Der Geheimbund der 45

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Kapitel 5

Die Gründung und die Einweihung des neuen Benediktinerklosters in Ysinensi waren auf Wunsch des neu eingesetzten Abtes Manegold weitaus bescheidener ausgefallen als die Weihe der ersten Kirche vor nunmehr vierundfünfzig Jahren. Die Übernahme der Klosteranlage durch Benediktinermönche aus Altshausen, vornehmlich aber aus Hirsau, war gemäß den Regeln des kontemplativ ausgerichteten Ordens nach vorne gerichtet und nicht auf eine schnell vergängliche Völlerei reduziert. Denn jeder der Mönche musste im Laufe seines Ordenslebens mit »Ora et labora et lege« drei Gelübde ablegen, an die er sich stets zu halten hatte. Bete und arbeite und lies! Diese drei Vorgaben ließen wenig Zeit für profane Dinge. Anstatt die gelungene Klostergründung und den einzugsfertigen Klosterbau tagelang zu feiern, legten die Mönche innerhalb ihrer Mauern weitläufige Gärten an. Dazu sollte auch ein Kräutergarten nach der »capitularis de villis vel curtis imperii« gehören, der überlieferten »Landgüterverordnung« von Karl dem Großen höchstpersönlich.

Trotz der gottgefälligen Klosterübergabe hatte Manegold I. Graf von Altshausen-Veringen die Gelegenheit genutzt, dem Mair Hannes Eberz in einem eigenen kleinen Festakt den Titel »Herr« zu übertragen. Denn aus dem Sohn des Schwarzfischers und Wilddiebs war längst ein hoch angesehener Mann geworden, der sich durch seine herzliche und verbindende Art sowie durch seine ständig an den Tag gelegte Klugheit und Weitsicht den Respekt seines Grundherrn verdient hatte. Ihm war keine Arbeit zu viel, wenn es um die Belange seines geliebten Heimatdorfes und des Klosters ging. Um Ysinensi in eine gute Zukunft zu bringen, ließ er sich vom Klosterscholaster sogar Schreiben, Lesen und Rechnen beibringen. Außer dem Medicus, den es in Ysinensi mittlerweile gab, und dem Pfarrer war er außerhalb des Klosters der Einzige, der diese Künste bald beherrschen würde.

Der »Herr Dorfvorsteher«, wie Hannes Eberz mehr und mehr bezeichnet wurde, seine Dörfler, Abt Manegold und seine Mönche taten alles, um nicht nur das Kloster, sondern auch das Dorf weiter nach vorne zu bringen – ein fürwahr schwieriges Unterfangen für beide Seiten. Dennoch siedelten sich immer mehr Handwerker an, aber auch neu hinzugezogene Kaufleute sorgten dafür, dass die hier produzierten Waren den Weg in immer fernere Länder fanden. Von dort brachten die Händler orientalische Gewürze, Seidenstoffe und allerlei mehr oder weniger wichtigen Tand mit, um ihn im gesamten Allgäu, in Westschwaben und um das Mare Brigantium herum unter die Leute zu bringen. Die an Ysinensi vorbeiführende Handelsstraße leistete ihren Beitrag dazu, den Ort in jeder Hinsicht für auswärtige Menschen interessanter zu machen – so interessant sogar, dass sich zum Missfallen des Pfarrers inmitten der christlich geprägten Dorfgemeinschaft auch eine Gunstgewerblerin niederließ. Als er ihr einen Platz hinter der Metzig, weit abseits der Dorfmitte zuwies, wurde Hannes Eberz klar, dass er eine klare Struktur in die Gestaltung seines Dorfes bringen musste. Denn genau so, wie sich die Gunstgewerblerin – ohne den Dorfvorsteher zuvor um Genehmigung gefragt zu haben – mitten im Dorf hatte niederlassen wollen, fingen auch andere Siedler an, ihre Zelte einfach dort aufzuschlagen, wo sie es für richtig hielten. Dies ließ Hannes Eberz nicht zu und wies sie in die Schranken, indem er der Länge nach durch ganz Ysinensi im Abstand von zwanzig Fuß Pflöcke in den Boden rammen ließ, die als Markierung für die Hauptstraße dienten, an deren beiden Seiten er Händler mit den dazugehörenden Handwerksbetrieben ansiedeln lassen wollte. »Hinten spinnen, vorne Leinenstoffe unter die Leute bringen! Hinten schlachten, vorne Fleisch verkaufen! Hinten backen, vorne Brot anbieten!«, hatte er dem Grafen vorgeschlagen und dessen Zustimmung umso mehr erlangt, als er empfohlen hatte, dafür einen Bodenzins zu verlangen, von dem die Hälfte an den Grafen gehen sollte. »Die andere Hälfte aber fließt in meine Dorfkasse, damit ich Straßen und Plätze, Brunnen und Wasserläufe innerhalb des Dorfes anlegen lassen kann!«, hatte Hannes Eberz dem Grafen gegenüber mit einem schlitzohrigen Grinsen geäußert, während er ihm die Hand zur Besiegelung gereicht hatte.

Dabei hatte er schon klar im Kopf gehabt, dass hinter den vorderen Häusern Kleinviehzüchter, ein Huf- und Nagelschmied, ein Sattler, Töpfer und ähnliche Berufsgruppen Platz haben könnten. Um dies zu ermöglichen, würde er den dafür fälligen Bodenzins wesentlich niedriger ansetzen als in der vorderen Reihe.

Die Ersten, die von den weitreichenden Gedanken des Dorfvorstehers profitieren sollten, waren die beiden jüdischen Familien Bernstein und Reichmann, die man mit Sack und Pack aus Ulm vertrieben hatte, weil sie wegen ihrer zwar florierenden, aber undurchsichtigen Geldgeschäfte in Ungnade gefallen waren. Im Gegensatz zu vielen andern war es ihnen in der Wahrnehmung ihrer dortigen Mitbürger schlicht und ergreifend »zu gut« gegangen. Obwohl der Ulmer Magistrat die gesamten Besitztümer der Familien beschlagnahmt hatte, war den Bernsteins und den Reichmanns durch das verdiente Geld genug zur Verfügung gestanden, um in einer kleineren Siedlung ein neues Leben beginnen zu können – und dies sollte trotz aller Bescheidenheit ganz sicher nicht in der zweiten Reihe sein! Weil Anhänger des mosaischen Glaubens in Ysinensi bisher nahezu unbekannt gewesen waren, hatte der vorsichtige Dorfvorsteher lange gezögert, die vier Erwachsenen mit ihren insgesamt sieben Kindern in Ysinensi aufzunehmen.

»Wenn die nur keinen Ärger machen!«, hatte Hannes Eberz zwar zu seiner Frau gesagt, den Juden letztlich dennoch für gutes Geld die besten Grundstücke angeboten.

Im weitläufigen hügeligen Gebiet um Ysinensi herum konnte neben Dinkel und Hafer auch vermehrt Flachs angebaut werden. Denn nach der Aussaat der Leinsamen um den einhundertsten Tag des Jahres herum bot das Klima in dieser Ecke des Voralpenlandes die besten Voraussetzungen für eine gute Ernte. Die nicht allzu hohen Temperaturen und der regelmäßige Wechsel von Sonne und Regen ließen die Pflanzen vom Frühjahr an bis über den Sommer hinweg bestens gedeihen. Und die Betriebe, die den Flachs bis zum spinnreifen Garn brachten, waren im wasserreichen Umland untergebracht. Garnaufkäufer brachten den Stoff von den Flachsrifflern, -brechern und -hechlern auf den Markt von Ysinensi. Den Bleichern, Blaufärbern, vor allem aber den Webern würde in der wasserdurchflossenen Nordseite, der sogenannten »Wasservorstadt« von Ysinensi, genügend Platz zur Verfügung stehen, dachte sich Hannes Eberz. Es ärgerte ihn, dass er selbst zu wenig Ahnung von Dorfplanung hatte. »Aber der Anfang ist gemacht!«, hatte er zu seiner Frau Agathe gesagt, nachdem alle Pfähle eingerammt waren und er todmüde und hungrig nach Hause gekommen war. Nachdem sie ihm eine große Schüssel mit kräftigendem Haferschleim hingestellt hatte, war Hannes mit sich und der Welt doch irgendwie zufrieden. Denn in seinem Innersten wusste er, dass er das Richtige tat.

Und genau so war es auch: Gemeinsam mit den anderen alteingesessenen Bewohnern von Ysinensi und den neu Hinzugezogenen galten die Eberz in den Augen der Bevölkerung anderer Dörfer und Städte als Garant dafür, dass der Erfolg und das damit einhergehende pulsierende Leben in diesem Teil des Allgäus auch künftig gedeihen würden.

Um all das besser vor fremden Zugriffen schützen zu können, war der durchlässige Speltenzaun durch eine feste Palisadenumfriedung ersetzt worden, die der Dorfvorsteher zusammen mit einem Holzrücker aus Maierhöfen und dessen beiden Pferden mit schweren Toren bestückt hatte, die er – was es in Ysinensi noch nie gegeben hatte – die Nächte über mit jeweils zwei Wachposten besetzte.

Kapitel 6

All diese gottgefälligen Werke sollten drei weiteren »Männern der ersten Stunde« nicht viel nützen; denn noch während des Klosterbaus war der Bauleiter mitten auf der Baustelle mit einem Stein erschlagen worden. Weil der bullige Mann seine Männer stets mit der Knute angetrieben und kein einziges gutes Wort für sie übrig gehabt hatte, vermuteten die meisten Arbeiter, dass es einer der ihren gewesen sein könnte, dem die Schikanen des brutalen Mannes zu viel geworden waren. Aber weshalb hätte der ihm eine Zahl in die Stirn ritzen sollen? Weil niemand den Bauleiter gemocht hatte, wurde nach dessen Tod nicht viel über den Mord gesprochen. Im Grunde genommen waren alle froh darüber, den brutalen Speichellecker des Grafen ein für alle Mal losgeworden zu sein. Wegen der Begleitumstände vertraten allerdings die meisten Dörfler die These, dass der gemeine Anschlag auf den Bauleiter mit dem Amulett zusammenhängen musste – immerhin schrieben sie den Tod des früheren Mairs von villa Ysinensi, den Tod des Grafen Wolfrad II. von Altshausen und den von dessen Leibdiener ebenfalls diesem verdammten Amulett zu. Warum also sollte dies nicht wieder der Fall gewesen sein? Für diese These gab es nur den kleinen Anhaltspunkt, dass der Bauleiter lauthals geprahlt hatte, das Amulett des Grafen mit dessen Genehmigung schon öfter um seinen Hals getragen zu haben.

*

Vier Jahre nach der Einweihung des Klosters und dessen Übergabe an die Bruderschaft der Benediktiner hatte es einen zweiten unerklärlichen Vorfall gegeben: Manegold, der erste Abt des Klosters St. Georg, war unter äußerst merkwürdigen Umständen zu Tode gekommen: Weil ihn zwei Novizen mit zertrümmertem Schädel und gebrochenen Knochen direkt am linken Turm der Klosterkirche gefunden hatten, waren zunächst alle davon ausgegangen, dass sich der Abt selbst heruntergestürzt hatte. Ernsthaft geglaubt hatte dies allerdings niemand. Denn es hatte nicht das geringste Anzeichen dafür gegeben, dass Abt Manegold seines Lebens überdrüssig geworden war. Im Gegenteil: Unabhängig davon, dass ein Mensch, am allerwenigsten ein Diener Gottes, sich nicht selbst das Leben nehmen durfte, war der früher eher mundfaule und in sich gekehrte Klosterleiter mit dem Aufblühen seines Konvents aufgetaut und redselig geworden.

 

Normalerweise blieben Ungereimtheiten, merkwürdige Vorkommnisse oder unerklärliche Dinge stets innerhalb der Klostermauern. Weil die Brüder aber unerwartet ohne ihren Abt waren und dementsprechend hilflos um die schrecklich aussehende Leiche herumstanden, hatten sie den Dorfvorsteher informiert und ihn gebeten, die Sache von weltlicher Seite aus zu begutachten.

»Wie ist das passiert?«, interessierte Hannes Eberz als Erstes, während er seinen Blick kurz nach oben gleiten ließ, bevor er sich neben den Toten kniete und auf dessen entblößte Brust zeigte.

Keiner der um den Toten herumstehenden und ständig vor sich hin betenden Mönche hatte eine Antwort parat. Also blieb Eberz nichts anderes übrig, als sich darüber zu wundern, dass die Kutte des Abtes vorne vom Hals ab bis zum Bauch aufgerissen war. »Wo ist sein Brustkreuz? … Es ist nicht da?«, forschte er weiter, ohne nach dem Amulett zu fragen, das möglicherweise ebenfalls um den Hals des charismatischen Leiters des Konvents gehangen hatte.

Nachdem er außer Gebetsmurmeln nichts hörte, schrie er die Mönche an, um sie aus ihrer Starre zu lösen: »Dann sucht es!«

Die Klosterbrüder stoben rasch auseinander, um sich in der Zelle des Abtes und in dessen Arbeitszimmer nach dem Kreuz umzusehen.

Bis auf zwei Novizen, die bei ihrem toten Vorsteher blieben, um weiter für ihn zu beten, waren alle auf der Suche nach dem aus Kirschholz geschnitzten Kreuz.

»Macht weiter!«, trieb Eberz die Glaubensbrüder an, obwohl er wusste, dass er im Grunde genommen nicht dazu berechtigt war, ihnen Anweisungen zu geben. Es hatte nur funktioniert, weil die Mönche durch den grausamen Tod ihres Abtes nicht gewusst hatten, wo ihnen der Kopf gestanden hatte und sie völlig neben sich gewesen waren. Deswegen, und nur deswegen, hatten sie seinen Anweisungen Folge geleistet. Immerhin war er darauf gekommen, dass hier etwas nicht stimmen konnte.

Und tatsächlich; seine Beharrlichkeit sollte sich gelohnt haben: »Hierher!«, rief Matthias, einer der beiden Klosterpförtner, und winkte die anderen aufgeregt zu sich. »Ich habe das Pektorale gefunden!«

Dass das gesuchte Brustkreuz des Abtes etliche Fuß von ihm entfernt am Ast eines Apfelbaums gehangen hatte, wurde von Hannes Eberz so gewertet, dass es der Mörder dem bedauernswerten Opfer seiner Gewalttat aus dem obersten Fenster des linken der beiden kurzen Kirchtürme nachgeworfen haben musste. Wie sonst hätte es auf den Ast eines Baumes gelangen sollen, der in einiger Entfernung des Toten stand?

*

»Ein böses Omen!«, bemerkte der Graf ein paar Tage später, als er mit Hannes Eberz zusammensaß, um sich von ihm den Sachverhalt in allen Details erklären zu lassen.

»Wie meint Ihr das, edler Herr?«

Der Graf räusperte sich, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Weinglas und sagte, dass es seiner Meinung nach in Zusammenhang mit der Klostergründung noch einen weiteren Toten geben würde.

»Was sagt Ihr da?« Der Dorfvorsteher war entsetzt. »Wie kommt Ihr denn darauf?«

Weil Hannes Eberz hartnäckig eine Antwort forderte, sah ihn der Graf mit strengem Blick an. Dennoch öffnete er die obersten Schlaufen seines Wamses und seines Armkleides, um das Amulett hervorzuholen, das er dort Tag und Nacht vor den Augen anderer verbarg. Bis dahin war das Amulett in die Obhut des Abtes gelegt worden, der es vor Kurzem zurückgegeben hatte, weil er dieses »Teufelswerk« nicht innerhalb seines Klosters hatte haben wollen.

Als Eberz erkannte, was der Graf wie ein wertvolles Geschmeide in seiner Hand hielt, das es zu schützen galt, bekreuzigte er sich.

»Ich sehe, Ihr erinnert Euch noch daran!« Weil er den Mair von Ysinensi selbst in den Stand eines »Herrn« erhoben hatte, sprach er ihn auch dementsprechend respektvoll an, was für den Sohn einer einfachen Bauernfamilie immer noch ungewohnt war und sich nach wie vor befremdlich anfühlte.

Der Graf grübelte kurz, dann sagte er mit belegter Stimme, dass alles nur ein Trug gewesen war, wenn es keinen weiteren Toten geben würde. »Falls aber doch, wird das Morden so lange weitergehen, bis sich die in dem Amulett schlummernde Prophezeiung gänzlich erfüllt haben wird! … Achtet also gut auf Euch!«

»Und Ihr, gnädiger Herr, solltet ebenfalls gut auf Euch achten!«

*

Seit dem für das Kloster traurige Jahr 1100 und der Bestattung des Abtes Manegold im Kapitelhaus zur rechten Seite unterhalb des Chores waren vier weitere Jahre ins Land gegangen. Weil der Tod des Abtes zweifellos ein Mord gewesen war, die genauen Umstände aber nie richtig hatten aufgeklärt werden können, war die Schuld allein dem Amulett zugeschrieben worden. Zumindest die an fremde Mächte glaubenden Bewohner von Ysinensi und des Umlandes sahen dies so. Die belesenen Mönche von St. Georg hingegen betrachteten den Tod ihres Abtes nach wie vor lieber als Unfall, anstatt sich irgendeiner sowieso undurchschaubaren Wahrheit zu stellen. Dies ließ sie leichter damit umgehen und besser ihrer Arbeit nachgehen.

Landold, der neue Abt des Klosters St. Georg, tat vom ersten Tag seiner Nachfolge Manegolds alles dafür, um die Sache in Vergessenheit geraten zu lassen. Bei seinen Messen an den Tagen des Herrn predigte er unermüdlich gegen den vom Teufel geschickten Aberglauben, der die Seelen der Menschen vergiftete, während der feste Glaube an Gott Heil bringen würde. »Dies hier …«, rief er seinen Schäflein stets in zornigem Ton zu, wenn er sein über der Kasel hängendes Pektorale in die Hand nahm, küsste und ihnen entgegenstreckte, »… ist das Amulett Gottes, das euch dereinst Heil bringen wird!«

*

Weil der allseits beliebte Grundherr von Ysinensi glaubte, dass sich ihm der Inhalt der Ziffern auf dem Amulett erschlossen hatte, bangte er seit dem Tod des Abtes vor vier Jahren um sein eigenes Leben, das er allein schon deswegen gottesfürchtig führte, um das ersehnte Seelenheil zu erlangen. Obwohl er dem Kloster immer wieder Geld für Anbauten oder nötige Reparaturarbeiten stiftete, mochte das klösterliche Leben irgendwie nicht so richtig in Gang kommen, wie dies in anderen Klöstern der Fall war.

»Dies mag möglicherweise damit zu tun haben, dass sich die Lage im Süden meines Herrschaftsgebietes vielleicht doch nicht für einen kleinen Konvent eignet! Außerdem haben es die Klöster innerhalb oder im Umfeld größerer Städte in jeder Hinsicht leichter!«, hatte er anderen gegenüber nicht nur einmal bemerkt.

Dafür konnte Graf Manegold mit dem Dorf, in dem sich das Kloster befand, umso zufriedener sein. Hannes Eberz war es gelungen, das berufliche Erbe seines Großvaters weiter auszubauen und aus der ehemaligen Bauernsiedlung ein Handwerkerdorf zu formen, dessen Bewohner Abgaben entrichten konnten, ohne deswegen allzu sehr darben zu müssen. Zudem war es ihm gelungen, zu beiden Seiten der von ihm angelegten Hauptstraße die ersten Kaufleute anzusiedeln, die so betucht waren, dass sie es sich leisten konnten, ihre Häuser aus Stein zu bauen. Den beiden jüdischen Familien gelang dies ebenfalls.

Zudem hatte Hannes mit Agathe Burgerin ein braves Weib gefunden, das ihm im Laufe der Jahre drei Mädchen und fünf männliche Nachkommen geschenkt hatte, von denen allerdings zwei dem Kindstod erlegen waren. Trotz dieses von Gott gewollten Unglücks waren Hannes und Agathe ein im Grunde genommen glückliches Paar, das sich liebevoll um die Kinder und um die Kaninchenzucht kümmerte, für die bereits Hannes’ Vater in jungen Jahren den Grundstein gelegt hatte. Die Kinder mussten sich nicht nur um die Aufzucht junger Kaninchen kümmern, sondern auch sonst mit anpacken, wo es nötig war. Dennoch konnten sie ein solch schönes Leben führen, wie es sich der Nachwuchs der meisten hart arbeitenden Eltern nur wünschen konnte. Weil dies Agathes und Hannes’ wohlerzogenen Kindern bewusst war, dankten sie es durch unverrückbare Gottesfurcht, sowie durch Respekt ihren Eltern und allen anderen Menschen gegenüber. Gerade der kleine Peter bereitete seinen Eltern stets große Freude. »Aus dir wird dereinst etwas ganz Großes!«, hatte der Vater immer zu ihm gesagt, wenn »Peterle« unter Aufsicht die Einnahmen der Eltern zählen durfte und sich von Mal zu Mal immer weniger verrechnete. Während die anderen Buben handwerkliches Geschick vorweisen konnten, tat sich Peter im Umgang mit der Schrift, vor allen Dingen aber mit der Handhabung von Ziffern und Zahlen hervor.

»Ja!«, bestätigte auch die Mutter das unverkennbare Talent ihres jüngsten Sohnes. »Mit Peterle bekommen wir den ersten richtigen Kaufmann in die Familie!«

Nach einem rechtschaffenen Tagewerk fand Hannes Eberz stets einen liebevoll gedeckten Tisch vor. Wenn es auch nicht zur Prasserei reichte, konnte er seine Familie doch so ernähren, dass keiner von ihnen vom Fleisch zu fallen drohte. Anstatt sich Tag für Tag mit Kaninchenfleisch vollzufressen und dadurch faul und träge zu werden, hielten sie ihren eigenen Verzehr bewusst in Grenzen und verkauften ihre Zuchttiere ebenso wie die von Hannes abgezogenen und von Agathe gegerbten Felle der Tiere. Und damit ihre lieben Mitmenschen nicht auf dumme Gedanken kamen und selbst mit der Züchterei anfingen, verkauften sie die Kaninchen nur geschlachtet und zu bezahlbaren Preisen. Den ärmsten Familien des Dorfes schenkten sie zu Weihnachten und zu anderen kirchlichen Festtagen ein oder sogar zwei ihrer Tiere. »Gott wird es uns danken!«, pflegte Hannes dann immer zu Agathe zu sagen, die sich stolz auf ihren Mann an ihn schmiegte und ihm zuflüsterte, dass sie ihn über alle Maßen liebe.

Zusammen mit seinen Einkünften als Handwerker und seinem Salär als Mair gelang es Hannes, trotz der stetig zunehmenden Abgaben an den Grundherrn Monat für Monat etwas auf die hohe Kante zu legen. Da seine Frau Agathe einer Färberfamilie entstammte, hatten sie zu allem hin damit begonnen, Saat-Lein zur Gewinnung von Leinöl anzubauen. Weil die meisten anderen Ackerbauern von Ysinensi dieses Leingewächs nur wegen dessen Fasern züchteten, um daraus Stoffe zu weben oder weben zu lassen, verfolgten die geschäftstüchtigen Eberz auch diesbezüglich gleich mehrere Ziele: Während die beiden ältesten Söhne Johannes und Elias sich um den Anbau kümmerten, verarbeiteten die beiden ältesten Töchter Maria und Lisa den Flachs gekonnt zu Stoffen, die dann von der Mutter mit Hilfe der kleineren Geschwister gewalkt, gebleicht und kunstvoll gefärbt wurden. Das Familienoberhaupt presste das Öl, füllte es in quartgroße Behälter ab und sorgte für den Vertrieb der gesamten Produktion, die sich – ebenso wie die Kaninchenzucht – weiß Gott sehen lassen konnte. So war es kein Wunder, dass die Interessenten auch aus den umliegenden Siedlungen und Dörfern nach Ysinensi kamen, um bei den Eberz einzukaufen.

Also konnte Hannes zufrieden sein, … sollte man meinen. Aber wie dem Grafen ging ihm die Prophezeiung, dass wegen des Amuletts ein weiterer Mensch sterben musste, nicht aus dem Kopf.

Vier Jahre nach dem Tod des Abts wurde seine Furcht schwächer. Was sollte noch passieren?, dachte er sich inzwischen. Da erfuhr der Familienvater, dass der Graf tot war. Nachdem er gehört hatte, dass das Amulett verschwunden sei, bekreuzigte er sich ein zweites Mal. Dann zog er sich zum Gebet zurück – er musste nachdenken. In der Stille des Gotteshauses kam der umsichtige Dorfvorsteher zu dem Entschluss, nichts über die Umstände, die zum Tod seines geliebten Herrn geführt hatten, wissen zu wollen. Um auch keine neuerliche Unruhe unter die Bevölkerung von Ysinensi zu bringen, ritt er noch am selben Tag auf seinem eigenen Pferd nach Altshausen, um die Hinterbliebenen des Grafen zu bitten, niemandem etwas darüber zu erzählen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sein persönliches Bedauern, das Beileid seiner Familie und das der gesamten Bevölkerung von Ysinensi übermitteln. Zwei gute Gründe, um dorthin zu reiten, dachte er sich, als er seinem Rappen die Hacken gab.

Wenngleich Hannes Eberz von nun an zwar kein völlig sorgenfreies, dafür aber ein angstfreies Leben führen konnte, verging kein Tag, an dem er nicht an die verhängnisvolle Zahl Drei dachte.