Der Geheimbund der 45

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Marktrecht bringt Aufschwung … und das geheimnisvolle Amulett …

Bis Anno Domini 1171

Die magische Zahl IV

Kapitel 7

Seit dem Tod des ersten Großmeisters des vor einhundertsiebzig Jahren in Konstanz gegründeten Geheimbundes »Gladius Dei« waren es die Mitglieder gewohnt, von Zeit zu Zeit hinter dem Amulett herjagen zu müssen, das – als wenn es der Teufel wollte – immer wieder verschwand, um dann doch wieder irgendwo aufzutauchen. Und jedes Mal, wenn es gefunden worden war, hatte es Tote gegeben. Bisher hatte die Prophezeiung des ersten Großmeisters sechs Opfer gefordert: zum einen Gerold Eberz, den Mair von villa Ysinensi, der das Amulett bei seiner Ermordung aber nicht bei sich getragen hatte, weil er es dem neuen Pfarrer von villa Ysinensi in die Tasche gesteckt hatte. Aber dies hatte der Mörder nicht mitbekommen, obwohl er vor Ort gewesen war. Eberz waren Wolfrad II. Graf von Altshausen und dessen treu ergebener Leibdiener gefolgt. Dann hatte es den Baumeister des Klosters getroffen, weil einer der fünfundvierzig Geheimbündler gehört hatte, dass er das Amulett um den Hals tragen würde, … was aber zumindest zum Zeitpunkt seiner Ermordung nicht der Fall gewesen war.

Weil der Geheimbund erfahren hatte, dass das Amulett vom Grafen Manegold I. zumindest zeitweise an den ersten Abt des Klosters, der ebenfalls Manegold geheißen hatte, weitergereicht worden war, hatte einer der Verschwörer den Klosterleiter sinnlos aus dem obersten Fenster des linken Kirchturms gestoßen. Schließlich war der betreffende Geheimbündler doch noch fündig geworden und hatte dem adeligen Träger das Amulett abgenommen.

Die Verwandten des Grafen hatten die Umstände, die zu Manegolds Tod geführt hatten, nach außen hin geheim gehalten. Dies hätten sie auch ohne den ausdrücklichen Wunsch des Dorfvorstehers von villa Ysinensi getan. Denn wie hätten sie der Öffentlichkeit einigermaßen plausibel erklären sollen, dass man ihrem als gottesfürchtig bekannten Herrn während eines Spaziergangs in seinem eigenen Park mit einem Schwert so fest durchs Herz gestoßen hatte, dass die offensichtlich zweischneidige schmale und lange Klinge hinten ausgetreten war? Aber dies war noch längst nicht alles gewesen; zu allem Übel hin hatte der Mörder – wie zuvor schon den anderen Ermordeten – eine von einem Quadrat umschlossene Zahl in die Stirn des Toten geritzt. Dieses Mal war es die Drei gewesen.

Für die fünfundvierzig »Auserwählten« war es nach siebenundsechzig Jahren des Verschwindens ein unbeschreibliches Glücksgefühl gewesen, das Amulett wieder im Besitz ihres Großmeisters zu wissen. Daraufhin hatte das Amulett über zwei Generationen hinweg den Großmeistern als äußeres Zeichen ihres Bundes gedient und war bei den geheimen Zusammenkünften von jedem einzelnen Mitglied ehrfurchtsvoll geküsst worden – eine Neuerung des vorangegangenen Großmeisters. Immer, wenn es verschwunden und wieder aufgefunden worden war, hatten diejenigen Menschen, die mit ihm zu tun gehabt hatten, dem Tod ins Auge sehen müssen. Das Verschwinden, das Wiederfinden, die Toten und die damit einhergehenden Rituale hatten den ideellen Wert dieses materiell völlig wertlosen Amuletts im Laufe von siebzehn Jahrzehnten immens gesteigert. Jedes Mal hatte sich der aktuelle Großmeister einen neuen Ritus einfallen lassen, um sich hervorzutun und seinen Status als uneingeschränkter Führer dieses radikalen Zirkels zu sichern. Denn der Verlust des Amuletts – und war er auch nur vorübergehend gewesen – hatte stets an der Reputation des jeweiligen Großmeisters genagt. Und weil innerhalb ihres Geheimbundes längst ein versteckter, aber immer wiederkehrender Machtkampf um die Position des Großmeisters begonnen hatte, waren die vierundvierzig gemeinen Mitglieder noch gefährlicher geworden, als sie dies am Tag ihrer ersten Zusammenkunft vor einhundertsiebzig Jahren schon gewesen waren.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Identität eines Großmeisters oder eines seiner vierundvierzig Handlanger bekannt würde. Dies würde gleichzeitig heißen, dass auf einen Schlag neununddreißig weitere unschuldige Männer ihr Leben lassen müssten, damit der Geheimbund korrekt nach den Statuten des ersten Großmeisters aufgelöst werden konnte. Denn erst – so die Prophezeiung des Großmeisters bei der Gründungsversammlung im Konstanzer Dom – wenn so viele Menschen getötet wurden, wie die Addition der neun Zahlen auf dem Amulett ergab, konnte sich der geheime Zirkel ins Nichts auflösen … oder sich ganz neu formieren. Ob dies – wenn es tatsächlich so weit kommen würde – ohne weiteres Aufsehen und möglicherweise sogar ohne das Aufdecken der Identität seiner Mitglieder vonstattengehen würde, stand allerdings in den Sternen.

Kapitel 8

Hannes Eberz war stolz auf seinen jüngsten Sohn Peter gewesen, obwohl der ihm nicht ins Amt des Mairs gefolgt war. Dafür war aus Peter genau das geworden, was seine Eltern schon immer geahnt hatten; ein erfolgreicher Kaufmann!

Hannes hatte den Aufstieg seines Sohnes nicht mehr ganz miterleben dürfen, weil er einem Geschwür im Kopf erlegen war. Bis zu seinem langwierigen und schmerzhaften Tod hatte der alt gewordene Mann tagtäglich die magisch auf ihn wirkende Zahl Drei im Kopf gehabt und nicht mehr herausbekommen, sosehr er dies auch versucht hatte. Dies war sogar so weit gegangen, dass ihn immer stärkere Kopfschmerzen geplagt hatten, die am Schluss überhaupt nicht mehr gewichen waren. Deswegen hatte er den als Schwätzer bekannten Dorfmedicus aufgesucht, den er ansonsten gemieden hatte. Nachdem er dem Arzt auf Nachfrage erzählt hatte, was ihn dermaßen plagte, dass er sich endlich einmal zu ihm getraut hatte, war anstatt eines hilfreichen Rates nur die neunmalkluge Antwort zurückgekommen: »Omne trinum perfectum!«, was nichts anderes geheißen hatte als »Aller guten Dinge sind drei!«

Von diesem Tag an hatte Hannes nur noch schlaflose Nächte und eine solche Heidenangst vor dem Tod gehabt, dass er irgendwann gänzlich der Narretei verfallen war. Ein unrühmliches Ende für einen einst schneidigen und von allen respektierten Mann, der für seine Familie, für das Kloster und für sein Heimatdorf Ysinensi so viel getan hatte wie keiner zuvor. Seine Frau Agathe war zwei Jahre zuvor eines natürlichen Todes gestorben und hatte den Verfall ihres Mannes nicht mehr miterleben müssen. Was aber beide noch mitbekommen und Hannes zumindest in früheren Jahren aktiv vorangetrieben und mitgestaltet hatte, war das systematische Anlegen einer breiten Durchgangsstraße, die sich vom höher gelegenen südlichen Teil in Richtung Norden durch das ganze Dorf hinunterzog und selbst für Ochsenkarren und Kutschen breit genug war. Davon ausgehend – so Hannes’ damalige Gedanken – konnten bei zunehmendem Bedarf an beiden Seiten Gassen angelegt werden, die zwischen den Behausungen zu mehreren Stellen führten, die als Fest- und Versammlungsplätze genutzt werden konnten. Gleichzeitig sollte dort Handel getrieben werden. Die Vision des weitsichtigen Dorfvorstehers war es gewesen, in Ysinensi verschiedene Märkte fest anzusiedeln und das Dorf künftig nicht immer wieder neu einzuteilen.

»Vielleicht wäre eine breite Querstraße in der Mitte des Dorfes gar nicht schlecht?«, hatte Hannes den anderen Männern von Ysinensi gegenüber verlauten lassen, wegen der damit verbundenen zusätzlichen Arbeit aber eine Abfuhr erhalten. Dann in Gottes Namen zu einem späteren Zeitpunkt, hatte er sich gedacht und das Projekt so lange vor sich hergeschoben, bis er es nicht mehr hatte realisieren können.

Dennoch hatte er bis zum Ausbruch seiner schrecklichen Krankheit Nacht für Nacht daran gedacht und davon geträumt, wie schön es doch wäre, wenn es einen eigenen Vieh- und Rossmarkt gäbe, dessen Gestank sich nicht mit dem herbalen Geruch von Gemüse und dem süßen Duft von Obst vermischen musste, während Schmalz, Stoffe, Hausrat und Tand an anderen Stellen feilgeboten wurden.

Unter seiner Ägide war auch die innerdörfliche Wasserversorgung verbessert worden. Hannes’ Visionen waren sogar so weit gegangen, mit dem Bau einer Stadtmauer aus Stein zu beginnen. »Wenn dies vermutlich auch ein Bauwerk über Generationen werden wird, muss einmal damit angefangen werden. Ravensburg, Wangen und andere Dörfer verfügen schon längst über einen steinernen Schutzwall, der ihnen Sicherheit gibt!«, hatte er vor vielen Jahren bei einer Zusammenkunft aller Männer des Dorfes gesagt, sich wegen der bevorstehenden Arbeit aber ebenfalls nur Häme, Pfiffe und sogar persönliche Beleidigungen eingehandelt. Mit dem Bau der ersten Mauer um Ysinensi herum hatte er gegen alle Widerstände hinweg trotzdem beginnen lassen und sich neben seiner eigentlichen Arbeit auch selbst den Rücken für die Allgemeinheit krumm geschuftet. Dennoch waren zu seinem Begräbnis nur wenige Bürger erschienen. Die Menschen hatten Angst vor Geisteskrankheiten und fürchteten sich davor, sich damit anzustecken. Dies hatte ihnen der selbst närrische Dorfmedicus eingeredet, weil er mit dem Mair zeitlebens zu wenig Geschäfte hatte machen können. Hannes Eberz war einfach zu robust gewesen, um wegen jeder Kleinigkeit den Medicus zu bemühen. Dementsprechend hatte er ihn im Laufe seines Lebens nur dreimal aufgesucht.

*

Obwohl im Herzogtum Schwaben ein jahrelanger Krieg zwischen den mächtigen Welfen und den Staufern getobt hatte, entwickelte sich Ysinensi weiterhin prächtig. Dass vor vier Jahren der einzige Sohn des sechsten Welfen beim Machtkampf mit dem Papst in den italienischen Landen an einer Seuche verstorben war, weswegen Welf VI. sein Erbe an seinen Neffen und ehemaligen Gegner Friedrich Barbarossa I. übergeben hatte, war dank der guten Handelsbeziehungen sogar bis ins Allgäu gedrungen. Dass das Welfenerbe als Reichsgut an den Kaiser gegangen war, veränderte so nach und nach das Leben im Herzogtum und im angrenzenden Bayern sowie in Schwaben. So war auch in Ysinensi die Zeit nicht stehen geblieben.

 

Weil den Verantwortlichen längst klar geworden war, was die Stunde geschlagen hatte, setzten sie sich im Refektorium des Klosters an einen Tisch und beschlossen eine Art Stadtgründung, indem sie den Gepflogenheiten ihrer Zeit folgend nach einem geometrischen Plan vorgehen wollten. Um das bisher Erreichte, im Grunde genommen aber immer nur von Laienhand Gefertigte auf fachkundigere Beine zu stellen, hatte Graf Wolfrad seine besten Baumeister aus Altshausen und Trauchburg sowie einen Mathematiker aus Tettnang zu dieser Besprechung mitgebracht. Um die Wichtigkeit seines Anliegens zu dokumentieren, hatte er sogar einen Astronomen aus Tübingen dazugebeten.

»Seit dreizehn Jahren verfolgt Heinrich der Löwe den Plan, das bayerische Salz aus Reichenhall nach Westen zu exportieren. Er plant eine Salzstraße über Wasserburg, München, Landsberg, Memmingen, Lindau, Schaffhausen und weiter nach Baden, Zürich und vielleicht sogar nach Basel! Und dabei müssen die Salzroder auch an Ysinensi vorbei …«

»Oder besser noch«, begann Marquard, der derzeit amtierende Abt von St. Georg, das, was Graf Wolfrad gesagt hatte, zu ergänzen. Bevor er seinen Satz vervollständigte, lachte er triumphierend auf. »… mitten durch Ysinensi hindurch!«

»Ja!«, bestätigte einer von Hannes Eberz’ Nachfolgern und setzte forsch drauf: »Wir müssen in jeder Hinsicht wachsam sein, um das Stapelrecht zu bekommen!« Der neue Mair von Ysinensi schien wie die meisten seiner Vorgänger ebenfalls ein vernünftiger Mann zu sein.

»Ihr wollt das Stapelrecht für Ysinensi?«, freute sich der Graf und sagte den anderen zu, alles dafür zu tun, um die Salzfuhrwerker zu verpflichten, in Ysinensi Station zu machen. »Weil wir noch kein offizielles Stadtrecht besitzen, kann ich nichts versprechen«, gab er zu bedenken, strahlte aber gleichzeitig die Hoffnung aus, es noch in diesem Jahr irgendwie hinzubekommen, dass Ysinensi von durchziehenden Kaufleuten verlangen dürfe, ihre Waren für einen noch zu bestimmenden Zeitraum auf dem Stapelplatz abzuladen und hier in Ysinensi den Kaufinteressierten anzubieten. »Sie könnten dann durch das Wassertor und das Viehtor zum Marktplatz gelangen!«

Weil seine Zuhörer zwar skeptisch waren, das begehrte »Stapelrecht« tatsächlich zu bekommen, aber dennoch zufrieden mit den Planungen ihres Grundherren, herrschte im Refektorium Aufbruchsstimmung.

*

Wie erfreut wären die Vorgänger des amtierenden Mairs gewesen, wenn sie es hätten miterleben dürfen, dass Ysinensi das begehrte Stapelrecht tatsächlich noch im selben Jahr erhalten hatte. Und wie stolz wären sie erst gewesen, wenn sie mitbekommen hätten, wie die mächtigen Welfen und der bayerische Herzog Heinrich der Löwe Ysinensi auch noch das Marktrecht verliehen hatten. Denn lange bevor Ysinensi diese Privilegien offiziell erhalten hatte, war von ihnen der Grundstein für den weiteren Ausbau zu einem bedeutenden Handelsstützpunkt gelegt worden. Ysinensi, das aufstrebende Allgäuer Dorf am Rande des westlichen Schwabens, hatte nicht nur das Stapelrecht, sondern durfte sich zudem auch noch als Markt bezeichnen. Und damit gingen einige gewinnversprechende Rechte einher, aber auch Verpflichtungen. Eine davon war, bei Wochen- und Jahrmärkten den sogenannten »Königsfrieden« zu wahren. Dabei standen sowohl die Händler als auch die Besucher unter dem Schutz der marktführenden Stadt, also des jeweiligen Mairs. Streitigkeiten wurden stets vor Ort ohne den Formalismus des Landesrechts entschieden. Denn der Marktherr musste die uneingeschränkte Freiheit des Handelsverkehrs sowie die Sicherheit der Straßen und Wege garantieren. Außerdem hatte er dafür zu sorgen, den Handel durch den Umlauf von Münzen zu erleichtern. Dafür durfte er von den Verkäufern einen Marktzoll einfordern. Außerdem hatte der Marktleiter dafür zu sorgen, dass die örtliche Kaufmannschaft vor Konkurrenz geschützt wurde – eine nicht immer leichte Aufgabe, die den künftigen Dorfvorstehern und Bürgermeistern von Ysinensi zunehmend Sorgen bereite würde.

Hannes Eberz hatte auch nicht mehr miterleben dürfen, wie die Dorfkasse durch den zunehmenden Wohlstand der Kaufleute und somit auch der Handwerker und Bauern ebenso gefüllt wurde wie durch Steuern, Ungelder und Zölle, die nun auch von reisenden Händlern entrichtet werden mussten. Wenn auch das meiste davon an den Grundherrn und von dort aus noch weiter geleitet werden musste, blieb für Ysinensi immer noch so viel übrig, dass die Dorfentwicklung weiter vorangetrieben werden konnte. Dennoch ärgerte es die Menschen, dass die Abgaben »nach oben hin« immer höher stiegen.

»Früher hat es geheißen ›Der Graf nimmt’s, der Graf gibt’s‹. Heute nimmt er nur noch!«, schimpften die Leute und hofften inbrünstig, dass sich dies irgendwann ändern würde.

*

Seit dem Tod des Dorfvorstehers Hannes Eberz hatte sich innerhalb der Familie viel verändert. Nicht nur aus seinem Sohn Peter war ein erfolgreicher Kaufmann geworden, auch all dessen Geschwister waren aufgestiegen. Und deren Kinder und Kindeskinder befanden sich ebenfalls schon auf bestem Weg, es zu etwas zu bringen. Insbesondere Peters zweitältester Enkel Godehard bereitete der Familie viel Freude, weil er wie sein Großvater hervorragend mit Zahlen umzugehen wusste. Aber auch Peters ältester Enkel Paul schien ein kluger Knabe zu sein. Allerdings hatte die Art und Weise, wie Paul in seiner Kindheit mit seiner Begabung umgegangen war, die Eltern zutiefst verunsichert. Denn Paul hatte schon als sechsjähriger Knabe Fröschen Strohhalme in den Hintern gesteckt, um sie aufzublasen – damit hatte er sie beileibe nicht quälen, sondern lediglich in Erfahrung bringen wollen, ob mit Luft gefüllte Frösche tauchen konnten. Als er später Ratten gefangen und bereits tote Katzen oder andere Tiere aufgeschnitten hatte, um zu sehen, was sich im Inneren von deren Bäuchen befand, war Pauls Eltern nicht nur einmal übel geworden. Sie hatten sich große Sorgen darüber gemacht, dass ihr Sohn der Narretei verfallen sein könnte, und ihn nach jeder Verfehlung so lange eingesperrt, bis Paul hoch und heilig Besserung gelobt hatte. Aber Pauls Schwüre hatten nie lange gehalten. Beim letzten Mal hatte ihn die Mutter erwischt, wie er den vom Fell befreiten Schädel eines toten Hundes an einen Strick gebunden hatte, um ihn im Stadtbach zu versenken, damit die Fische den Rest erledigen würden. »Ich wollte doch nur sehen, wie Hundekiefer funktionieren, weil die so fest zubeißen können!«, hatte der zu einem beachtlichen Burschen herangereifte Paul zu seiner neuerlichen Entschuldigung gesagt … und war wieder eingesperrt worden.

*

Von alledem hatte Peters Berufskollege und Freund Melchior Habisreitinger nichts gewusst. Er hatte nur mitbekommen, dass Paul ein überaus kluger Knabe war, aus dem unbedingt ein Studiosus werden musste. »… Arithmetik vielleicht?«, hatte Melchior vorgeschlagen und ergänzt, dass Rechnen schließlich die Grundlage für den Erfolg eines guten Kaufmannes sei. »Was würdest du davon halten, wenn ich deinen von Gott gewollt klugen Enkel bei meiner nächsten Handelsreise in die italienischen Lande mitnehme, damit er dort ein Studiosus werden kann?«, hatte Melchior seinen verdutzt dreinschauenden Freund gefragt, weil er dessen Leid nicht mehr hatte mit ansehen können. Peters Frau Elsebeth war vor einem Jahr den Folgen eines Arbeitsunfalles erlegen. Zu allem hin waren kurz darauf auch noch sein Sohn und seine Schwiegertochter an der Roten Ruhr verstorben, einer der vielen unerklärlichen Epidemien, die über das Land hinweggefegt waren wie ein Totenheer und auch in Ysinensi etliche Opfer gefordert hatten.

Um den Kraftakt zu schaffen, die alleinige Erziehung seiner Kinder und seiner Enkelkinder mit dem Geschäft unter einen Hut zu bekommen, hatte der gutmütige und gottesfürchtige Peter eine Haushälterin nehmen müssen, die viel Geld gekostet hatte – von der Amme für seine kleinste Enkeltochter ganz zu schweigen. Er hatte das zweifelhafte Glück gehabt, dass das neugeborene Kind einer Nachbarin dem Kindstod zum Opfer gefallen war, weswegen sie Milch gehabt hatte, die sie Peters kleiner Enkelin gegen gutes Geld hatte zur Verfügung stellen können.

Trotz des schweren Herzens bei dem Gedanken, seinen Enkel Paul vielleicht nie mehr wiederzusehen, hatte der fürsorgliche Großvater erwogen, um des Kindeswohls willen auf Melchiors Vorschlag einzugehen.

»Glaub mir, Peter, das ist das Beste für den Knaben!«, hatte der in Reisen erfahrene Kaufmann mehrmals gesagt und dazu immer wieder bemerkt, dass er freundschaftshalber auf das Kostgeld für Paul während der wochenlangen Reise in die italienischen Lande verzichten würde. »Und du hast dann einen Esser weniger zu Hause!«

Peter hatte die Wangen aufgebläht und fest Luft ausgestoßen, bevor er zustimmend genickt und in resigniertem Ton bemerkt hatte, dass er dann immer noch sechs Mäuler zu stopfen habe.

Ein knappes Jahr später war es dann zum schmerzlichen Abschied gekommen. Während Paul mit »Onkel Melchior« mitgegangen war, ohne eine einzige Träne vergossen zu haben, hatten sich seine Geschwister und der Rest der Familie die Augen ausgeheult.

Kapitel 9

Dass sich der Geheimbund »Gladius Dei« im Laufe der Jahre zunehmend radikalisiert hatte und längst mit sich selbst genauso gnadenlos umging wie mit denjenigen, die mit dem Verschwinden des Amuletts in Zusammenhang gebracht werden konnten, sollte sich an diesem regnerischen Novembertag auf grausame Art und Weise zeigen.

Wie immer bei ihren Zusammenkünften verneigten sich die Mitglieder beim Betreten des sakral wirkenden Raumes vor ihrem Großmeister und küssten das um seinen Hals hängende Amulett. Dann erst durften sie auf das etwa vierundzwanzig Fuß große illuminierte Quadrat inmitten des großen Kreuzgewölberaumes zugehen, dessen äußere Umrandung durch ein Feuerkarree gekennzeichnet war. Bevor sie dann über das nur eine Handbreit hohe Feuer hinweg auf das der inneren neun Quadrate treten durften, auf das sie gemäß der ihnen zugewiesenen Ziffer gehörten, mussten sie traditionsgemäß die Arme nach oben strecken und allen vor ihnen angekommenen Verschwörern mit den Fingern ihre Zahl anzeigen. Erst nach einmütigem Nicken der anderen, das von einem wohlwollenden Grummeln begleitet wurde, war ihnen der Zutritt erlaubt.

Während die neun etwa acht Fuß großen Vierecke innerhalb des großen Quadrates früher mit Kreide auf den Boden gemalt worden waren, weil die Verschwörer ihren Versammlungsraum ständig hatten wechseln müssen, hatte sich dies mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Großmeister Hubertus von Hohenfels geändert. Denn der Ministeriale der Bischöfe von Konstanz hatte die Trennlinien auf dem Steinboden aufwändig mit blutroten Mosaiksteinchen belegen lassen. Als äußere Umrandung diente eine fingerdicke und fast handtiefe Bodenrinne, in die brennbares Öl geschüttet werden konnte.

*

Als die vierundvierzig Verschwörer vollzählig waren und alle in ihren Quadraten standen, wurde es so still, dass nur noch das Quietschen von Ratten und das Tropfen von Schwitzwasser zu hören waren. Die Männer wunderten sich darüber, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu beiden Seiten eines Großmeisters je zwei Gestalten standen, die ebenso gewandet waren wie sie selbst. Denn bisher waren es immer genau vierundvierzig Männer gewesen, die sich zusammengefunden hatten, um in Einzelgesprächen mit dem jeweiligen Großmeister zu klären, was getan werden musste, wie es weiterging und wie sie ihre Ziele, den Fortschritt der Wissenschaften und der Erforschung des menschlichen Inneren, weiter voranbringen konnten.

Aus gegebenem Anlass war die Stimmung an diesem ohnehin tristen Tag so bedrückt wie dies bisher nur selten bei den Versammlungen der Fall gewesen war. Die Verschwörer wussten, dass etwas auf sie zukommen würde. Dabei konnten sie aber nicht im Geringsten erahnen, was gleich passieren würde.

Der neue Großmeister erhob sich aus seinem thronartigen Sessel und ging gemäßigten Schrittes zum Altar ihres neuen Versammlungsraumes, der sich in einem geheimen Kreuzgewölbekeller der Burg Hohenfels auf einer Spornkuppe nordwestlich von Sipplingen befand. Zornig knallte er ein dickes ledergebundenes Buch mit zwei wuchtigen Messingverschlüssen auf den Altar. Dann legte er – was so gar nicht zu dieser bedrückenden, ja sogar beängstigend anmutenden Situation passen mochte – ganz sanft eine Handfläche auf den Einband und begrüßte seine Mitverschwörer, die darauf warteten, was ihnen der von seinem Vorgänger designierte und erst vor Kurzem von ihnen bestätigte Großmeister zu sagen hatte. Es brach mit voller Gewalt über sie herein: »Dies hier ist die Chronik, die unser Gründungs-Großmeister im Jahre des Herrn 1001 angelegt hat, um die Mitglieder unseres geheimen Zirkels über Generationen hinweg wissen zu lassen, was sie erreicht haben und …«, bevor er weitersprach, schüttelte er sein Haupt unter der Kapuze, was dem Auditorium nichts Gutes verhieß, »… wann sie versagt haben!«

 

Nachdem er dies gesagt hatte, füllte ein dumpfes Gemurmel den Saal.

»Und sie haben versagt! Wir haben versagt!«, schrie er so laut, dass es von den feuchten Wänden zurückhallte, während er gleichzeitig auf das rechte Quadrat in der vorderen Reihe zeigte und damit die vier Männer in Unruhe versetzte, die darin standen.

Der Großmeister ließ ihnen nicht viel Zeit, um sich Gedanken darüber machen zu können, was nun mit ihnen geschehen würde: »Dank des kürzlich verstorbenen Großmeisters hat unser geheimer Bund zum ersten Mal in seiner einhundertsiebzigjährigen Geschichte einen festen Versammlungsraum, von dem außer uns niemand etwas weiß! Dafür kennt ihr jetzt erstmals den Namen eines toten Großmeisters! Dies kann zu einer Katastrophe führen! Denn wenn bekannt werden sollte, dass der verstorbene Burgherr, Hubertus von Hohenfels, der Großmeister unseres geheimen Bundes gewesen ist und dass er uns diesen geheimen Raum – wie er es hier in diesem Buch schriftlich bestätigt hat – ›für alle Zeiten‹ zur Verfügung stellt, sind wir und unser Bund dem Tode geweiht! Denn das was wir tun, ist bei Todesstrafe verboten!«

Er zeigte auf seine Mitverschwörer und sagte in nunmehr leisem Ton: »Ihr alle wisst jetzt davon! Und dass es so weit kommen konnte, haben wir vieren von euch zu verdanken!«

Als sie dies hörten, wurden die vier Männer noch unruhiger, als sie ohnehin schon waren.

»An euch wäre es gelegen, unserem schwerkranken Großmeister das Amulett abzunehmen, bevor dessen Verwandte merken konnten, dass er einem geheimen Zirkel vorstand! Obwohl ihr gewusst habt, dass Hubertus von Hohenfels in absehbarer Zeit sterben wird, habt ihr so lange gesäumt, bis sein Sohn ihm das Amulett abgenommen hat. Ihr alle wisst, dass es gemäß der Prophezeiung unseres ersten Großmeisters bei einem neuerlichen Verschwinden des Amuletts vier Sühnetote geben muss!«

Der Großmeister hielt inne, bevor er die Versager anschrie und ihnen deutlich machte, dass das Amulett als verschwunden gewertet werden musste, weil es nicht mehr im Besitz des Großmeisters gewesen war, … auch wenn es die Burg wahrscheinlich nicht verlassen hatte.

»Nur gut, dass es ein anderer von uns dem jungen Hohenfelser unbemerkt stehlen konnte. Wie ich aber gehört habe, hat der junge Herr die Motive auf dem Amulett abgezeichnet, um sie sich von einem Mystiker deuten zu lassen. Und allein schon deshalb, weil wir diese Zeichnungen nicht gefunden haben, leben wir ab sofort in ständiger Gefahr, enttarnt zu werden! Normalerweise müsste der junge Herr für den kurzzeitigen Besitz des Amuletts sterben. Weil aber sein Vater unser Großmeister gewesen ist und uns diesen wunderschönen Raum zusammen mit dem geheimen Pfad hierher und einem nicht entdeckbaren Einlass geschenkt hat, werden wir ihm nichts antun! … Außerdem dürfen wir kein Aufsehen in der Burg erregen!«

Der Großmeister hielt wieder inne. Dann sagte er, dass der Prophezeiung dennoch Genüge getan werden müsse, was hieß, dass vier Menschen ihr Leben lassen mussten.

Von diesem Moment an war den Männern im rechten vorderen Quadrat klar, dass sie sterben würden.

»Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«, mochte der Großmeister wissen, um die vier aus der Reserve zu locken und sie zum Sprechen zu bringen. Denn sollten sie dies tun, würden sie zu allem hin auch noch gegen das Schweigegelübde des »Gladius Dei« verstoßen.

Und dies taten sie auch. In ihrer Todesangst sprudelte es aus den Beschuldigten nur so heraus. Mit erhobener Hand gebot der Großmeister den Ausreden der vier Todgeweihten Einhalt, indem er mahnte: »Habt ihr vergessen, dass ihr ein Schweigegelübde abgelegt habt?«

Nun wussten die vier, dass sie auf die Finte des gerissenen Mannes hereingefallen waren und er sie nun mit Recht töten lassen durfte. Da half weder das gotterbärmliche Flehen, noch das Ziehen ihrer Schwerter. Auf Geheiß des Großmeisters traten acht andere Verschwörer aus ihren Quadraten und hielten die vier fest.

»Ich habe hier vier neue Mitglieder, die euch ersetzen werden! Aber seid unbesorgt; nach eurem Tod werdet ihr der Wissenschaft dienen!«

Dann ging alles ganz schnell und die vier lagen tot in ihrem Quadrat.

»Erde, Feuer, Luft und Wasser!«, rief der Großmeister und ergänzte in beschwörendem Ton, dass die Vier ebenso eine zeitliche Orientierungs- und Ordnungszahl sei, wie der Mondlauf aus vier Phasen bestehen würde. »Dem Protokoll ist Genüge getan, also muss die Prophezeiung noch nicht erfüllt werden!«, rief der Großmeister den anderen zu, die zum Zeichen dafür, weiterhin für ihre Sache kämpfen zu wollen, ihre Schwerter zogen und nach oben reckten. »Und nun lasst uns klären, wie wir es endlich fertigbringen, weit mehr Ärzte für Leichenöffnungen zu gewinnen als bisher.«