der SED der Anteil der Kirchenzugehörigkeit auf deutlich unter 30 % gesunken. In den städtischen Ballungszentren und den Industrieregionen Ostdeutschlands waren es sogar weniger als 10 % der Bevölkerung (Hartmann 1993 : 404).

In der Schlussphase der DDR traten erhebliche Spannungen auf, weil die Kirche mit ihren Freiräumen als Hort der Dissidenten galt – und in der Tat für die Vorbereitungen der friedlichen Revolution eine bedeutende Rolle spielte (zur weiteren Entwicklung von Religion und Kirche in der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands vgl. Kap. VI).

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