Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel III

Vereinigungsprozess. Seitherige Entwicklung

1.Vorgeschichte

2.Die unwahrscheinliche Wiedervereinigung

3.Integration der DDR durch Beitritt als »neue Bundesländer«

4.Vereinigung des Gegensätzlichen

5.Staatsverträge. Institutionentransfer

6.Endogene und exogene Transformationen

6.1 Begriff und Probleme der Transformation

6.2 Die Bedeutung der Städte für die Transformation

6.3 Die Treuhandanstalt

7.Auswirkungen der Vereinigung auf Individuum und Sozialstruktur

8.Nation und Nationalismus vor und nach dem Einigungsprozess

Literatur

1. Vorgeschichte

Der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (»Wiedervereinigung« ist ungenau, aber üblich) hatte ein zentrales Ereignis zur Voraussetzung: den Fall der Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989. Seit ihrer Errichtung mit dem Startdatum des 13. August 1961 war sie in der ganzen Welt das Symbol für den Kalten Krieg und den Gegensatz der die Welt beherrschenden politischen Systeme: Die freiheitlichen Gesellschaften unter Führung der USA hier, die kommunistischen Regime unter der Dominanz der Sowjetunion dort. Ein Besuch an der Mauer im Herzen Berlins gehörte zum Pflichtprogramm ausländischer Politiker. Was er dort sah und auf Gedenksteinen las, war erschütternd. Die Mauer war »eine der großen politischen Ikonen der Menschheit« (Henke 2011 : 31).

Die Vorgeschichte der Berliner Mauer beginnt mit der seit 1952 hermetisch befestigten Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik, die von Lübeck-Travemünde bis zum Fichtelgebirge reichte. Sie war Teil jenes Eisernen Vorhangs, von dem Englands Kriegs-Premier Winston Churchill erstmalig in einem Brief an Präsident Truman am 12. Mai 1945 gesprochen hatte: In Europa sei von Lübeck bis Triest an der Adria ein Iron Curtain heruntergegangen (abgedruckt in: Kleßmann 1982 : 349).

Zur Vorgeschichte der Berliner Mauer gehört der Tatbestand, dass bis zu ihrer Errichtung ca. 3 Mio. DDR-Bürger ihr Land verlassen hatten. Der Höhepunkt war im Jahr des blutig niedergeschlagenen Aufstandes im Juni 1953, als 331 Tsd. Menschen die DDR verließen. Im Jahr 1961 passierten vom Jahresanfang bis zum Tag vor dem Mauerbau 155 Tsd. Menschen die bundesdeutschen Notaufnahmestellen über die noch offene Berliner Sektorengrenze (Henke 2011 : 163). Über sie flüchteten nicht nur Ostdeutsche, sondern auch Ungarn und Tschechen, Polen und andere Bewohner der von der Sowjetunion abhängigen Staaten.

Die Berliner Mauer (zur Vorgeschichte, Wirkung und zum Fall vgl. die Dokumentation bei Henke 2011) war die hermetische Abriegelung der drei Westberliner Sektoren vom sowjetischen Sektor und den Westberliner Außenbezirken vom Territorium der DDR. Insgesamt waren das 168 km. Die Mauer war zwischen 3,40 und 4,20 m hoch und galt als unüberwindlich, weil es dahinter einen Todesstreifen gab. Im offiziellen Sprachgebrauch der DDR war sie ein »anti-faschistischer Schutzwall«. Hier wie an der Grenze zur BRD galt ein Schießbefehl. Im Verlauf von knapp 28 Jahren wurden an der Berliner Mauer mindestens 136 Menschen erschossen, eine genaue Zahl gibt es nicht. Dass einige Todesfälle nur als Mord bezeichnet werden können, ist der Dokumentation von Henke (2011 : 172 ff.) zu entnehmen. Die »Mauerschützen-Prozesse« nach der Vereinigung offenbarten ein besonders finsteres Kapitel der DDR-Geschichte.

2. Die unwahrscheinliche Wiedervereinigung

Noch Anfang des Jahres 1989 war die (Wieder-)Vereinigung der beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, die im Jahr 1949 aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges und des danach beginnenden Kalten Krieges entstanden, völlig unwahrscheinlich. Es gab, heute nicht mehr vorstellbar, sowohl in der CDU als auch in der SPD Überlegungen, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen, um dadurch eine bessere Basis für die deutsch-deutschen Beziehungen zu schaffen.

Das Jahr 1989 wird also zu Recht, auch im Hinblick auf die Umbrüche in den Ländern Osteuropas, des Baltikums und der Sowjetunion, als annus mirabilis, als »Jahr der Wunder«, bezeichnet. Die Feiern in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten zur Erinnerung an den Beginn der Französischen Revolution 1789 hatten vielfachen Anlass, den aktuellen Freiheitswillen der Ungarn, Polen, Tschechen und weiterer Völker in das Gedenken einzubeziehen (vgl. über »die deutsche Revolution 1989« Schuller 2009).

Mit der Demonstration eines ultimativen Freiheitswillens der DDR-Bevölkerung durch die Montags-Demonstrationen, die Flüchtlingsströme nach und dann aus Ungarn und aus der Deutschen Botschaft in Prag (September/Oktober 1989) in die Bundesrepublik setzte eine in der Geschichte einmalige politische und gesellschaftliche Dynamik ein (Schuller 2009 : 78 f.). Der bis zuletzt nicht erwartbare Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 machte den Freiheitswillen auf ergreifende Weise der ganzen Welt deutlich.

Der 9. November war damit abermals ein Schicksalstag der Deutschen: Am 9. November 1918 hatte der SPD-Politiker Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die deutsche Republik ausgerufen; am 9. November des Jahres 1923 war Hitlers Putschversuch mit dem Marsch auf die Feldherrenhalle in München gescheitert und der 9. November ist durch »die schmachvolle Pogromnacht 1938 (…) ein Schandflecken in unserer Geschichte« (Schuller 2009 : 196).

Nun schlug die Stunde der Politik. Sie unternahm unter Bundeskanzler Helmut Kohl mit Gestaltungswillen und visionärer Kraft Schritte, die zur Einheit führten. Die Mauer, bisher Symbol der Trennung, wurde zum Symbol der Freude und Hoffnung. Der Einheitswillen wurde durch wirksame Parolen unterstützt. Aus dem skandierten »Wir sind das Volk« bei den Protestumzügen im Oktober 1989 wurde bald: »Wir sind ein Volk« und schließlich: »Deutschland – einig Vaterland«. Willy Brandt, Regierender Bürgermeister Berlins von 1957–1966 und Bundeskanzler von 1969– 1974, sprach am 10. November 1989, also noch in der Euphorie des Mauerfalls, auf einer Großveranstaltung vor dem Schöneberger Rathaus das hellsichtige Wort: »Nun wächst zusammen, was zusammen gehört«.

Nach den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 (mit einer Wahlbeteiligung von 93,4 %) standen die Zeichen auf schnelle Vereinigung. Die von Bundeskanzler Helmut Kohl unterstützte »Allianz für Deutschland« ging überraschend als Sieger hervor. Dass nicht – wie von vielen wegen der Wertschätzung Willy Brandts erwartet – die SPD den Sieg davontrug, hatte vor allem zwei Ursachen: Die SPD war erst im Oktober 1989 neu gegründet worden und hatte die seit 1946 bestehende »Zwangsehe« mit der SED beendet. Sie verfügte also nicht, wie die Ost-CDU, über einen Parteiapparat und entsprechende Einrichtungen. Der zweite Grund war der Wunsch nach einer schnellen Vereinigung; die schien bei Helmut Kohl in guten Händen.

3. Integration der DDR durch Beitritt als »neue Bundesländer«

Während die Bundesrepublik entsprechend den Traditionen der deutschen Geschichte als föderaler Bundesstaat gegründet wurde, d. h. mit Ländern, die partiell Staatsfunktionen haben, verlief die Entwicklung im Einheitsstaat DDR nur zunächst ähnlich (vgl. Art 1 der Verfassung vom 7. Oktober 1949, »Republik und Länder«), dann jedoch völlig anders. Am 23. Juli 1952 wurden 14 Bezirke eingerichtet, die die Funktionen der Länder außer Kraft setzten. Eine schnelle Vereinigung, die die DDR-Volkskammer unter Ministerpräsident Lothar de Maizière beschlossen hatte, war aber nur nach Art. 23 GG möglich (vgl. Präambel und Art. 23 GG in der bis zum 3. Oktober 1990 gültigen Fassung). So wurden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen durch das »Ländereinführungsgesetz« der DDR-Volkskammer vom 22. Juli 1990 neu errichtet und Ost-Berlin mit West-Berlin zum neuen, dritten Stadtstaat vereinigt. Es entstand also kein neuer Staat auf der Basis einer neuen Verfassung, was nach Art. 146 GG auch möglich gewesen wäre, sondern die bisherige Bundesrepublik erweiterte sich nach Art. 1 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 um das Territorium der neu geschaffenen Bundesländer.

Wie dem Zusammenschluss der Länder in den drei westlichen Besatzungszonen, der Trizone, zur Bundesrepublik Deutschland die Währungsreform und damit die Einführung der DM im Juni 1948 um elf Monate vorausging, so war es auch jetzt im Hinblick auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, wenn auch beschleunigter und unter politisch völlig anderen Vorzeichen. Die Einführung der DM drei Monate vor der eigentlichen Wiedervereinigung und damit verbunden die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik (Staatsvertrag vom 18. Mai 1990), beruhten auf freien Beschlüssen der Volkskammer. Der Umtausch der DDR-Mark mit ihren ungeliebten »Alu-Chips« in die begehrte DM-West im Verhältnis 1 : 1 zum 1. Juli 1990 – weit jenseits des offiziellen Wechselkurses – hatte seine eigene Dynamik. Die starke Abwanderung der DDR-Bevölkerung in den Westen ging deutlich zurück.

 

Die fünf neuen Bundesländer machen zusammen mit Ost-Berlin 30,3 % des gesamten deutschen Territoriums aus. Der hinzukommende Bevölkerungsanteil betrug in der relativ dünn besiedelten DDR hingegen nur 18,8 %. Mit ihrer Größe zwischen 16 Tsd. und 29 Tsd. qkm und einer Bevölkerungszahl zwischen 1,8 Mio. und 4,6 Mio. Einwohnern sind die fünf neuen Länder ausgewogener als die alten Bundesländer (vgl. Tabelle 2).

Trotz aller politischen Beteuerungen und Absichtserklärungen im Grundgesetz galt die Wiedervereinigung nicht als kurzfristig erreichbares Ziel. Sie bestimmte weder das politische Handeln noch das Bewusstsein der Menschen, in der Bundesrepublik noch weniger als bei der Bevölkerung der DDR. Die offizielle Politik lief im Zeitalter zunehmender Entspannung eher auf ein friedliches Nebeneinander hinaus als auf Überwindung des status quo. Die »doppelte Staatsgründung« (Kleßmann 1982) gehörte, zumal seit den Ost-Verträgen der Jahre 1970 und 1973 der Regierung von Willy Brandt, zum politischen Selbstverständnis.

Die Wiedervereinigung – nach der Präambel des Grundgesetzes in der bis zum 3. Oktober 1990 gültigen Fassung primäres Ziel des politischen Handelns – schien in eine unbestimmte Ferne gerückt, trotz der Entwicklungen in Osteuropa seit dem Beginn der »Ära Gorbatschow« im Jahr 1985. Allenfalls wurde an Reformen im »real existierenden Sozialismus« gedacht – mit dem Begriff des zur Ausreise in den Westen gezwungenen Regimekritikers Rudolf Bahro (1977) –, nicht aber an eine völlige Preisgabe der staatlichen Souveränität und an ein unspektakuläres Ende der Weltmacht Sowjetunion (der Jubiläumsband der Bundeszentrale für politische Bildung zum 40-jährigen Bestehen der beiden deutschen Staaten, der im Jahr 1989 von Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann herausgegeben wurde, ließ weder im Vorwort noch in den einzelnen Analysen ahnen, dass bald unter ganz anderen Vorzeichen bilanziert werden musste).

4. Vereinigung des Gegensätzlichen

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten erfolgte nach den Vorgaben des Gesellschafts- und Staatssystems der Bundesrepublik. Diese standen zur Gesellschaftsstruktur der DDR in krassem Gegensatz: Hier eine parlamentarische Demokratie nach westeuropäischer Verfassungstradition mit Gewaltenteilung und einem auf freien Wahlen beruhenden Parlament, dort ein kommunistisches Regime sowjetischen Typs, dominiert von der Partei der Werktätigen, der SED. Die Partei stand über allem und war nach der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1974 die letzte Instanz; sie hatte, wie es im Lied der Partei hieß, »immer recht«.

Aus der westeuropäischen Verfassungstradition, die auf der Freiheit des Einzelnen beruht und Schutz vor staatlicher Willkür bietet (vgl. die Art. 1 bis19 GG, »Die Grundrechte« überschrieben), kamen von der Trias der Französischen Revolution: Gleichheit – Freiheit – Brüderlichkeit vor allem Gleichheit und Brüderlichkeit zum Zuge. Das individualistische Prinzip der Freiheit wurde bekämpft, selbst noch im Schaffensprozess der Künste, über die sich die Partei das letzte Urteil vorbehielt. Institutionen, die für den Bürger Rechtssicherheit bedeuten, gab es nicht, ebenso wenig eine unabhängige Justiz oder eine Verwaltung, deren Beschlüsse man anfechten konnte. Es gab keine parteilich unabhängigen Gewerkschaften, keine selbstständigen Jugendorganisationen oder Frauenverbände.

Statt einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf freier Verfügbarkeit über Eigentum beruht, bestimmte Art. 9 der Verfassung von 1974: »Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln«. Institutionen, die der Differenziertheit des ökonomischen und sozialen, politischen und kulturellen Lebens entsprechen, gab es nicht. Der Volkseigene Betrieb (VEB) war für vieles zuständig, selbst für die Ferienplanung. Um mit dem radikal aufgefassten Prinzip der Gleichheit Ernst zu machen, war die Frauenerwerbsquote eine der höchsten in der Welt. Die Zentralverwaltungswirtschaft (»Kommandowirtschaft«) hatte auch Kleinbetriebe für den täglichen Bedarf auf ein Minimum reduziert. Der Dienstleistungssektor war – man denke an Cafés, Hotels, Gaststätten und Serviceleistungen aller Art – lieblos verkümmert.

Trotz der Garantie der Religionsfreiheit in der Verfassung fußte die Politik im DDR-Staat auf einer gegenüber Kirchen repressiven Politik. Konfession und Kirchlichkeit wurden, wo immer es ging, zurückgedrängt und als unerwünscht angesehen. Der aus der deutschen Geschichte überkommene föderale Staats- und Verwaltungsaufbau war ebenso beseitigt wie die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie z. B. der Universitäten und Kammern der beruflichen Selbstverwaltung (zur Differenz der Sozialstrukturen von BRD und DDR vgl. im Einzelnen das genannte »Deutschland-Handbuch«, die »Materialien« zu den Berichten zur Lage der Nation der Bundesregierung 1971 ff., Voigt 2001, Wehler 2008, Geißler 2011).

Dass die Vereinigung des Gegensätzlichen trotz allem relativ reibungslos verlief, hat nicht nur Gründe, die in der gemeinsamen Geschichte liegen. Folgende Faktoren kamen unterstützend hinzu: Die Klammer der Kulturnation, wozu ja auch die nie restlos aufgegebenen Gemeinsamkeiten der beiden christlichen Kirchen gehörten; die verwandtschaftlichen Beziehungen und die Reisen in den jeweils anderen Teil Deutschlands. Das westdeutsche Fernsehen wurde flächendeckend empfangen, ausgenommen im Raum Dresden, dem »Tal der Ahnungslosen«. So waren die DDR-Bewohner über die Bundesrepublik viel besser informiert als umgekehrt.

5. Staatsverträge. Institutionentransfer

Einige Staatsverträge zwischen der BRD und der DDR gingen dem Tag der Vereinigung am 3. Oktober 1990 voraus. Der wichtige »Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« vom 18. Mai 1990, der zum 1. Juli 1990 in Kraft trat und die Versorgung mit der DM einschloss (was als große logistische Leistung der Deutschen Bundesbank zu werten ist), wurde bereits genannt. Neben anderen Verträgen ist der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 zu nennen, der »Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands«.

In der Präambel heißt es: »Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik – entschlossen, die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit als gleichberechtigtes Glied der Völkergemeinschaft in freier Selbstbestimmung zu vollenden, ausgehend von dem Wunsch der Menschen in beiden Teilen Deutschlands, gemeinsam in Frieden und Freiheit in einem rechtsstaatlich geordneten, demokratischen und sozialen Bundesstaat zu leben (…) – sind übereingekommen, einen Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen«.

Art. 2 des Einigungsvertrages regelte die Hauptstadtfrage: »Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden«. Der Deutsche Bundestag beschloss am 20. Juni 1991 mit knapper Mehrheit, Berlin auch zum Sitz von Parlament und Regierung zu machen. Bonn wurde zugestanden, den Titel einer »Bundesstadt« zu führen und weiterhin Sitz von Ministerien zu sein.

Ein weiterer Vertrag war für die beiden deutschen Staaten von besonderer Wichtigkeit: Der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag, der »Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland«. »Zwei-plus-Vier« hieß: Die beiden Deutschland und die vier alliierten Kontrollmächte, die nicht nur in Berlin, sondern ebenso in der DDR und in der Bundesrepublik mit ihrer Militärmacht präsent waren. Die Bundesrepublik Deutschland erlangte erst durch diesen Vertrag volle Souveränität, nicht zuletzt durch das Zugeständnis, »dass die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschlands ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa« sei (Art. 1). Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag hat Deutschland erstmalig in seiner gut tausendjährigen Geschichte stabile Grenzen.

Im gleichen Vertrag wurde der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland bis zum Jahr 1994 festgeschrieben. Der Vertrag hatte auch zur Folge, dass die Militär-Kommandaturen an den vier Standorten der alliierten Truppen aufgelöst wurden, ebenso die Militärflughäfen, die Kasernen und Militärverwaltungen. Manche Städte mit relativ großen Anteilen an Militär und entsprechenden Infrastruktureinrichtungen – wie z. B. Baden-Baden als Standort der französischen Truppen in Deutschland (und damit Sitz der Militär-Kommandaturen der drei anderen Alliierten, auf exterritorialem Gebiet) – erhielten viele ehemalige Kasernen für die Konversion in Wohnraum und Gelände im Rahmen der Stadtentwicklung.

Der Einheitsvertrag war die gesetzliche Grundlage für den Institutionentransfer – mit dem Ausdruck des Politologen Gerhard Lehmbruch (1993). Die Vereinigung nach Art. 23 GG (und nicht nach Art. 146) erwies sich in dieser Hinsicht als »List der Vernunft« (Hegel). Sie ermöglichte die Übernahme der Rechts- und Verwaltungsordnung der Bundesrepublik, ihrer Justiz- und Finanzverfassung und die Übernahme völkerrechtlich verbindlicher Verträge (z. B. die EU oder die NATO betreffend) in relativ kurzer Zeit.

Tausende von Beamten und Angestellten, die für ein oder zwei Jahre von ihren Behörden für die Transformationsaufgabe »abgeordnet« wurden, gestalteten den Übergang in das neue Rechts- und Verwaltungssystem. Diese Aufgaben waren länderspezifisch aufgeteilt. So hatten Baden-Württemberg und Bayern eine besondere Verpflichtung für das Land Sachsen übernommen. Die »alte« Bundesrepublik war in allen Details die »Referenzgesellschaft« für die Transformation der rechtlichen, politischen, ökonomischen und weiteren institutionellen Ordnung der DDR.

Von besonderer Bedeutung als Basis des Einigungsprozesses waren die Institutionen für Verkehr und Kommunikation. Die Postfilialen wurden modernisiert. Rund 2600 Postler aus Westdeutschland arbeiteten für jeweils sechs Monate in den neuen Bundesländern, um die Umstellungen zu unterstützen. War in der Bundesrepublik fast in jedem Haushalt ein Telefon, so teilten sich in der DDR 17 Mio. Bürgerinnen und Bürger 1,6 Mio. Telefone. Beantragte Anschlüsse hatten lange Wartezeiten. Das alte Netz stammte zum Teil noch aus den 1920er Jahren; in 80 % aller Fernmeldeämter musste noch per Hand vermittelt werden. Allein im Jahr 1991 wurden 1,8 Mrd. DM in die Erneuerung des Systems gesteckt, das dann zu den modernsten der Welt zählte.

Auch die Zusammenlegung von Bundeswehr und Volksarmee, von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG – mit zunächst 500 Tsd. Mitarbeitern – ging problemloser als erwartet. Der Wille der DDR-Bürger, die Gleichrangigkeit mit der »alten« Bundesrepublik rasch zu vollziehen, erleichterte den Institutionentransfer. Gleiches gilt für die Katholische und die Evangelische Kirche, wobei hilfreich war, dass westdeutsche Bistümer weit in das Territorium der DDR hineinragten und es bei der Evangelischen Kirche viele Gemeinsamkeiten gab.

Es darf bei diesem Institutionentransfer nicht übersehen werden, dass viele Monate vor dem Wirksamwerden des Einigungsvertrages und noch mit der Kompetenz der Volkskammer die Transformation des SED-Regimes begann. So wurde bereits am 1. Dezember 1989 eine Verfassungsänderung durchgesetzt, mit der der Führungsanspruch »der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei« aus der Verfassung gestrichen wurde. Mit einer Verfassungsänderung am 12. Januar 1990 wurden Privateigentum und ausländische Beteiligungen an Unternehmen zugelassen. Es folgten nach den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 eine Anzahl weiterer Gesetze, von denen einige auf die Aktivitäten der Runden Tische zurückgingen, die zur Vorbereitung des Institutionentransfers erheblich beitrugen.

 

Es ist müßig darüber zu streiten, ob in den Staatsverträgen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auch einiges hätte festgeschrieben werden können, was aus Sicht der DDR-Bürger als schützenswert galt. Für eine differenzierte Bestandsaufnahme war keine Zeit. Es waren ja nicht nur die innergesellschaftlichen Transformationen zu bewerkstelligen. Auch die Außenbeziehungen der DDR mussten auf eine neue Grundlage gestellt werden. Dazu zählte die Herauslösung aus dem zusammenbrechenden Sowjetreich, dem von der Sowjetunion dominierten Wirtschaftsraum des COMECON und dem Warschauer Militärpakt.

Für den Institutionentransfer sprachen auch die Einheitlichkeit des Rechtsvollzuges und des Verwaltungsaufbaus in Bund und Ländern und das Gebot der Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« im gesamten Bundesgebiet. Der Wille der Bevölkerung, so schnell wie möglich integrierter und anerkannter Teil der Bundesrepublik und auch der Europäischen Gemeinschaften/EG zu werden, beschleunigte die Umwandlung.

6. Endogene und exogene Transformationen

6.1 Begriff und Probleme der Transformation

Dem Begriff Transformation ist der Wegfall alter und die Institutionalisierung neuer Basisstrukturen inhärent. Eines der bekanntesten Werke unter diesem Titel, Karl Polanyis The Great Transformation (1944/1978), hat dies theoretisch untermauert. Wichtig ist die Unterscheidung von endogener Transformation, also von autonomem, im System selbst generiertem sozialen Wandel, und exogenem Wandel, der von außen gesteuert wird.

Im Unterschied zu den anderen ehemals sozialistischen Staaten wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn, wo eigene Wege der Transformation gefunden werden mussten, gab es für die vormalige DDR die »Referenzgesellschaft« Bundesrepublik. Die Frage, ob die Herstellung der Einheit über Institutionen und Ressourcentransfer nur als Privileg zu betrachten ist oder besser in einem eigenen politischen Prozess zu gestalten gewesen wäre, stellt sich hier nicht, zumal die Runden Tische und die Volkskammer Inhalte und Formen des Einigungsprozesses im breiten Konsens mit der Bevölkerung vorbereitet und gesetzlich sanktioniert hatten.

Andere Punkte sind gravierender: Die Einstellung der westdeutschen Bevölkerung, dass nur Ostdeutschland zu transformieren sei. Der Institutionentransfer begann zu einem Zeitpunkt, als die Modernisierung dieser Institutionen längst fällig war. Die hohen Kosten des gesellschaftlichen Umbaus, seine fragliche Finanzierung (z. T. über die Rentenkassen) und die gleichzeitig anfallenden Kosten für ca. 1 Mio. Spätaussiedler allein der Jahre 1989/90, die ungewöhnlich hohe Zahl von Asylbewerbern in diesem Zeitraum und schließlich der Kriegsflüchtlinge aus dem einstigen Jugoslawien überforderten die Kräfte und die Möglichkeiten des Umbaus der Institutionen auch in Westdeutschland.

Die Vereinigung verlief – wie könnte es anders sein – nicht nur problemlos. Millionen Arbeitsplätze gingen verloren; die Geburtenzahlen sanken um das Jahr 1990 auf ein in der Geschichte unbekanntes Tief. Die Familien und Haushalte mussten sich, zumal bei einer Übersiedlung in den Westen, mit einem neuen Arbeitsumfeld arrangieren. Alles war neu und anders, vom Arbeits- und Sozialrecht bis zur Ausgestaltung von privaten Versicherungen.

Strittig ist bis heute die Bodenordnung. Seit der Vereinigung galt das Prinzip: »Rückgabe vor Entschädigung«. Millionen Westdeutscher wurden über Nacht Besitzer ihrer alten Häuser und Grundstücke. Viele von ihnen investierten in Erhalt und Erneuerung der oft abgewirtschafteten Bausubstanz, andere konnten den früheren Besitz durch den einsetzenden Bauboom günstig veräußern. Die erwähnte Bodenreform, die den Großgrundbesitz betraf, wurde nicht rückgängig gemacht.

Es bleiben weiterhin viele unklare Punkte: Was geschieht, wenn das Haus- und Bodeneigentum von den jüdischen Vorbesitzern beansprucht wird, die während der Nazi-Herrschaft enteignet wurden oder zum Schleuderpreis verkaufen mussten? Erst nach der Vereinigung konnten diese Restitutionsansprüche auch auf dem Territorium der ehemaligen DDR geltend gemacht werden. Das DDR-Regime hatte ja die Auffassung vertreten, für Folgeansprüche aus der Nazi-Herrschaft sei allein die Bundesrepublik verantwortlich.

6.2 Die Bedeutung der Städte für die Transformation

Zu den die Vereinigung begünstigenden Voraussetzungen gehörten nicht nur die gemeinsame Geschichte, die Elemente der Kulturnation und kirchlichen Verflechtungen, die verwandtschaftlichen Beziehungen und auch die letztlich nicht völlig unterschiedlichen Bildungs- und Ausbildungssysteme. Ein Integrationsfaktor von weitreichender Wirkung war die deutsche Stadt in ihrer seit dem Mittelalter immer wieder bewiesenen Kraft der Erneuerung. Allein die Namen, das baugeschichtliche und kulturelle Erbe von Dresden und Leipzig, von Weimar und Halle, von Erfurt und Magdeburg, von Wismar und Stralsund oder auch von Eisenach als Geburtsort von Johann Sebastian Bach (1685–1750) waren, auch dank der nun wieder freigesetzten Kräfte eines noch nicht ganz verschwundenen Bürgertums, Garanten einer zügigen Entwicklung.

Der Solidaritätszuschlag garantierte die finanzielle Basis für Stadtrenovierungen und Häusersanierungen oft »fünf vor zwölf«. Dass Leipzig bald wieder zu einem Zentrum von Buchhandel und Messen werden würde, stand ebenso außer Frage wie der neuerliche Rang von Dresden als bedeutende Kulturmetropole, als das einmalige, von August dem Starken nach italienischen Vorbildern inszenierte »Elb-Florenz«. Das sächsische Görlitz, eine der schönsten Barockstädte in Deutschland, konnte zwar seinen alten baulichen Glanz zurückgewinnen, ist aber in Nutzung und Bestand von Abwanderung bedroht. Auch kleine Kapellen und Kirchen, Schlösser und alte Herrschaftssitze auf dem zumeist dünn besiedelten Land konnten zu einem großen Teil vor dem Verfall bewahrt und neuen Nutzungen zugeführt werden.

Berlin verdient in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung. Die Vier-Sektoren-Stadt – wobei Ost-Berlin als sowjetischer Sektor mit Abstand der größte war und mit der barocken und klassizistischen Prachtstraße Unter den Linden und dem Brandenburger Tor Herz und Mitte des alten Berlins verkörperte – war das Symbol des geteilten Deutschlands und des Kalten Krieges. Nach dem erwähnten Beschluss des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 ist Berlin nicht nur Hauptstadt, sondern auch Regierungssitz. Doch erst im Sommer 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall, konnten die ersten Ministerien umziehen. Der alte Reichstag wurde zu einem gelungenen Haus für den Bundestag von Sir Norman Foster umgebaut und ist mit seiner begehbaren Kuppel ein weltweit beachtetes Symbol der gelungenen Verbindung von Geschichte und Gegenwart (vgl. über den Umbau Foster 2000).

Nirgends sonst als in Berlin sieht man so deutlich, dass zusammengewachsen ist, was zusammengehört (Willy Brandt). Wer nicht weiß, wo die Mauer verlief, kann es vielerorts kaum noch erahnen. Die alte Mitte mit dem großartigen Gendarmenmarkt und seinen Architekturen ist nun wieder ein Zentrum der Metropole. Wer die Museumsinsel vor der Vereinigung kannte und sie jetzt besucht, staunt über die gelungenen Renovierungen berühmter Bauten, wie das Alte Museum von Karl Friedrich Schinkel (1781– 1841), die Alte Nationalgalerie von Friedrich August Stüler oder das Bode-Museum.

6.3 Die Treuhandanstalt

Die Einrichtung und das Wirken der Treuhandanstalt werden im Osten wie im Westen der Republik nach wie vor sehr zwiespältig beurteilt. Zu ihrem Negativimage trug nicht zuletzt das Theaterstück »Wessis in Weimar« bei, das der bekannte Schriftsteller Rolf Hochhuth im Jahr 1993 auf die Bühne brachte. Dass es Fehlentscheidungen, Korruption und Glücksritter-Mentalität in größerem Ausmaß gab, kann beim Umfang der Aufgaben, die in kurzer Zeit zu bewältigen waren, kaum überraschen.

Die Gründung der Treuhandanstalt entsprang mehreren Motiven. Die DDR-Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow verfolgte seit Februar 1990 das Ziel, das Vermögen der Volkseigenen Betriebe (VEB) und sonstige DDR-Staatsvermögen auf die Bürger der DDR zu übertragen. Die Bundesregierung hingegen wollte so rasch wie möglich die Umwandlung der VEBe in private Gesellschaften ermöglichen, damit sich westdeutsche Unternehmen beteiligen konnten (vgl. Czada 1994).

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?