Der Geheimbund der 45

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Das montfortische Burgum »Domum Ulrici«

Anno Domini 1257

Die magische Zahl V

Kapitel 10

Nicht nur bei den Geheimbündlern, sondern auch im gesamten ehemaligen Herrschaftsgebiet derer von Altshausen-Veringen hatte sich viel geändert. So hatte sich auch die Bevölkerung von Isine, wie sich das Dorf inzwischen nannte, bereits seit einiger Zeit an einen zusätzlichen Potentaten gewöhnen müssen. Dem Grafen von Montfort-Bregenz gehörte inzwischen das Gebiet südlich der Stadt – eine mehr als heikle Situation für die Herrscher und ihre Untertanen. Die Bevölkerung von Isine hatte in ihrer wechselhaften Geschichte bereits viel erdulden müssen – dass es aber zu allem hin ausgerechnet ein Bregenzer hatte sein müssen, der in ihrem aufstrebenden Städtchen bei allen Entscheidungen ein Wörtchen mitzusprechen haben würde, war ihnen lange nicht in die Köpfe gegangen. Dementsprechend störrisch hatten sie sich verhalten.

Aber »der Bregenzer« hatte sich von Anfang an in jeder Hinsicht als kluger und umsichtiger Grundherr gezeigt, der sich mit den politisch angespannten Verhältnissen in den deutschen Landen gut zu arrangieren verstand. So hatte er nicht gezögert und gleich nach seinem Amtsantritt damit begonnen, die seinerzeit von Hannes Eberz angelegte Hauptstraße genau vermessen zu lassen, um sie nach dem Vorbild größerer Städte weiter auszubauen und mit einer genauso breiten Querstraße zu versehen.

»Die Straßenführung von Isine sieht dann aus wie das Kreuz unseres Herrgotts«, hatte er lachend gesagt, als er seine Visionen zum ersten Mal öffentlich verkündet hatte.

»Die Leute vom See haben schon einen merkwürdigen Humor«, hatte einer der zu diesem Gespräch geladenen Kaufleute seinem Tischnachbarn zugeflüstert und ein zustimmendes Kopfnicken zurückbekommen.

Während die Arbeiten in vollem Gange sein würden, wollte der hemdsärmelig wirkende Grundherr von Isine auch noch den bestehenden Marktplatz neu gestalten und am südlichen Ende der Straße eine Marktbefestigung errichten. Gleichzeitig hatte er vor, den vor sieben Jahren begonnenen Bau seines Amtshauses endgültig fertigzustellen. Wegen der unsicheren Zeiten hatte der Graf von Montfort vom ersten gesetzten Stein ab großen Wert darauf gelegt, den Gebäudekomplex massiv und verteidigungstauglich auszubauen. »Es soll ein festes Haus am Markt sein!«, hatte er seinem Baumeister Theo Finck eingebläut, weil er ganz genau gewusst hatte, dass es eine raue Zeit war, in der Brandschatzungen, Einbrüche und Überfälle fast an der Tagesordnung waren.

Weil sich sein Amtshaus direkt hinter dem Marktlatz am belebtesten Knotenpunkt des Dorfes befinden würde, war die Gefahr umso größer. Aber dies fürchtete Ulrich von Montfort nicht im Geringsten. Er wusste, wie er sich abzusichern hatte und das Marktgeschehen an sich ziehen konnte, um sich dadurch die herrschaftliche Macht zu sichern. So wusste er auch, dass er mit der Straßenerweiterung noch mehr Menschen ins Dorf würde locken können als bisher. Und das war ganz in seinem Sinne.

»Die bestehenden sechs Magazine am Amtshaus haben sich bisher schon vortrefflich als Leinenlager geeignet und dienen nun auch noch hervorragend als Salzhaus!«, freute er sich seinem Baumeister gegenüber.

Kurz darauf stand der umtriebige Montforter mit Theo Finck an der Stelle, an der er mit der Umsetzung seines Bauvorhabens beginnen wollte.

»Kein Händler soll an Isine vorbeikommen!«, bemerkte er zum Baumeister, den er für dieses Projekt aus Feldkirch hatte kommen lassen, um mit ihm seine Visionen in die Tat umzusetzen. Dass es der Graf ernst meinte, zeigte sich allein schon daran, dass er die Sache trotz strömenden Regens an Ort und Stelle mit dem Meister seines Vertrauens besprach. Er wollte keine Zeit verlieren und die Sache zügig vorantreiben.

Während er einen Arm mit flach ausgestreckter Hand und nach oben gerichtetem Daumen entlang der Straße in Richtung Norden streckte, drückte er ein Auge zu, um das, was er sah, zu fixieren. »Ich möchte, dass der Straßenverlauf von hier aus möglichst gerade angelegt wird, damit der Prangerstein«, er zeigte an die Stelle, die er meinte und formte mit beiden Armen ein großes Dreieck, »den wir hier an der Ecke meines Amtshauses einlassen werden, von allen gut gesehen werden kann!«

»Ihr wollt also genau hier den Pranger aufstellen?«, wunderte sich Finck.

Der Graf nickte. »Ja! Genau dort, wo dieser Vermessungsstein in der Erde steckt! Hier möchte ich den Schandstein haben, denn die Delinquenten sollen nicht nur hier auf dem von Uns noch zu vergrößernden Markt, sondern zur besseren Abschreckung auch möglichst weit die Straße hinunter gesehen werden!«

»Aber die Straße ist nicht bis zum anderen Stadtende hin gerade und macht kurz davor einen leichten Knick!«

»Ich weiß, ich weiß!«, schimpfte der Graf. »Einer der damaligen Dorfvorsteher hat es zugelassen, dass ein paar der Häuser bis in die Straßenführung hinein errichtet wurden!«

»Vielleicht ist dies sogar mit voller Absicht geschehen?«, warf Finck ein, während er nachdenklich die Augen zusammenkniff.

Weil der Regen plötzlich so fest auf die Plane klatschte, die vier Diener des Grafen mit Stangen über ihre Köpfe hielten, hatte der neue Regent von Isine den letzten Satz seines Baumeisters nicht verstanden. Also machte der untersetzte Bauherr gleich munter weiter, indem er dem großgewachsenen und bulligen Baumeister eine große Papierrolle unter die Nase hielt und begeistert dazu erklärte: »Dies hier ist ein Plan, den mir Konrad I., der Abt des Klosters St. Georg, gegeben hat! Er wurde von einem begnadeten Kollegen von Euch gezeichnet und ist Unseres Erachtens nach ein Kunstwerk, mit dessen Umsetzung etwas zu zaghaft begonnen wurde!« Während er dies sagte, wurde seine Stimme immer lauter: »Das, was die damaligen Verantwortlichen von Isine im wahrsten Sinne des Wortes auf den Weg gebracht haben, werden Wir, Ulrich der Erste, Graf von Bregenz und Herr dieses wunderschönen Dorfes, nun zu meisterlicher Reife bringen!«

»Darf ich …« Der Baumeister ließ sich den Plan geben und betrachtete ihn ganz genau. Dann nickte er anerkennend und sagte: »Dieser Plan hier wurde sicherlich an dieser …«, er drehte sich um und zeigte auf den Boden, »… Gründungsachse ausgerichtet. Wahrscheinlich wurde zur Festlegung und Vermessung des Gründungsgrundrisses von Isine genau dieser Stein als örtliche Markierung eingebracht.«

Bevor der Feldkircher Baumeister weiterreden konnte, nahm ihm der Graf die Papierrolle erneut aus der Hand und lachte laut auf. »Ja, glaubt Ihr denn, Wir haben diesen Plan nicht genau studiert, bevor Wir Unseren Bruder Rudolf in Feldkirch gebeten haben, Euch ausleihen zu dürfen, damit Ihr nach Isine kommen konntet? Was glaubt Ihr, weshalb Wir diesen mächtigen Stein ausgerechnet«, nun drehte sich der Graf um, »an dieser Stelle haben möchten?«

Theo Finck verbeugte sich ergebenst und bat den Grafen um Verzeihung.

Der aber winkte nur ab: »Schon gut! Das heißt, dass der Prangerstein diese Markierung ersetzen wird und stattdessen Unser Vermessungsstein sein soll! Wir werden den bestehenden geometrischen Plan weiter verfolgen, das Wassertor und das Viehtor erneuern und auf Grundlage dieses Planes auch die bestehende Graben- und Wallanlage erweitern!«

»Und das Wasser leiten wir von hier aus zu beiden Seiten um das Dorf herum! Bei dieser Gelegenheit können wir auch Wasserleitungen innerhalb von Isine legen, um damit gleich mehrere Brunnen zu speisen!« Theo Finck schien nun Feuer und Flamme für das Projekt zu sein.

Der Graf nickte zufrieden. Dann ergänzte er, dass auch an den Ausbau der bestehenden Holztürme gedacht werden müsse. »Und den primitiven Holzzaun werden Wir irgendwann gänzlich durch eine Steinmauer ersetzen – genau so, wie dort unten vor vielen Jahren damit begonnen wurde, bevor meinem Vorgänger vermutlich das Geld ausgegangen ist!«

»Ihr seid also mit meinen Vor…«

Noch bevor sich Finck die Vorgehensweise bestätigen lassen konnte, fiel ihm der Graf ins Wort: »Ja! Es sind allesamt gute Vorschläge!«, lobte er den Baumeister seines Bruders, der auf der Feldkircher Schattenburg saß. »Aber nicht, dass Uns das Geld ausgeht oder dass Wir sterben, bevor Wir aus Isine eine richtige Stadt gemacht haben!«

Kapitel 11

Auch für die Geheimbündler war das Planen, mehr aber das Leben und Sterben weitergegangen: Nachdem das Amulett fünfundachtzig Jahre nach den Vorkommnissen in der Burg Hohenfels doch noch »richtig« verschwunden war und trotz intensivster Suche über ein ganzes Jahr hinweg nicht hatte gefunden werden können, ordnete der amtierende Großmeister erneut an, in jedem Landstrich, aus dem seine Verbündeten stammten, eine gut getarnte Räumlichkeit zu suchen und zum Zweck eines ihrer beiden Hauptziele einzurichten. Denn in den bis dahin zweihundertsechsundfünfzig Jahren seines Bestehens war es dem Geheimbund immer noch nicht gelungen, genügend mutige Ärzte zu finden, die sich für den Gedanken begeistern konnten, sich der Anatomie des menschlichen Körpers zu widmen – zu tief war die Angst vor der Todesstrafe in ihnen verankert.

Was die Verbreitung der »sieben freien Künste«, insbesondere der Arithmetik, betraf, waren sie wesentlich erfolgreicher gewesen. Nicht nur, dass sie in all den vielen Jahren Tausende talentierte Kinder aus armen Verhältnissen monetär gefördert, sie zu Scholaren und angesehenen Magistern gemacht hatten. Auch die Vermehrung und die damit einhergehende Verbreitung von Schulen war in einem Rahmen unterstützt worden, wie es nur durch den brüderlichen Zusammenhalt dieser fünfundvierzig ausnehmend gut betuchten Männer hatte möglich sein können. Doch beim Verschwinden des Amuletts hatte es eine weitere Radikalisierung gegeben.

 

»Bringt mir unser Heiligstes zurück!«, hatte der amtierende Großmeister geschrien und mit gesenktem Kopf drohend zur Tür ihres Versammlungsraumes gezeigt.

Vierundvierzig Geheimbündler waren in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt, um sich rund um den See im Umkreis bis zu etwa einhundert Meilen ins Landesinnere hinein umzuhören und sich überall umzusehen, wo sich viele Menschen auf einem Haufen versammelten.

Und weil das Allgäu, insbesondere Isine, bisher schon eine auffallende Rolle gespielt hatte, sah sich dasjenige Geheimbundmitglied, das aus dieser Ecke stammte, auch dort um. Der stattliche Mann trug die Gewandung eines städtischen Bürgers, die er immer anlegte, weil er wusste, dass es keine bessere Tarnung gab. Wie sollte jemand dahinterkommen, dass hinter der Fassade eines fein gewandeten Mannes das Mitglied eines radikalen Geheimbundes steckte, das zu allem entschlossen war, um ein verloren gegangenes »Magisches Amulett« zurückzubekommen. Dass dieser ehrenwerte Kaufmann sein »Jiàn« unter dem weiten Umhang versteckt hatte, konnte niemand sehen. Und wenn, würde man sich lediglich über die eigene Art der Waffe wundern, nicht aber darüber, dass er sie trug. Einem Mann seines Ranges war es schließlich gestattet, öffentlich einen Dolch und ein Schwert am Körper mit sich zu führen.

Es war ein strahlender Sommertag, weswegen in Isine alles auf den Beinen war, was laufen konnte, oder auch nicht. Kein Wunder, dass Jacob der Bettler die Gunst des Tages nutzen wollte, um an etwas Kleingeld zu kommen – selbst wenn es ihm nicht möglich war zu gehen. Während der Bettler früher die Markttage genutzt hatte, um anderen Leuten die Geldbeutel abzuschneiden, musste er sich seit einem tragischen Fuhrwerksunfall damit begnügen, auf seinem mit kleinen Rollen versehenen Brett zu sitzen und das Erbarmen derjenigen Marktbesucher zu erflehen, die er früher bestohlen hatte. »Habt Gnade, Herr!«, flehte er den Kaufmann, der gerade auf ihn zukam, mit entgegengestreckter Hand und mitleiderregendem Blick an. Der Geheimbündler hatte sich so unters Volk gemischt, als wenn er auf der Suche nach neuer Handelsware wäre.

»Hier!«, sagte der Mann gönnerhaft und warf dem Krüppel so viel Geld zu, dass der sich mit einem solch heftigen Nicken bedankte, dass er kopfüber von seinem Brett purzelte.

»Findet ihr das spaßig?«, knurrte der spendable Mann die Passanten an, die sich vor Lachen krümmten. Als er seinen reich bestickten Umhang etwas beiseiteschob und sie die Waffe sahen, verging ihnen das Lachen.

»Dreißig und keinen Pfennig weniger!«, bestand Godefried, der einzige Sohn von Godehard Eberz, auf seinem Preis. Dabei ging es um einen sechzig Ellen langen gestreiften und einen gleich langen eingefärbten Leinenballen in der üblichen Breite eines Webstuhls.

Aber der seinem Verkaufsstand gegenüberstehende Mann winkte nur dankend ab und ging weiter.

Godefried Eberz und seine Frau Maria, die einem alteingesessenen Kaufmannsgeschlecht aus dem zwölf Meilen entfernten Wangen entstammte und allein schon deswegen bestens zu ihm passte, lachten ihm aber nur nach, anstatt ihn mit einem günstigeren Angebot zur Umkehr zu bewegen.

»Der kommt gleich wieder zurück!«, war sich Maria sicher, während sie die beiden Leinenballen ins Regal zurücksteckte, die sie für den Mann ein Stückchen aufgerollt hatte, damit er die Qualität prüfen konnte.

»Wo ist denn Lukas schon wieder?«, schimpfte der Vater, weil ihm der jüngste seiner drei Söhne an diesem Tag hätte helfen sollen.

»Ich weiß nicht!«, antwortete Cristoff, Godefrieds und Marias ältester Sohn, während er von einem Ballen drei Ellen lange Streifen herunterschnitt, die dann als Tischdecken verkauft werden sollten.

Während sich Cristoff recht gut machte und hoffen ließ, später einmal die Geschäfte des Vaters zu übernehmen, und der mittlere Sohn Friedrik andere Talente hatte, war es hoffnungslos, aus dem jüngsten einen guten Menschen formen zu wollen. Denn der zwölfjährige Lukas ließ lieber den Herrgott einen guten Mann sein, als sich in Disziplin zu üben und den Eltern zur Hand zu gehen. Im Gegenteil: Der Herumtreiber war stets zu allerlei makabren Scherzen aufgelegt, neckte die Mädchen, die er schon mal an einen Baum band und denen er dann die Haare abschnitt. Das Schlimmste aber war, dass er stahl wie eine Elster, und dies als Sohn eines ehrenwerten Kaufmannes. Er war sogar schon einmal in eine fremde Behausung eingebrochen, um dort alles mitzunehmen, was er hatte versilbern können. Da hatten auch die schärfsten Strafen nichts zu ändern vermocht; aus dem jüngsten Spross der Eberz würde wohl nie etwas werden. Und beim nächsten Mal würde dann das Richtschwert oder der Galgen auf ihn warten.

»Ah! Da seid Ihr ja wieder!«, freute sich Godefried Eberz, als der Mann von eben wieder vor seinem Verkaufstisch stand. »Was kann ich jetzt für Euch tun?«

Die feine Gewandung konnte nicht verbergen, dass der kleine Mann bemerkenswert rundlich war. Aber dies war Godefried Eberz egal. Hauptsache, es handelte sich um einen ernst zu nehmenden Interessenten. Der schwitzende Mann rieb sich den Bart und zeigte auf die Stoffballen hinter dem Händler. »Wenn Ihr mir einen vernünftigen Rabatt gebt, kommen wir ins Geschäft!«

Nun lachte Godefried so laut auf, dass auch die anderen Tuchhändler in seiner Nähe aufmerksam wurden.

»Pass auf, vom alten Eberz kannst du was lernen!«, sagte einer der Händler zu seinem Sohn, während er ihm mit seinem Ellenbogen in die Rippen stieß, um dessen Aufmerksamkeit zu bekommen.

Alle waren gespannt, was Eberz dem Mann, der mit einer roten Knollennase gestraft war, zur Antwort geben würde.

Er ließ auch nicht lange auf sich warten: »Wenn Ihr es Euch nicht leisten könnt, müsst Ihr die einfache weiße Leinwand nehmen und sie selber einfärben. Die kostet nur zwölf Pfennige! Oder …«, Godefried Eberz zeigte nach hinten, »Ihr nehmt ein aus Hanf hergestelltes einfaches Segeltuch, für das Ihr nur fünf Pfennige berappen müsst! Und wenn Ihr nicht so viel habt, nehmt Euer Kleingeld und versucht, in der Taverne dort drüben einen Humpen oder wenigstens ein Quart Bier zu bekommen!«

Nachdem er dies gesagt hatte, brandete allgemeines Gelächter auf. Der gewiefte Kaufmann suhlte sich im Handgeklappere seiner Kollegen. Aber das Lachen sollte ihm gleich wieder vergehen, denn der Mann sagte nur: »Schade! Ich bin Wiederverkäufer und bereise die Welt. Sehr gerne hätte ich Euch die gesamte Ware abgenommen, die Ihr liefern könnt!« Dann drehte er sich um und ging.

»Halt! … Äh! … Werter Herr! Kommt zurück!«, rief ihm Godefried Eberz nach, erfolglos.

»Hochmut kommt vor dem Fall! Das hast du nun davon, du eingebildeter Pfeffersack! Lieber eine rote Nase, als sie so hoch zu tragen wie du«, schimpfte seine Frau zur erneuten Belustigung der anderen Marktbeschicker, während der vom Oberen Joch kommende Knopfhändler seinen Sohn am Ohr packte und ihn in seinen Stand zurückzog. »Hast du keine Arbeit, Seppi?«

*

Von alledem hatte der Geheimbündler nichts mitbekommen, weil er sich gerade auf dem Hauptmarkt umsah, dem größten Platz im Zentrum des Dorfes, den man inzwischen mehr oder weniger offiziell als »Großen Marktplatz« bezeichnete. Nachdem er sich die Angebote der anderen Plätze, die »Kornmarkt«, »Rossmarkt«, »Viehmarkt« oder »Schmalzmarkt« genannt wurden, angesehen hatte, ging er in Richtung der Tuchhändler, wo er an einem der Stände etwas in der Sonne blitzen gesehen hatte. Er machte keinen Hehl daraus, gezielt zu suchen. Warum auch? Es war Donnerstag, also einer der Markttage in Isine, der auch dieses Mal Händler und Besucher von weither angelockt hatte. Weil alle, die nicht hinter einem Verkaufstisch standen, etwas suchten, fiel auch dieser Mann nicht auf. Im Grunde genommen hatte er ja nichts Böses vor; er suchte nur etwas, aber etwas ganz Bestimmtes!

An der Ursache des Glitzerns angekommen, zeigte er zum ersten Mal ernsthaftes Interesse am Angebot eines Händlers. Direkt im Anschluss an die Tuchhändler befanden sich die Gemischtwarenhändler, die mit allem schacherten, was man sich nur vorstellen konnte: Hier gab es Töpfe, Pfannen und Geschirr, sogar Werkzeug der verschiedensten Art. Gebrauchte Tabore und Einhandflöten, alte Fahnen verschiedener Kriegsheere vergangener Zeiten waren hier ebenso unter der Hand zu bekommen wie Waffen der verschiedensten Art aus den entferntesten Ländern der bekannten Welt.

»Interessiert Euch etwas, Herr?«, wurde er sofort vom Händler angesprochen, nachdem dieser bemerkt hatte, dass das Augenmerk des Kunden gezielt auf den Kasten mit den vielen kleinen Fächern gerichtet war, in denen sorgsam voneinander getrennt Ketten, Münzen, Perlen und Halbedelsteine lagen. Aber auch fertiger Schmuck wie Anhänger, Anstecker, Armreife und Ringe waren darin zu finden. Dieses Angebot schien den Kunden besonders zu interessieren.

Der Händler taxierte sein Gegenüber und nahm dann seinen schönsten Ring aus einem der Kästchen, den er über den kleinen Finger seiner rechten Hand streifte, um sie dem Kaufinteressenten entgegenzustrecken. »Wäre das nichts für die werte Frau Gemahlin?«

Der Kunde schüttelte nur den Kopf.

»Sucht Ihr etwas Spezielles? Bei mir werdet Ihr sicher fündig! Ich habe alles! Fast alles! Wartet!« Während er einen in Silber gefassten Bergkristall-Anhänger aus einem der hinteren Fächer herausnahm und hastig über eine Kette streifte, rief er sein Weib zu sich: »Rasch, Susanna, dreh dich um!«

Weil die Frau des Händlers augenscheinlich zwar gut gebaut, ansonsten aber keine Schönheit war, bedachte sie der Kunde nur rasch mit einem Blick, bevor er wieder in den Fächern zu kramen begann.

»Seht, Herr! Dies ist sicher etwas für die Frau Eures Herzens, oder?«

Der Kunde schaute eigentlich nur der Höflichkeit halber nochmal zum Halsausschnitt der Händlerfrau, blieb mit seinem Blick dieses Mal aber wie erstarrt daran kleben.

Wenn der Händler zunächst geglaubt hatte, dass er mit seiner Empfehlung einen Volltreffer gelandet hatte, wurde ihm schnell klar, dass der Kunde sich lediglich am prallen Busen seines Weibes ergötzen mochte. Und weil das Geschäft aus seiner Sicht sowieso nicht zustande kommen würde, empörte er sich darüber auf die unflätigste Weise. Er fing sogar damit an, den Kunden lauthals als einen heißen Bock und als treibigen Eber zu bezeichnen. Und weil sich der Kunde nicht gegen die Beleidigungen des Händlers wehrte, fühlte der sich im Recht und schimpfte so lange weiter, bis der Mann vor dem Verkaufsstand fragte, was es kosten würde.

»Was … was meint Ihr?« Der Händler schaute seine verlegene Frau verunsichert an.

»Keine Sorge; nicht was Ihr denkt!«, beruhigte der Kunde die beiden, zu denen sich neben deren Sohn auch seine zwei jüngeren Schwestern gesellt hatten.

Nachdem der Händler den Preis für den Anhänger mitsamt der Silberkette genannt und seinem Weib die Kette wieder abgenommen hatte, um sie dem Käufer zu geben, schüttelte der den Kopf. »Ich meinte nicht diese Kette, sondern den Anhänger, den Euer Weib um den Hals trägt.«

Völlig verunsichert antwortete anstatt des Mannes die Frau, dass dieser Anhänger unverkäuflich sei.

Und weil der Händler glaubte, dass ihn der vermeintliche Kunde lediglich narren mochte, pflichtete er seiner Frau bei.

»Woher habt Ihr ihn?«, wollte der Kaufinteressent wissen, bekam aber von ihrem Mann nur lapidar zur Antwort: »Wir sind Händler!«

»Na also: Dann waltet Eures Amtes!«

Nachdem es auch nichts genützt hatte, den doppelten und sogar den vierfachen Preis von dem anzubieten, was die Silberkette mitsamt dem Anhänger gekostet hätte, hielt sich der Interessent nicht weiter damit auf und wechselte zur Verwunderung des Händlers und dessen Frau das Thema, indem er die beiden fragte, woher sie denn kämen.

»Warum?«, mochte der erneut irritierte Händler wissen.

»Nur so …«

»Aha …«

»Also?«

»Aus Kreuzlingen, überm See!«, antwortete sie.

Nachdem er dies gehört hatte, blitzten die Augen des Mannes gefährlich auf, während sich gleichzeitig ein Grinsen auf seine Mundwinkel legte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ das Marktgelände.

»Arschloch!«, rief ihm der Händler noch nach.

Dies sollte das letzte Schimpfwort gewesen sein, das er in Isine laut hinausgeschrien hatte. Weil sich der Tag sowieso dem Ende neigte und es dunkel zu werden drohte, packte er mit Hilfe seiner Frau und der Kinder seinen Kram zusammen, um das Allgäu in Richtung Meckenbeuren zu verlassen.

*

»Kreizkruzifix! Des glaub i etz it!«, schrie tags darauf ein Mann in breitestem Schwäbisch so laut, dass es durch den Wald hallte.

 

»Was isch, Hugo?«

»Ha wa! Etz schau d’r amol des ô?«, kam es fassungslos zur Antwort.

»Muinsch du, dass se …«

»Schwätz it, Schorsch! Komm: Mir packet g’schwind elles zam!«

»Schau amol! Denne beude Alte hend se mit’m Mess’r ebbes in’d Schdirn g’ritzt!« Nach genauerer Betrachtung ergänzte er noch, dass es sich um eine Zahl handeln könnte, wie er sie zwar irgendwo schon mal gesehen hatte, aber nicht wisse, um was für eine Zahl es sich handelte.

Für die beiden Strauchdiebe, die ursprünglich aus Stuttgart stammten, schien es ein Glückstag zu sein, den sie wohl bis zu ihrem Lebensende nicht mehr vergessen würden. Denn direkt vor ihnen lagen in einem Hohlweg in der Nähe von Eglofs fünf Menschen mit durchgeschnittenen Kehlen. Nachdem die verwahrlosten Herumtreiber die augenscheinlich bedauernswerten Opfer einer Gewalttat ganz genau betrachtet hatten, schauten sie sich ängstlich nach allen Seiten um. Dann fackelten sie nicht lange. Anstatt sich um die Toten zu kümmern, nahmen sie deren Ochsengespann mit dem vollbeladenen Planwagen an sich und suchten damit das Weite.

Der Geheimbündler, der gestern noch in Isine auf dem Markt gewesen war, hatte nicht lange gewartet, um der unwürdigen Händlerfrau aus Meckenbeuren das »Magische Amulett« vom Hals zu reißen. Weil ihn auch deren Mann und die drei Kinder gesehen hatten, war er nicht umhin gekommen, auch sie umzubringen. Auch wenn dies nicht unbedingt sein erklärtes Ziel gewesen war, hatte er es doch als Omen angesehen. Denn ihm war von vorneherein klar gewesen, dass er fünf Menschen umbringen musste, falls er das Amulett wiederfinden sollte. Und er hatte es nun ja wiedergefunden! Dabei war ihm etwas davon in den Sinn gekommen, was ihm und seinen Brüdern vom Großmeister zur magischen Zahl Fünf gesagt worden war, bevor er sie auf die Suche geschickt hatte: »Die Zwei kann stets als ›weibliche Zahl‹ empfunden werden! Wenn die Zwei und die Drei aber zusammenfinden, dann entsteht daraus die Zahl Fünf: Es ist die Zahl der Vereinigung von Mann und Frau!«

Zwei Elternteile und drei Kinder, das passt ja, hatte er sich eiskalt gedacht, bevor er den Eltern jeweils eine lateinische Fünf in einem Quadrat in die Stirn geritzt hatte. Wenigstens hatte er die beiden Kinder von diesem menschenverachtenden Akt verschont. Denn der Mann, der Mitleid mit dem Bettler gehabt hatte, war im Grunde seines Herzens kein schlechter Mensch. Aber der Codex sah nun einmal vor, diejenigen Menschen umzubringen und über deren Tod hinaus zu brandmarken, die mit dem Verschwinden des »Magischen Amuletts« zu tun gehabt hatten.