Du weißt doch, Frauen taugen nichts

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Von Carola, die mit Peter, der als Stammgast dieser Kneipe quasi schon seit vielen Jahren zum Inventar gehörte, am Tisch neben der Eingangstür saß, kam kaum eine Entgegnung. Nur einmal konnte ich deutlich: „Bis jetzt hat es eben nie den Richtigen gegeben“, verstehen. Ansonsten waren ihre Entgegnungen inzwischen wieder so leise, wie eingeschüchtert, dass sie fast im Kneipenlärm untergingen.

Irgendwann stellte sich Carola, Peter war inzwischen gegangen, seitlich an den Kneipentresen, und quatschte mit irgendwelchen Leuten über irgendwelche Themen, die nichts mit ihren Männergeschichten zu tun hatten. Ich hatte währenddessen zwei Bier getrunken, damit mein finanzielles Limit erreicht, und wollte zahlen. Ich erhob mich von meinem Barhocker, legte den „Spiegel“ in das Regal über der Heizung, und gab dem Wirt, mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das entsprechende „will zahlen“ Zeichen, und stellte mich, ohne Carola bewusst zur registrieren, neben ihr an den Tresen, damit der Wirt mein Geld entgegen nehmen konnte.

„Kommst du auch morgen zu Peters Geburtstagsfeier“, kam es da von der Seite. Erst als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass es Carola war, die mich angesprochen hatte.

„Nein, wieso, hat er Geburtstag?“

Mit Sicherheit machte ich ein ziemlich dummes Gesicht bei meiner Antwort. Weniger wegen Peters Geburtstag, sondern weil Carola mich angesprochen hatte.

„Ja, und er würde sich sicher freuen, wenn du kommst.“

Peter und ich hatten früher viel zusammen gemacht. Wandern in Schweden, Billard spielen, und in den verschiedensten Kneipen für das Auskommen der Wirte mit beigetragen. Aber das war schon einige Jahre her.

„Weiß nicht.“

„Stell dich nicht so an. Los komm. Er würde sich sicher freuen.“

Ich muss zugeben, dass ich überrumpelt war. Sie tat so, als ob wir bei unserem letzten Treffen, das ja nur per E-Mail stattgefunden hatte, nicht im Bösen auseinander gegangen waren. Ich wollte nicht zu der Geburtstagsfeier. Ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr mit Peter, und eigentlich wollte ich auch keinen Kontakt mit Carola. Mir fiel wieder der Inhalt ihrer E-Mail ein, in der sich mich in einer Art und Weise beleidigt hatte, wie es mir selten untergekommen war.

„Nein ich werde nicht kommen.“

Ich zahlte, steckte das Portemonnaie wieder ein, und wollte gehen.

„Wie wäre es, wenn wir uns morgen mal treffen?“

„Wieso das? Ich denke du feierst morgen Peters Geburtstag.“

„Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und wir können uns doch vor der Feier treffen“, kam es von ihr lächelnd.

Wieso lächelte sie? Das Letzte, was sie mir vor Jahren an den Kopf geworfen hatte, waren ziemlich deftige Beleidigungen gewesen.

Ich war wirklich nicht begeistert, aber ich willigte, warum auch immer, ein. Die Geburtstagsfeier sollte gegen 16:00 Uhr losgehen. Wir verabredeten uns für 14:00 Uhr im „Sachers“, einem Kneipencafé, das direkt am Elbe-Lübeck-Kanal seinen Sitz hat, und wo man direkt am Wasser, draußen im Freien auf einer Terrasse sitzend, den Binnenschiffen und den Ruderern des Ruderklubs, der am gegenüberliegenden Ufer seinen Platz hat, zuschauen konnte, während man aß und trank.

An nächsten Morgen, als ich in meinem Bett aufwachte, war ich auf mich selbst sauer. Wieso hatte ich dem Treffen zugestimmt? Das war doch absoluter Käse. Eine Zeit lang war ich unschlüssig, aber entschied mich dann trotzdem, zum vereinbarten Zeitpunkt im „Sachers“ aufzutauchen. Carola musste ja sowieso zur Geburtstagsfeier von Peter, somit war die Zeit, die das Treffen dauern konnte, ja durchaus überschaubar.

Warum tat ich das? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weil ich, trotz ihrer bösen Mail sechs Jahren vorher, ein Kribbeln im Bauch spürte. Man konnte eigentlich nicht einmal sagen, dass Carola im klassischen Sinn wirklich schön war. Aber sie hatte etwas an sich, dass mich schon vor sechs Jahren fasziniert hatte und, trotz ihres komischen Verhaltens damals, gleich wieder dieselben Gefühle, wie damals weckte, die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte.

Vielleicht wollte ich außerdem auch nicht, dass Carola sich bei einigen Leuten beschweren würde, dass ich ein Date, ohne Begründung einfach platzen ließ, und ich in den folgenden Wochen im „Carrickfergus“ Rede und Antwort hätte stehen müssen, warum ich mich nicht wie ein „Erwachsener“ verhalten habe.

Aber im Grunde war es egal, warum ich hinging. Ich ging hin. Das war das Entscheidende.

Um vierzehn Uhr trudelte ich, zugegebener Maßen etwas nervös, bei Sachers ein. Carola saß bereits mit einer weiteren, mir unbekannten Frau auf der Terrasse. Beide hatten ein Glas Dunkelbier vor sich auf dem Tisch stehen.

„Wow“, dachte ich still bei mir. Erst vierzehn Uhr, eine Geburtstagsfeier noch vor sich, subtropische Temperatur, die einem auf den Kopf drückte, und dann schon Starkbier. Keine Ahnung, ob Carola meinen kritischen Blick gemerkt hatte, aber als ich mich mit einem „Hallo“ gesetzt hatte, und die unbekannte Frau, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, gegangen war, kam von Carola gleich, mit einem Kopfnicken auf das Glas weisend: „Ich musste mir ein bisschen Mut antrinken.“

„Wieso denn das?“

„Nur so.“

Nur so - hmm. Ein komischer Grund sich Mut an zu trinken, dachte ich mir im Stillen.

Später, viele Monate später grübelte ich darüber nach, worüber wir uns in den zwei Stunden unterhalten haben, bis sie von Freunden abgeholt wurde, um zur Geburtstagsfeier zu fahren. Mir fiel es nicht mehr ein. Sicher, Carola versuchte mich noch einmal zu überreden, doch noch zur Geburtstagsfeier mitzukommen. Schließlich waren Peter und ich lange Zeit dicke Freunde gewesen, und er hatte wohl auch am Abend zuvor gegenüber Carola so etwas angedeutet, dass er sich über meinen Besuch freuen würde. Mag sein, dass wir uns auch noch über das „Mutantrinken“ unterhielten. Carola hatte auch kurz erzählt, dass sie jetzt in Hannover wohnt, und nur wegen Peters Geburtstag, über das Wochenende nach Lübeck gekommen sei. Aber diese Themen waren spätestens in fünfzehn Minuten abgehakt. Trotz alledem waren auf einmal zwei Stunden vorbei, und Carola wurde von den Freunden, unter anderem auch von Carmen und Hans, bei denen sie an diesem Wochenende übernachtete, zur Geburtstagsfeier abgeholt. Und ich hatte irgendwie, obwohl es ein harmonisches Treffen gewesen war, das Gefühl, dass Carola immer noch nicht das gesagt hatte, was sie mir eigentlich hätte sagen wollen, und warum sie sich mit mir hier im „Sachers“ verabredet hatte. Was auch immer es gewesen sein mochte, es war etwas, wozu man bei brüllender Hitze, um sich Mut an zu trinken, schon um vierzehn Uhr Starkbier braucht.

„Darf ich dich morgen früh zum Frühstück einladen“, kam es noch, mit einem auffordernden und gleichzeitig zweifelnd fragenden Blick, als sie bereits vom Stuhl aufgestanden war, um zum Wagen ihrer wartenden Freunde zu gehen. „Zehn Uhr, wieder hier, gleicher Ort?“

Ich nickte. „Jo, das geht klar.“ Obwohl mir eigentlich nicht klar war, was eigentlich klar geht. Was wollte sie?

Sechs Jahre vorher waren wir, bevor wir uns überhaupt näher kennenlernen konnten, schon im E-Mail-Streit auseinandergegangen. Die Beendigung einer Beziehung wurde damals sozusagen dem Beginn vorangestellt, was, so wie die Beendigung damals abgelaufen war, wohl auch viel Ärger erspart hat. Danach waren wir uns nie wieder begegnet. Jetzt kam sie, nur für ein kurzes Wochenende, wegen einer Geburtstagsfeier nach Lübeck, wollte die Gelegenheit gleich nutzen, um alte Bekannte zu treffen, und verabredete sich dann mit mir zuerst für den Samstagnachmittag, und da das ihr anscheinend nicht genug war, gleich noch für den nächsten Morgen, statt, den doch nur sehr begrenzten Zeitraum, der ihr hier in Lübeck zu Verfügung stand, mit ihren Freunden, wozu ich nun einmal eindeutig nicht zählte, zu verbringen.

Egal. Ich hatte zugesagt, und ein Frühstück im Freien, von jemand anderem bezahlt, war nicht zu verachten. Und auch wenn ich Monate später nicht mehr wusste, was wir uns an dem Nachmittag alles erzählt haben, waren die zwei Stunden, ohne dass Langeweile aufgetaucht war, ja nun wirklich schnell vorbei gegangen. Ich ging nach Hause, nahm „Den vilden svensken“, einen Roman auf Schwedisch von Ernst Brunner, eine Flasche Multi-Vitamin-Saft, ich hatte bereits im „Sachers“ nur ein Spezi getrunken, da ich irgendwie nicht das Gefühl gehabt hatte mir Mut antrinken zu müssen, und setzte mich an den Kanal unter den Schatten eines Baumes. Ernst Brunner, mit seinen verschachtelten Sätzen, machte mir das Lesen auf Schwedisch wirklich nicht leicht, sodass ich mir über Carola schon bald keine Gedanken mehr machte.

Am nächsten Morgen traf ich pünktlich mit leerem Magen, ausgenommen einem Becher Kaffee, wieder auf der Terrasse vom „Sachers“ ein. Carola saß schon, allerdings ohne Starkbier, sondern diesmal der Tageszeit angepasst, mit einem Becher Kaffee, am gleichen Platz wie gestern.

Auch von diesem Gespräch weiß ich, viele Monate später, keine Einzelheiten mehr. Carola erzählte wohl, dass sie in Hannover dabei war, mit einer Freundin zusammen eine Praxis für Physiotherapie aufzumachen. In den nächsten Tagen sollte sich klären, ob sie die entsprechenden Räume anmieten konnten. Ich erzählte wohl von meiner Firmenpleite und davon, dass nächste Woche ein großes Event von der ARGE sein sollte, bei dem man sich mit vielen potenziellen Arbeitgebern treffen konnte, und man sich dort an einem Sonderstand der ARGE, auch für Bewerbungen ins Ausland erkundigen konnte. Ich wollte versuchen in Schweden, bei irgendeiner Firma, die für ihre deutschen Kunden einen Ansprechpartner mit Deutschkenntnissen suchte, einen Job zu bekommen. Angeblich sollten die Möglichkeiten für so einen Job in Schweden nicht schlecht sein, und da meine Deutschkenntnisse, was für Geschäftsverbindungen von Schweden nach Deutschland ja wichtig war, doch ganz ordentlich waren, sah ich da doch eine große Zukunftschance für mich. Mit meinem Schwedisch war es zwar nicht so toll, aber da ich regelmäßig schwedische Bücher las, und Lern-CDs mir anhörte, entwickelte sich auch das so langsam. Und ich war davon überzeugt, dass, sollte ich erst einmal in Schweden arbeiten und wohnen, die Routine in die schwedische Sprache schnell kommen würde.

 

Ansonsten? Keine Ahnung mehr worüber wir redeten, aber es war auf jeden Fall nicht langweilig. Kein Herumgestotter, kein verzweifelter Blick auf die Uhr, wann denn die Anstandszeit vorbei wäre, und man sich, ohne einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, verabschieden konnte.

Als das Frühstück verputzt war, schaute Carola mich herausfordernd an: „Hast du Lust an den Strand zu fahren, dort spazieren zu gehen?“

„Klar warum nicht.“

So klar war es eigentlich nicht, aber bei dem Wetter sich einmal wieder eine frische Meeresbrise durch die Haare wehen zu lassen, das klang nicht schlecht. Auch hatte ich die Ostsee, obwohl Lübeck nur ein paar Kilometer von ihr entfernt lag, lange nicht mehr gesehen. Und bis zu diesem Zeitpunkt war das Frühstück ja nun wirklich sehr harmonisch gelaufen.

Wobei in mir abermals die Frage auftauchte, warum Carola, nachdem sie in Lübeck eingetroffen war, am Freitagabend nur kurz in der Kneipe mit Peter zusammen gesessen hat, nur kurz den Samstagmorgen bei Carmen und Hans, viel mehr als gemütlich gemeinsam frühstücken konnte es eigentlich nicht gewesen sein, verbracht hatte, bevor sie sich mit mir am Nachmittag, vor der Geburtstagsfeier, getroffen hat, nun den Sonntagnachmittag, nachdem sie ja schon den Vormittag mit mir verbracht hat, auch noch mit mir verbringen wollte. Und sie somit ihre ganzen, seit Monaten nicht gesehenen Bekannten und Freunde, regelrecht versetzte.

Und auch wenn Carla bei unserem gemeinsamen Frühstück kein Starkbier getrunken hatte, um nicht nervös zu sein, hatte ich immer noch das Gefühl, dass sie mir nicht alles gesagt hatte, was sie eigentlich hätte sagen wollen.

Auf der Fahrt zum Strand dachte ich wieder über das Geschehnis von vor sechs Jahren nach. Damals hatte sie etwas von mir gewollt. Anstatt aber in der Kneipe, in der sie damals bediente, und ich regelmäßig Gast gewesen war, mich einfach anzusprechen, oder, sollte ihr die Kneipe zu öffentlich gewesen sein, mich zu Hause per Telefon anzurufen, hatte sie eine E-Mail an meine Firma geschickt. Ohne zu wissen, ob ich alleine im Büro sitze und die E-Mails selbst öffnen würde, oder, wie es ja dann auch geschehen war, meine Sekretärin die Mails sortierte. Carola hatte eine angedeutete Liebeserklärung an eine E-Mail-Adresse geschickt, ohne zu wissen, welche Person diese lesen würde.

Ein paar Wochen später, als wir ein Paar waren und über das Thema redeten, beichtete sie mir, dass sie damals sogar die Hilfe eines Freundes benötigt hatte, damit sie überhaupt die E-Mail-Adresse meiner Firma heraus bekommen konnte. Sie hatte sich damals richtig Mühe gegeben, um mir, oder genauer gesagt meiner Firma, etwas per E-Mail zu schicken, was man viel einfacher per Telefon, ich stand immerhin im Telefonbuch, oder wenn es romantischer sein sollte, als Brief, in dem Telefonbuch stand auch meine Wohnadresse, in den Briefkasten hätte werfen können.

Das war vor sechs Jahren gewesen. Was wollte sie jetzt, ging es mir durch den Kopf, als wir, nachdem wir in verschiedenen Nebenstraßen, Carola wusste nicht mehr, in welcher sie ihren Wagen geparkt hatte, ihr Auto gesucht hatten, Richtung Strand fuhren.

Carola hatte was, keine Frage. Sie hatte etwas, was sie wahnsinnig anziehend machte. Obwohl ich nicht einmal genau sagen konnte, was es war. Aber da war auch etwas, was sie mir jetzt verheimlichte. Ich war nie ihr Freund gewesen, zählte in ihrem Bekanntenkreis, wenn überhaupt nur unter „ferner liefen“, und das auch eher als „Persona non grata“, und nun verbrachte sie den größten Teil ihres Wochenendes in Lübeck, dem Ersten seit mehreren Wochen, wenn man einmal von ihrem Pflichtprogramm der Geburtstagsfeier und dem Samstagvormittag bei ihren Übernachtungswirten absieht, mit mir. Was war mit den ganzen anderen Leuten, die sie auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen hat, und die, entgegen meiner Wenigkeit, zu ihrem Freundeskreis zählten?

Später, als wir zusammen waren, erzählte sie mir, wie nervös sie wirklich an diesem Samstagnachmittag gewesen war. Und dass das Starkbier kein bisschen genutzt hatte, um die Nervosität etwas einzudämmen. Während der Geburtstagsfeier, die in einer Kleingartenanlage gefeiert wurde, war sie die meiste Zeit, während die anderen saßen und quatschten, mit Peters Gießkanne verträumt durch die Beete gegangen, um diese in Ruhe zu gießen - und an mich denken. Und das auch mit einem nervösen Beigeschmack, wegen des Frühstückstreffens, das sie mit mir für den folgenden Tag vereinbart hatte.

Und nun war genau dieses Frühstück vorbei, wir fuhren an den Strand, und ich grübelte darüber, was das alles hier sollte.

– Eine Bemerkung über das heiße Wetter, damit ich nicht den Anschein erwecken würde, dass ich grüble, dann wieder irgendein Gespräch, an das ich mich heute nicht mehr erinnere, und schon waren wir am Strand.

Eine Ecke der Lübecker Bucht auf der Seite von Meck-Pomm, die ich nicht kannte, da sie früher mit Stacheldraht vom Westen abgeschnitten gewesen war.

Wir bekamen, auch wenn in dem Ort alle Bauern gegen Entgelt ihre Höfe als Parkplatz umfunktioniert hatten, nur mit Müh und Not einen Stellplatz für den Wagen, gingen das kurze Stück zum Strand, und dort barfuß durch den Sand und durch das Wasser. Irgendwann setzten wir uns irgendwo in die Dünen. Carola rauchte eine Zigarette und erzählte, dass sie die frische Meeresluft in Hannover vermisst. Gerade während dieses heißen Sommers stand die Luft dort in den Straßen. Hier am Meer wehte wenigstens eine leichte Brise, die selbst dieses Mittelmeerklima erträglich machte. Ich weiß noch, dass aus der Travemündung eine Fähre Richtung Schweden herausfuhr, und ich Carola erzählte, dass ich diesen Sommer mit meinem letzten Geld nach Schweden reisen wollte. Mit dem Zug hoch bis Abisko und von dort mit Zelt und Rucksack ins schwedische Fjäll. Ich erzählte, dass ich das dringend brauchte. Wandern ist, wie „Gehirn aufräumen“. Man wandert mit dem ganzen Müll, der sich mit der Zeit, eigentlich seit der letzten Wanderung vor mehreren Jahren, im Kopf angesammelt hat, dort durcheinander herumliegt, und lässt beim Wandern die Gedanken einfach schweifen. Es ist immer wieder faszinierend, auf welche Wege sich die Gedanken machen, wenn man sie einfach treiben lässt. Ist die Wanderung beendet, ist der ganze Müll sauber in Schubladen eingeräumt. Carola musste lachen. Wir schauten beide, jeder in seinen eigenen Gedanken vertieft, der Fähre nach.

Irgendwann stand Carola auf, zog sich aus und ging baden. Ich blieb am Strand bei den Sachen sitzen und schaute ihr gedankenverloren nach, bis sie wieder aus dem Wasser kam. Ein Handtuch brauchte sie nicht. Bei der Sommerhitze war sie schon fast wieder trocken, als sie bei mir ankam.

Worüber redeten wir sonst noch dort am Strand? Ich weiß es heute nicht mehr. Aber es war, ohne irgendwelche Einschränkung, ein toller Tag gewesen.

Irgendwann musste Carola zurück nach Lübeck, da sie Peter versprochen hatte, Stühle, die er sich für seine Geburtstagsfeier bei irgendjemandem aus Bad Schwartau, einem Ort nördlich von Lübeck, ausgeliehen hatte, wieder dorthin zurückzubringen. Wir bummelten also zurück zum Auto und fuhren wieder nach Lübeck.

Wieder in Lübeck eingetroffen setzte Carola mich in der Nähe meiner Wohnung ab. Ich wollte gerade die Beifahrertür zuschlagen, und lauerte nur noch auf ein „tschüss, dann mach es mal gut, viel Spaß in Schweden, ich kann mich ja mal melden, wenn ich wieder in Lübeck bin“, da kam: „Wollen wir uns nachher noch treffen, wenn ich die Stühle für Peter wegtransportiert habe?“

Wow – Carola hatte auf der Rückfahrt vom Strand erzählt, dass sie morgen ganz früh, fast noch in der Nacht, wieder nach Hannover fahren musste. Und nachdem sie nun schon bereits die meiste Zeit ihres Lübeckaufenthaltes nur mit mir verbracht hat, wollte sie sogar noch, nachdem ihr Versprechen an Peter eingelöst war, den Abend mit mir verbringen.

Ich sagte zu und zeigte kurz auf das Haus, in dem ich wohnte. Sie wollte gegen 20:00 Uhr bei mir klingeln.

Ich ging nach Hause und schaute dort übers Internet schwedische Nachrichten, da ich mit der Sprache vertraut werden wollte. Wie ich in den Nachrichten erfuhr, stöhnten auch die Schweden über die Hitze.

Um 21:00 Uhr, im Stillen hatte ich nicht mehr damit gerechnet, klingelte es an der Tür. Ich öffnete durch den Summer, hörte durch das Treppenhaus, wie die Haustür unten aufgeschlagen wurde, und lehnte mich gegen den Wohnungstürrahmen, während ich hörte, wie jemand die Treppenstufen hochstieg.

Es war wie erwartet Carola, die leicht pustend die Treppe hochkam. Nach dem Strandspaziergang und dem Stühletragen schien sie etwas geschafft zu sein.

Ich sagte irgendwas wie „Hallo“ und trat beiseite, sodass sie in die Wohnung konnte.

„Hast du was zu trinken“, kam es zurück. Ich hob ein Paket Multivitaminsaft Flaschen hoch. Carola nickte zustimmend.

„Was nun“, fragte ich, immer noch verwundert, dass sie auch den Abend mit mir verbringen wollte.

„Wollen wir uns auf einen von den Schiffsanlegern am Kanal setzen?“

Ich hatte nichts dagegen. Bei mir in der Wohnung waren es nur wenig unter 30°C, und auch wenn alle Fenster aufgerissen waren, stand die Luft. Da war es schön, noch einmal nach draußen zu kommen.

Am Kanal angekommen, setzten uns auf einen der Schiffsanleger, die auf den Kanal hinausragten, und an denen oft Binnenschiffe anlegten, um dort die Nacht zu verbringen. Unser Anleger war frei, ohne Schiff und ohne menschliche Konkurrenz, sodass wir uns ganz am Kopfende des Anlegers hinsetzen konnten.

Auch von diesem Gespräch weiß ich nur noch wenig. Ich weiß nur noch, dass es eine tolle Nacht war. Wir verstanden uns toll. Wir plauderten völlig locker, ohne dass irgendetwas Erzwungenes dabei war. Es waren immer noch gute 25°C draußen, wenn nicht sogar noch mehr. Eine friedliche Sommernacht. Ich fühlte mich in der Gesellschaft von Carola sauwohl, und ehe ich mich versah, war es ein Uhr morgens und es wurde für Carola Zeit zu gehen. Carmen und Hans waren sowieso schon auf sie sauer, weil der Abend eigentlich mit ihnen verplant gewesen war. Nun blieb denen am nächsten Morgen, bis dahin konnte Carola nur noch wenige Stunden schlafen, ein kurzer gemeinsamer Kaffee, an einem sehr frühen Frühstückstisch, bevor sie wieder nach Hannover fahren würde.

Carola gab mir noch ihre E-Mail-Adresse. Ich sollte ihr etwas Nettes auf Schwedisch schreiben. Sie sagte, dass sie ein Wörterbuch Deutsch/Schwedisch zu Hause hätte, und sich freuen würde, es mal benutzten zu können.

Dann gaben wir uns zum Abschied die Hand. Kühl, fast als wären wir Geschäftspartner, die sich, nach einem Meeting mit erfolgreichem Geschäftsabschluss, verabschiedeten.

Auf dem kurzen Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich hätte versuchen sollen, ihr einen Kuss aufzudrücken. Vielleicht nicht gleich auf den Mund, aber zumindest auf die Wange angedeutet. Der kühle Händedruck hatte so etwas Formelles gehabt, das hatte irgendwie den Schluss dieses tollen Abends, bzw. dieser Nacht, ziemlich blöd beendet.

Jetzt war es zu spät. Und was soll´s. Wenn sie wirklich in ein paar Wochen wieder nach Lübeck kommen würde, wohnte ich vielleicht schon in Schweden, oder bereitete gerade den Umzug vor. Und überhaupt, auch wenn wir uns toll unterhalten hatten, hatte Carola mir, da war ich mir sicher, irgendetwas verschwiegen. Es blieb etwas Unausgesprochenes zurück. Ihr Verhalten war zu verschieden gewesen, im Vergleich zu dem E-Mail-Intermezzo, von vor sechs Jahre, über das wir uns weder auf dem Schiffsanleger noch am Strand oder beim Frühstück unterhalten hatten.

So ging der Montag, der Dienstag, und auch der Mittwoch ins Land. Am Mittwochnachmittag war mein Widerstand dann endgültig gebrochen. Also schrieb ich ihr auf Schwedisch die zugesagte E-Mail.

„Ich hoffe es hat alles geklappt und du konntest den Mietvertrag für deine Praxisräume unterschreiben. Liebe Grüße. Berthold.“

Absenden? Oder löschen? Ich zögerte, drückte dann aber doch auf Senden. Dann war es für einen Rückzieher zu spät. Die E-Mail war weg, unterwegs nach Hannover. Mal sehen, ob eine Antwort kommen würde.

 

An nächsten Tag war das geplante Event der ARGE, bei dem ich mich um Hilfe für eine Bewerbung in Schweden kümmern wollte. Ich führte dort, wie meine ARGE-Sachbearbeiterin es mir schon vorgeschlagen hatte, das Gespräch mit der Mitarbeiterin für das „Projekt Profil 300. Da meine Sachbearbeiterin mich bereits dafür empfohlen hatte, das war eine Voraussetzung, um dort überhaupt teilnehmen zu können, und ich einen hoch motivierten Eindruck machte, wurde ich auch angenommen. Das Konzept des Projektes war ganz einfach. Fördere den Kandidaten, so wie er es möchte, solange seine Wünsche in irgendeiner Form machbar sind und nicht ausfallend, und dann mal sehen, was herauskommt. Das Objekt ging bis Ende des Jahres. Losgehen sollte es in der zweiten Septemberhälfte. Somit konnte ich, noch bevor das Projekt praktisch begann, wie erhofft, meinen Schwedenurlaub planen und durchführen.

Was war aber mit Carola?

Nach dem ARGE-Event schaute ich abends in meinen E-Mail Posteingang. Es gab dort einiges. Von Viagra zum Schnäppchenpreis, über einen garantierten Gewinn eines Mittelklassenautos, bis kostenlose Reisegeschenke war alles vertreten. Aber keine E-Mail von Carola. Also war alles doch nicht so heiß, wie ich es eventuell gefühlt hatte. War sicher auch besser so, da immerhin Schweden wartete, und das nun sogar in doppelter Hinsicht. Und ihr mieses Verhalten, das sie vor sechs Jahren an den Tag gelegt hatte, erinnerte auch noch daran, dass es wohl besser war, die Finger von ihr zu lassen.

Von Freitag bis Montag hatte ich so viel Stress, dass ich gar nicht daran dachte, mein E-Mail-Konto durchzusehen. Ich hatte noch ausgeliehenes Geld zurück zu bekommen, und da ich nun einmal selbst knapp bei Kasse war, musste ich schnell hinter dem Geld her drängeln, was wie immer auf wenig Gegenliebe stieß. Man sollte wirklich niemals Geld verleihen, erst recht nicht, wenn man eigentlich selbst gar nichts hat. Wer weiß, wann man es zurückbekommen würde. Und ich brauchte die Knete nun einmal für meine Schwedenreise.

Erst am Montagnachmittag schaffte ich es, glücklich mit ein paar Scheinen mehr in meinem Portemonnaie, mir mein E-Mail-Konto anzuschauen, und war überrascht eine E-Mail von Carola, die sie bereits gestern geschrieben hatte, im Posteingang zu finden. Sie bedankte sich in der E-Mail für meine netten Zeilen und schrieb, dass sie am Montag um 22 Uhr vor meiner Tür stehen würde.

Montagabend. - - Das war heute.

Puh. Was war das jetzt? Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich hatte mit einer Antwort gerechnet, nach dem Motto, „danke, dass du mir eine E-Mail geschickt hast, habe mich gefreut, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann“.

Aber nun wollte sie heute Abend hier bei mir aufschlagen.

Eine ganz kleine, leise Alarmglocke fing in meinem Kopf an zu klingeln. Nur leise, aber ich hörte sie.

Carola wohnte in Hannover. Wieso wollte sie heute Abend bei mir aufschlagen? Wieso wollte sie, wenn sie zufällig doch so kurzfristig erneut in Lübeck ist, mich nicht mit den vielen anderen, die sie ja nun am vorletzten Wochenende kaum gesehen hatte, und bei denen sie ja doch wohl einiges nachzuholen hat, in einer Kneipe treffen?

Und wenn sie sich nur mit mir treffen wollte, wo gedachte sie zu übernachten? Wieder bei Carmen und Hans, wie bereits vorletztes Wochenende, und die sie, durch ihre Treffen mit mir, sicher ziemlich verprellt hatte? Wollte sie sich abermals bei denen einquartieren, wenn sie ihre Zeit in Lübeck dann mit mir verbringen wollte? Wenn sie aber nicht nur mich sehen würde, und dann auch entsprechend bei anderen übernachtete, warum sollten wir beide uns bei mir treffen, und nicht im „alten Zolln“, im „Carrickfergus “, oder sonst wo?

Und wieso hatte sie nicht angerufen, um überhaupt zu fragen, ob ich Zeit habe, mich mit ihr zu treffen? Mich angerufen und nicht erreicht, hatte sie nicht, das hätte ich auf dem Telefondisplay gesehen.

Egal wie toll der Sonntag gewesen war, konnte die Frau doch nicht vergessen haben, was vor sechs Jahren passiert war. Und jetzt schickte sie wieder eine E-Mail, wo doch ein Anruf viel sinnvoller und kommunikativer gewesen wäre.

Nach dem Motto:

„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, ich bin am Wochenende wieder in Lübeck, wollen wir uns treffen?“

Oder:

„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, würde am Wochenende gerne zu dir kommen. Wollen wir was unternehmen? Müsste aber auch bei dir übernachten können.“

Aber anstatt zu telefonieren, einfach eine E-Mail, bei der man nicht einmal genug Zeit hat zu reagieren. Auch wenn Carola die E-Mail schon am Sonntag geschrieben hat, wusste sie doch nicht, wie oft ich in mein E-Mail Postfach schaue. Hatte Carola aus dem Desaster von vor sechs Jahren, das damals so heftig gewesen war, dass sie es nicht vergessen haben konnte, denn nichts gelernt?

Ein bisschen dämmerte mir der E-Mail Streit ins Gedächtnis, der sich vor sechs Jahren abgespielt hatte.

Damals hatte sie, obwohl ich persönlich und telefonisch erreichbar gewesen war, eine E-Mail an meine Firmenadresse geschrieben. Nun hatte sie, das war immerhin schon ein Fortschritt, an meine Privatadresse eine E-Mail geschickt. Aber sich per Mail selbst einzuladen, ohne zu wissen, ob man Zeit hat. Und wo will sie übernachten? Doch nicht etwa bei mir. Wir hatten uns, auch wenn der Sonntag wirklich toll gewesen war, nachts kühl mit einem Handschlag verabschiedet. Und überhaupt verabredet man sich doch nicht einfach so per E-Mail, sodass man nicht einmal rechtzeitig antworten kann, ob man überhaupt Zeit hat, und wie der Abend gestaltet werden soll. Zumindest tut man doch wohl so etwas nicht, wenn man sich im Grunde nicht kennt und keine Verbindung miteinander hat, wenn man einmal von dem E-Mail-Intermezzo von damals absah.

Will sie wirklich hier übernachten, ohne zu fragen, ob es mir passt? Was sollte ich tun? Anrufen? Ich hatte keine Telefonnummer. E-Mail? Wer weiß, ob sie die noch liest, bevor sie los fährt. Vielleicht ist sie ja sogar schon auf der Autobahn. Und selbst wenn sie die E-Mail rechtzeitig lesen würde, wann sollte sie dann antworten, um auf meine Absage, oder auf meine Frage, wie sie sich das Treffen vorstellt, wiederum per E-Mail zu reagieren? Immerhin war tolles Wetter. Ich wollte eigentlich nicht den ganzen Tag in der Bude hocken und auf einen Anruf von ihr warten.

Wollte sie mir die Möglichkeit nehmen, die Sache zu stornieren? Nach dem Motto: Hätte ich angerufen, hätte er vielleicht „nein“ gesagt. Wenn ich erst einmal vor der Tür stehe, wird er mich schon nicht rausschmeißen.

Ist das ihre Methode mit Situationen umzugehen, bei der man auf Zusagen von andern angewiesen ist? Einfach ein „Nein“ zu umgehen, in dem man gar nicht erst fragt, sondern einfach vollendete Tatsachen schafft?

Und auch nach dem Sonntagabend, bzw. der halben Nacht auf dem Schiffsanlegesteg, war immer noch nicht klar, wieso Carola am Samstagnachmittag so nervös gewesen war, dass sie um 14:00 Uhr schon ein Starkbier hatte trinken müssen, und wieso sie fast das ganze Wochenende mit mir zusammen verbracht hat, ohne mir zu sagen, warum sie so nervös gewesen war. Wenn es wegen ihres Verhaltens von damals gewesen war, hätte sie es ja, bei unserem gemeinsamen Spaziergang, oder abends auf dem Schiffsanleger aus der Welt schaffen können. Oder war da noch etwas anderes gewesen, weswegen sie an der alten Sache nicht rühren wollte?

Egal ob am Strand oder abends auf dem Schiffsanleger. Wir hatten wunderbar miteinander geplaudert. Sie hatte von Peters Geburtstagsfeier gesprochen, von ihren Plänen in Hannover. Ich von meinen Plänen in Schweden. Und da wir alleine schon fast vier Stunden auf dem Steg gesessen hatten, mussten wir auch noch über andere Dinge gequatscht haben. Über was weiß ich nicht mehr. Aber es war nicht, nicht einmal andeutungsweise, zu einem Gespräch über eine nähere engere Beziehung zwischen uns beiden gekommen. Und Hände halten, gegenseitiges Anlehnen oder sonstige Annäherungsversuche, hatten wir auf dem Schiffsanleger auch nicht, nicht einmal andeutungsweise durchgeführt. Und nun heißt es plötzlich „bin gleich da“.