Ein fast perfekter Winter in St. Agnes

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Rogers Laune sank noch mehr als ohnehin.

Leider hatte er nicht nur Touristinnen abgeschleppt, sondern sogar aus der Bank die eine oder andere mit nach Hause genommen. Ein fataler Fehler, der ihm nun nachhing. „Du bist ein nettes Mädchen, Larissa, und hast einen guten Kerl verdient.“ Zu seinem Unglück verband sie mit ihrer ersten gemeinsamen Nacht mehr als ihm lieb sein konnte und lief ihm seit Monaten nach. Während seiner Trinkerei griff er dummerweise des Öfteren auf sie zurück, sofern er keine andere bei der Hand gehabt hatte. Damit schürte er ihre Hoffnung natürlich, dass sich etwas Festes daraus entwickeln könnte. „Ich bin nicht der Richtige für dich, denn ich werde mich in mancher Hinsicht nie ändern. Vor allem was Frauen betrifft. Allerdings sage ich ab jetzt von vornherein, dass ich keine Beziehung will. Das habe ich in der Vergangenheit nicht getan und es war nicht fair. Vor allem Frauen wie dir gegenüber.“

„Liebe kann wachsen“, blieb sie eisern und setzte ein seliges Lächeln auf.

„Das wird nicht passieren.“ Roger erhob sich und schob die Papiere zusammen. „Für eine Beziehung bin ich nicht gemacht. Frag meine Verflossenen.“ Er hörte, wie hart sie schluckte und blickte hoch. „Du bist fünfundzwanzig, hübsch und intelligent, Larissa. Vergeude nicht deine Zeit mit mir und bitte lass uns den Umgang zukünftig auf das Geschäftliche beschränken.“

Plötzlich schimmerten Tränen in ihren braunen Augen, die etwas heller waren als Emmas. „Alle Welt hat mich vor dir gewarnt“, wütete sie mit bebender Brust. „Du bist tatsächlich ein arroganter selbstverliebter Schnösel und es stimmt: Einer, der seine Frau kurz nach der Hochzeit betrügt und sein Kind im Stich lässt, ist nicht einmal den Dreck unter den Schuhen wert. Du kannst mich mal!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro mit lautem Türknallen.

Roger sank auf seinen Stuhl zurück.

Larissas Szene war vorhersehbar. Trotzdem regte es ihn auf. Vor allem, weil er das selbst verbockt hatte! Hinzu kam die Pleite mit Trish. Im ganzen Dorf wurde hinter seinem Rücken gemauschelt. Ehebrecher! Schäbiger Vater! Betrüger … dabei wusste niemand, was Trish ihm zugemutet hatte!

Schon vor der Hochzeit hatte man ihm gesteckt, dass die Gute nicht von ihm schwanger wäre. Er hielt es für Blödsinn, bis zu seinem Junggesellenabschied. Erneut wurde er mit den Gerüchten konfrontiert. Vermutlich hatte er kalte Füße bekommen und Annie deswegen angemacht. Oder er wollte sich unbedingt etwas beweisen. Vom Alkoholpegel ganz zu schweigen. Doch das Misstrauen trug Früchte. Zwei Tage vor der Trauung hatte er Trish zur Rede gestellt. Sie stritt alles ab und er glaubte ihr nur zu gern. Bis an ihrem Hochzeitstag die Wehen einsetzten. Sie mussten die Feier unterbrechen, worüber Trish mehr als erbost gewesen war. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde sie vollends hysterisch. Als sie erneut stritten, knallte sie ihm die ganze Wahrheit ins Gesicht. Wer immer der Vater des Babys war, Roger kam nicht infrage und würde Trishs Kaltschnäuzigkeit nie vergessen.

Deshalb suchte er das Weite, sobald sie im Krankenhaus versorgt war. Für jeden sah es so aus, als hätte er sie gnadenlos im Stich gelassen. Im Grunde stimmte es ja. Nur hatte keiner die geringste Ahnung, wieso er es tat. Zwar versuchten sie danach einen Neubeginn, aber sie rieben sich nur gegenseitig auf. Sein einziger Lichtblick war Lucas gewesen. Obwohl der Junge nicht sein Sohn war, hatte er ihn von Anfang an ins Herz geschlossen und sich mehr um ihn gekümmert als Trish. Das führte zu weiteren Spannungen und Roger in den plötzlichen Wahn, Annie wiederhaben zu wollen. Er hatte sich regelrecht in die Vorstellung hineingesteigert. Wahrscheinlich, weil sie so anders war als Trish. Aufrichtiger, liebevoller.

Roger wurde beinahe übel beim Gedanken daran, was er in der Vergangenheit alles gesagt und getan hatte. Vieles flog ihm um die Ohren, seitdem er mit sich selbst ins Gericht ging. Mit dem Menschen, der er geworden war. Doris hatte ihm in dieser Zeit am meisten geholfen. Als eine der wenigen trat sie ihm neutral entgegen und wusste inzwischen über alles Bescheid. Auch darüber, dass er unter der Trennung von Lucas litt. Aber mit Trish war nicht zu reden gewesen, als er sie in London um Besuchserlaubnis bat. Nur die Höhe des Unterhalts interessierte sie. Denn ob Lucas sein Sohn war oder nicht, er war während ihrer Ehe geboren worden und somit galt Roger als Vater. Obwohl er nichts von ihm hatte. Vielleicht war das von Anfang an Trishs Plan gewesen. Sie hatte einen Dummen gesucht, der sie versorgte. Gut versorgte, angesichts der horrenden Unterhaltsforderungen.

Doris hatte wie ein Rohrspatz über Trishs Verhalten geschimpft und stand ihm in dieser schwierigen Sache bei. Nun brauchte seine Nachbarin selbst Hilfe und er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Finanziell gab es nichts bei ihm zu holen. Die Raten für das Haus verschlangen sein halbes Gehalt. Allerdings würde Doris sowieso keinen Cent von ihm annehmen. Also musste er andere Wege finden, um ihr zu helfen. Unbemerkt, denn sie hatte einen ausgeprägten Stolz. Obwohl sie ihn sich nicht leisten konnte. Aber die Pension bedeutete ihr alles und war ihr Lebenswerk.

Zuversichtlicher als er war, prüfte Roger neuerlich die Unterlagen. Mit demselben Ergebnis wie Larissa zuvor. Die Pension würde über kurz oder lang Bankrott machen.

Bis zum späten Nachmittag zermarterte er sich den Kopf darüber, was er tun könnte. Erst als er sich nach Dienstschluss im Feinkostladen ein Brötchen holen wollte, kam ihm eine Idee mit Blick zum gegenüberliegenden Tourismus-Büro. Voller Unbehagen schritt er darauf zu. Als er das Gebäude betrat, blickte Josie hinter dem Empfang hoch. Ihr Lächeln verschwand sofort. Übrig blieb eine grimmige Miene.

„Was willst du?“, begrüßte sie ihn und kaute heftig am Kaugummi. Ihr Haar war mittlerweile länger und sie trug einen türkischen azurblauen Seidenkaftan. Da Josie für ihren wechselnden Modestil bekannt war, schien sie geradezu prädestiniert dafür, um hier zu arbeiten und die internationalen Gäste zu empfangen. Außerdem beherrschte sie angeblich fünf Fremdsprachen, da sie seit ihrem Umzug nach St. Agnes laufend Fortbildungskurse in Redruth besuchte.

„Du könntest mir einen großen Gefallen tun.“

„Dir tu ich bestimmt keinen Gefallen“, versprühte Josie weiter ihr Gift.

„Können wir nicht normal miteinander umgehen?“

„Du hast Annie übel mitgespielt. Da sie meine beste Freundin ist, erübrigt sich deine Frage, wie du dir sicher denken kannst. Außerdem fehlt mir jeglicher Respekt vor dir. Du legst alles flach, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“

„Stimmt“, nahm er ihr den Wind aus den Segeln. „Ich war ein Schwein und Annie hat einen wie mich nicht verdient.“ Allmählich fühlte er sich wie ein Plattenspieler, der ständig dasselbe Lied abspielte. „Aber sie ist jetzt glücklich. Das freut mich. Glaub es oder nicht.“

„Wer soll dir diese Läuterung abnehmen?“ Bei jedem Atemzug glitzerte der breite silberne Rundhalsausschnitt mit den vielen Glitzersteinchen. „Sorry, aber ich bin nicht der Papst. Selbst der hätte seine Zweifel bei deiner Biografie.“

„Hilfst du mir nun oder nicht?“ Josie überhaupt in Betracht gezogen zu haben schien einer seiner dümmsten Einfälle gewesen zu sein.

„Wieso? Soll ich dir Hotels nennen, in denen junge Frauen abgestiegen sind? Findet sich ansonsten keine Touristin für den notgeilen Sanders?“

Die ständigen Spitzen taten allmählich weh. „Es geht um Doris.“

Ihr verkniffenes Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Immerhin zählte Doris zu den Legenden des Ortes und man ließ die ältere Generation in St. Agnes hochleben. „Was ist mit ihr? Ist sie krank?“

„Das nicht, aber sie kommt finanziell kaum über die Runden. Könntest du ihr vielleicht regelmäßig ein paar Gäste vermitteln?“

„Wie soll das gehen?“ Jetzt hatte ihre Stimme wenigstens einen normalen Ton.

„Na ja, bei dir schneien täglich Touristen herein, um sich nach freien Zimmern zu erkundigen. Du könntest Doris’ Privatpension empfehlen.“

„Dir ist schon klar, dass ihr Haus den heutigen Standards nicht mal im Ansatz entspricht? Weder hat sie Internetanschluss noch TV-Geräte in den Zimmern. Das Klo ist am Gang und es gibt nur eine Gemeinschaftsdusche. Von der alten Einrichtung ganz zu schweigen.“

„Mag sein, dafür ist die Lage ein Traum“, versuchte er ihr die Sache schmackhaft zu machen, obwohl ihm klar war, dass er eine Fachfrau vor sich hatte. „Lass uns Doris helfen.“

Josie kniff die Augen zusammen. „Sieh an, du hast ja doch Gefühle“, murmelte sie. „Gut. Ich werde mein Bestes geben, aber versprechen kann ich nichts.“

3. Kapitel


Emma starrte auf das Lesezeichen vor sich auf dem Tisch und hatte keine Ahnung, wie sie zu Lindas Appartement gekommen war. Weil sie sich wie ferngesteuert fühlte und so viele Fragen hatte, die auf so vieles eine Antwort wären.

„Ich bin zuhause, Liebling“, flötete Linda lachend zur Wohnungstür herein. „Und ich habe jemand mitgebracht.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, kam sie mit Grant im Schlepptau ins Wohnzimmer. Beide blieben jäh stehen. „Du liebe Zeit, ist etwas passiert?“

Wortlos schob Emma das Lesezeichen in Lindas Richtung. Mit dem Gefühl, als würde sie heißes Eisen anfassen.

„Was ist das?“, wunderte sich ihre Freundin, schlüpfte aus den beigen High Heels und trat zum Tisch. Grant folgte ihr und beäugte neugierig das Lesezeichen, das Linda in die Hände nahm, die in Angora-Handschuhen steckten. Ihre Freunde hatten gut durchblutete Wangen und dufteten nach frischer Winterluft. „Eine Telefonnummer?“ Auf einmal erhellte sich Lindas Gesicht. „Etwa von Mr. X?“

 

„Ich denke, sie ist von meinem Dad“, stellte Emma richtig. Unwissend, ob es tatsächlich so war, denn es klang seltsam. Immerhin hatte sie einen Vater. Seit einunddreißig Jahren. Dennoch ließ dieses Lesezeichen einen anderen Schluss zu.

„Und das wirft dich so aus der Bahn?“ Linda setzte sich, während Grant mit beiden Händen die Sessellehne umspannte und Emma mit einem ähnlich fragenden Blick bedachte wie ihre Freundin.

„Lies die Rückseite“, forderte Emma sie auf.

Linda drehte das Lesezeichen um. „Wir finden eine Lösung, Claire“, las sie laut vor. „Besonders für die Kleine. Bitte lass uns darüber reden. Ich werde bei der Wheal Coates Mine auf dich warten. Um zehn Uhr, an Silvester, unserem Tag. Dein R., Dezember 1986.“ Linda schaute vom Lesezeichen zu Emma und wieder zurück. Ihre Lippen bewegten sich, als sie sich erneut in die Zeilen vertiefte.

„Was bedeutet das?“, fasste sich Grant als Erster, der zwischen Emma und Linda Platz nahm. Umständlich wie ein alter Mann. Bei jeder Bewegung hörte man ein Knacken in seinen Knochen. „Woher hast du das Lesezeichen überhaupt?“ Er zog sich die graue Kappe vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Die obligatorische Brille fehlte. Hin und wieder griff er zu Linsen, wenngleich ungern. Nicht selten zog er sich eine satte Augenentzündung zu. Da er aber blind wie ein Maulwurf war, konnte er weder auf das eine noch auf das andere verzichten.

„Aus der Tasche meiner Mutter“, erteilte Emma Auskunft.

Abrupt schaute Linda hoch, die allmählich zu begreifen schien, worauf Emma hinauswollte. „Du bist im selben Jahr geboren. Könnte es sein, dass du …“, sie räusperte sich, als hätte sie einen Frosch im Hals, „all die Jahre recht hattest und Ben in Wahrheit nicht dein leiblicher Vater ist?“

„Es würde vieles plausibler machen“, rief Emma aus, die sich völlig überfordert fühlte. „Die Tatsache, dass meine Geschwister mehr gelten als ich. Meine Gefühle, ein Fremdkörper zu sein und das Äußere. Tiff und Kim sind beide blond wie … Dad es früher war.“ Es fiel ihr plötzlich schwer, Ben so zu nennen. „Nur Mom hat schwarze Haare.“

„In der Tat wäre es möglich“, bestätigte Grant ihren Eindruck, der den Reißverschluss seines Parkas öffnete. Das Geräusch war für einen Augenblick das einzige im Raum. „Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass sie das vor dir verheimlichen. So gemein kann kein Mensch sein.“

„Darauf würde ich keine Wette abschließen“, meinte Emma mit einem metallischen Geschmack auf der Zunge.

„Jetzt brauche ich ein Cola-Rum“, ließ Linda verlauten, legte das Lesezeichen auf den Tisch und erhob sich. Im Nu zog sie sich die Handschuhe aus und warf sie achtlos neben die Vase. „Wollt ihr auch eins?“ Grant und Emma nickten. Nur eine Minute darauf standen randvolle Gläser vor ihnen.

Wie die anderen sog Emma kräftig am gelben Strohhalm. Lindas Lieblingsgetränk war ziemlich stark. „Wenn das so weitergeht, werde ich über kurz oder lang an der Flasche hängen“, sagte sie mit Galgenhumor, nachdem sie sich zurückgelehnt hatte und deutlich die starre Sessellehne spürte. Als stünde sie mit dem Rücken zur Wand. Nicht anders war diese Situation zu beschreiben.

„Was mich nicht wundern würde.“ Grant schälte sich aus seinem Parka und hängte ihn über die Stuhllehne. Linda trug nach wie vor ihren beigen Kurzmantel und als würde sie sich erst jetzt darauf besinnen, zog sie sich die Baskenmütze vom Kopf. Schwungvoll landete sie neben dem Lesezeichen, das wie ein Brandmark vor Emma lag. „Wo ist dieses Wheal Coates eigentlich? In St. Agnes?“

Emma nickte. „Ich habe vorhin gegoogelt. Es gehört zu den Wahrzeichen des Ortes und sieht auf den Bildern ziemlich romantisch aus. Eine alte Zinn-Mine, sofern ich richtig gelesen habe.“

„Was willst du jetzt mit den Informationen anfangen?“, erkundigte sich Linda.

„Keine Ahnung.“ Emma schaute auf ihr Handy. Bis zu ihrem Besuch bei Camilla hatte sie es ausgeschaltet, da Tiff in Fünf-Minuten-Abständen anrief. Seitdem sie die Bücherei verlassen hatte, war es wieder in Betrieb. Irrwitzigerweise hoffte sie, dass sich ihre Mutter wegen dem fehlenden Lesezeichen melden würde. Inzwischen müsste sie die Tasche längst haben. Inklusive der Information, dass Emma das Lesezeichen bei ihrem überstürzten Aufbruch in der Hand hielt, was ihrer Tante sicher nicht entgangen war. Doch es war wiederholt Tiff, die anrief. „Es fühlt sich an, als wäre mein bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen“, stieß Emma aus. „Nicht genug, dass sie mir vermutlich den Vater vorenthalten haben, strafen sie mich sogar mit Gleichgültigkeit. Wer weiß, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich ihn gehabt.“

„Das sind reine Spekulationen“, gab Linda sanft zu bedenken. „Vielleicht war er ein ganz mieser Kerl, vor dem sie dich beschützen wollten.“

„Denkst du das wirklich?“ Emma verließ den Tisch, weil sie es nicht mehr aushielt, und stellte sich zum Fenster. Sanft plätscherte die Themse vor sich hin. Über die Jubilee Bridge strömten viele Menschen mit ihren bunten Regenschirmen. Trist und grau zog der Abend heran, gegen den sich allmählich die Lichter der Stadt behaupten würden. Ob auf dem Riesenrad London Eye, hinter den Fenstern des Westminster Palace oder am Big Ben, den man ebenfalls von hier aus sehen konnte. Offiziell der Elisabeth Tower, da nur die schwerste der fünf Glocken Big Ben hieß, aber wie viele Londoner benutzte auch Emma die alte Bezeichnung für den Turm. Manches änderte sich eben nicht aufgrund eines Namens. Manches jedoch schon.

Wie dieser R. wohl aussah? Ob sie ihm ähnlich war? In der Art? Im Äußeren? War er gutmütig? Eigen? Besaß er Humor? Doch in der Tat waren es nur Hypothesen. Vielleicht hatte jemand ein Zitat aus irgendeinem Buch auf das Lesezeichen geschrieben. Mit dem Namen ihrer Mutter. Aus Jux oder Tollerei. Eine von vielen Erklärungen, die sich trotz aller Vernunft nicht richtig anfühlten. Weil Emma etwas Unbeschreibliches empfand. Ein Gefühl, als würde sie nach langem Herumirren in einem Labyrinth zum ersten Mal den Ausgang sehen. „Glaubt ihr, dass ich mich zu sehr hineinsteigere?“ Sie wandte sich zu ihren Freunden um und setzte sich auf die weiche mintgrüne Sitzauflage, die auf der breiten Fensterbank lag.

„Ich kann verstehen, dass dich das stutzig macht“, antwortete Grant, der einen erbsengrünen Pullunder mit V-Ausschnitt über dem weißen Hemd trug, eine graue Fliege und eine schwarze Bundfaltenhose. Sein altmodischer Kleidungsstil hatte schon die Aufmerksamkeit einiger Scouts auf sich gezogen, die Bilder von ihm auf Instagram veröffentlichten. „Wen würde es nicht zum Nachdenken bringen? Sicherheit wirst du jedoch erst haben, wenn du deine Eltern damit konfrontierst. Auch Gesten oder Reaktionen können eine Antwort sein, ohne dass jemand den Mund aufmacht. Verlass dich auf deinen Bauch, Emma. Womöglich hat er dir von Anfang an das Richtige gesagt.“

„Ich muss Grant beipflichten.“ Hastig sog Linda am Strohhalm, deren Glas beinahe leer war. „Du hattest einen Verdacht. Jetzt hat er sich erhärtet. Finde heraus, was es damit auf sich hat. Nur bitte verliebe dich nicht bereits jetzt in den Gedanken, dass du einen anderen Vater hast. Einen, der dich lieben wird. Bei dem du es gutgehabt hättest. Ich weiß, das hast du dir immer gewünscht. Allerdings ist das Leben kein Wunschkonzert und nicht jeder Mann ist automatisch ein guter Dad. Aber wem sage ich das.“

„Keine Sorge, ich mache mir keine Illusionen, denn mir ist bewusst, dass alles möglich sein kann“, versicherte Emma. „Obwohl ich das seltsame Gefühl nicht ignorieren kann.“

„Was ist eigentlich mit der Telefonnummer?“, warf Grant ein.

„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Es wäre auch zu einfach gewesen.

Die Türglocke setzte ihrem Gespräch ein jähes Ende.

„Das wird der Pizzalieferant sein.“ Linda sprang vom Tisch hoch und knöpfte hastig den Mantel auf. „Ich habe mir am Nachmittag erlaubt, eine Kleinigkeit für uns zu bestellen. Wir haben ja deinen Geburtstag nicht gefeiert und unser Geschenk hast du ebenfalls nicht bekommen. Also lasst uns das Beste aus diesem Abend machen.“ Mit schwingenden Hüften und dem Mantel über dem Unterarm eilte Linda in den Korridor hinaus. „Was willst du denn hier?“, ertönte plötzlich ihre schrille Stimme.

„Ist meine Schwester bei dir?“

Tiff!

Wie von einer Tarantel gestochen stürzte Emma zum Tisch und schnappte sich das Lesezeichen, das sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans schob. Gerade rechtzeitig, weil Tiff bereits im Türrahmen erschien und sie mit funkelnden Augen anstierte.

„Ich habe dich nicht hereingebeten“, schimpfte Linda, die sich drohend neben Tiff aufbaute.

„Reg dich ab. Ich bin gleich weg. Eigentlich wollte ich nur nach meiner ach so kranken Schwester sehen, die uns heute kläglich im Stich ließ.“

„Mir geht es wirklich nicht gut“, verteidigte sich Emma. Wie armselig. Kaum kreuzte Tiff auf, kuschte sie. Dabei war sie eine erwachsene Frau, keine Leibeigene oder ein kleines Kind.

„Das sehe ich.“ Tiff blickte zum Tisch. „Gibt es etwas zu feiern?“

„Mit Cola?“, machte sich Linda lustig über sie. „Ich bitte dich.“

„Deinem Atem nach ist es mit Rum gestreckt“, konnte sie Tiff nichts vormachen, die wieder umwerfend aussah in ihrem schwarzen Satinmantel mit dem Leopardenmuster auf der Schulter und den kniehohen Lack-Stiefeln, die schmutzige Abdrücke auf dem glänzenden hellbraunen Marmorboden hinterließen. „Warum starrst du mich so an, Emma?“, fragte Tiff schnippisch. „Neidisch, weil ich im Gegensatz zu dir vorzeigbar bin?“

Ihre Annahme war nicht weit hergeholt, denn Brandons Vorwurf hämmerte in Emmas Kopf. Es stimmte, dem Vergleich mit den Schwestern hielt sie niemals stand. Besonders was Tiff betraf.

„Falls du gekommen bist, um Emma zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen“, sprang Linda für sie in die Bresche. Eigentlich hätte Emma etwas in der Art sagen müssen. Um endlich klarzumachen, dass sie sich nichts mehr gefallen lassen wollte.

„Irrtum. Ich bin hier, um sie zur Vernunft zu bringen“, wurde Tiff unwirsch. „Die Belegschaft musste den Gästen laufend erklären, warum es keine frischen Eclairs gibt. Einige haben sogar mit schlechten Kritiken im Internet gedroht. Deshalb will ich wissen, ob ich morgen auf dich zählen kann, Emma.“

„Wir werden sehen“, rang sie sich zu einem halben Widerwort durch und tat nach außen hin cool. Leider wusste Tiff genau, welchen Schalter sie betätigen musste, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Zu sehr fühlte sich Emma für die Mitarbeiter verantwortlich.

„Schön“, äußerte sich ihre Schwester mit säuerlicher Miene. „Du musst selber wissen, was du tust. Aber ich könnte nie so egoistisch sein und meine Kollegen mitten im Weihnachtsgeschäft alleinlassen. Nun ja, nicht jeder ist verlässlich. Also amüsiere dich gut. Ich hoffe, du erstickst am Rum.“ Wütend stapfte sie hinaus. Als die Tür ins Schloss fiel, blickten sich Emma, Linda und Grant an.

„Eigentlich haben wir stimmungsmäßig neuerlich keinen Grund zum Feiern“, meldete sich Linda zu Wort, die sich schüttelte, als hätte sie den Leibhaftigen gesehen. Emma ging es ähnlich, nur dass sie das Lesezeichen wie ein Damoklesschwert über sich spürte. „Andererseits ist das der beste Grund, um es erst recht zu tun. Also, Leute, lasst uns heute Abend alles vergessen.“


Es war erst sechs Uhr morgens. Dennoch stand Emma in der Backstube. Ungeachtet der langen Nacht mit ihren Freunden, die ihr einen roten Sitz-Überzug für Reddy geschenkt hatten. Plüsch für die kalten Tage. Die beiden waren grandios.

Doch die Freude darüber konnte ihre innere Rastlosigkeit nicht auf Dauer verdrängen. Stundenlang hatte sie sich im Bett gewälzt und sich gefragt, wie sie die Sache angehen sollte. Denn dass sie dem nachgehen musste, stand fest. Sonst würde sie keine Ruhe finden. Deswegen war Emma unter anderem in die Konditorei gekommen. Beim Backen kamen ihr oft die besten Ideen. Außerdem half ihr diese Tätigkeit, um sich zu entspannen. Ein weiterer Grund waren die Angestellten. Das Weihnachtsgeschäft war tatsächlich jedes Jahr der reinste Horror und die Nerven aller lagen blank. Das musste sie nicht zusätzlich schüren, indem sie fehlte. Für Tiff hätte sie hingegen keinen Finger krummgemacht.

Das Wasser mit der Butter kochte auf. Emma hatte eine Prise Salz und etwas Zucker dazugegeben. Das Mehl stand neben dem Herd wie der kleine Messing-Streuer mit ihrer Geheimwaffe. Ein selbst kreiertes Gewürz, das den Eclairs den unnachahmlichen Geschmack verlieh. Unter anderem bestand es aus der Tonka-Bohne, echtem Süßholz, Kardamon, Chili, Koriander, Bourbon-Vanille und einem Hauch Kalu Namak. Im Winter erweiterte sie das Gewürz gerne mit Anis, Zimt, Pfefferminze oder Nelken. Im Frühjahr und Sommer griff sie zu Rosenblüten, rosa Pfeffer, getrockneten Blumen oder Kräutern. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Allerdings musste man auf die korrekte Dosierung der Zutaten achten, damit sich das Aroma in den Eclairs perfekt entfalten konnte. Natürlich sollte auch die Füllung dazu passen, die eine Kunst für sich war. Diese Arbeit und das Dekorieren liebte sie am meisten.

 

Mittlerweile kochte es im Topf. Emma reduzierte die Hitze und fügte das Mehl hinzu. Danach rührte sie, bis der Teig glatt wurde und sich vom Boden löste. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, zog sie den Topf vom Herd, damit die Masse abkühlen konnte.

Diese Zeit nutzte sie, um das übriggebliebene Schwarzgeschirr zu waschen. Vermutlich hatte ihr Vater ausgeholfen - oder zumindest der Mann, den sie bisher dafür hielt.

Emma riss sich sofort zusammen, mit Lindas Ermahnung im Hinterkopf. Es würde sich alles weisen. So oder so. Zuerst musste sie sich um die Arbeit kümmern, denn es sah fast so aus, als hätten gestern alle fluchtartig die Konditorei verlassen. Im Gastraum bot sich kein besseres Bild. Allerdings war sie vor zwei Tagen ebenfalls abgehauen. Deswegen war es nur gerecht, dass sie jetzt den Angestellten hinterher putzte.

Als zumindest die Küche wieder glänzte, widmete sich Emma der inzwischen warmen Masse und bestreute sie mit ihrem Geheimgewürz. Danach rührte sie ein Ei hinein. Nicht mit der Küchenmaschine oder dem Handmixer, wie es die meisten taten. Die Maschinen hatten kein Herz und keine Seele. Mit Liebe zu backen hieß, vieles von Hand zu machen. Auch wenn es anstrengender war. Emma glaubte jedenfalls fest daran, dass man den Unterschied schmecken konnte und arbeitete auf dieselbe Weise die restlichen Eier ein.

Als der Teig eine seidige Konsistenz hatte, füllte sie den Spritzsack damit und schob kurz danach die gefüllten Bleche ins Backrohr. Währenddessen bereitete sie eine weitere Masse vor, da sie auch herzhafte Eclairs anboten, süß-herbe oder anderes. Drei Stunden später stapelten sich die gefüllten Leckereien im Kühlraum. Nach einer Weile gesellten sich auch Cupcakes, zwei Torten und ein Apfelkuchen dazu, den sie nach einem alten Rezept buk, das sie vor Jahren in einer Zeitschrift gefunden hatte. Ohne Brimborium, was ihn gerade deshalb zu etwas Besonderem machte.

Um halb zwölf trudelten schließlich die Servicekräfte ein, denen Emma zur Hand ging, da sie wie jeden Tag um dreizehn Uhr aufsperrten. Früher war das anders gewesen. Der Vater hatte in aller Früh aufgemacht, doch Tiff führte neue Öffnungszeiten ein. Natürlich kam sie auch heute fast pünktlich mit den ersten Gästen zum Dienst und verzog sich sofort in ihr Büro neben dem Eingang.

Emma füllte laufend die Vitrinen mit Eclairs, Kuchen und Torten nach. Dann und wann half sie dem Servicepersonal hinter der Bar und wusch die Gläser ab. Am Nachmittag war die Konditorei brechend voll, trotzdem musste Tiff unbedingt zur Maniküre und blieb drei Stunden weg. Dabei hätten sie jede helfende Hand brauchen können.

„Geht es Ihnen wirklich besser?“, fragte Alice, mit der Emma die Gläser polierte. „Sie sehen etwas blass aus und hätten sich auskurieren sollen, statt zu arbeiten.“

„Es geht schon“, wich Emma aus. „Davon abgesehen kann ich euch nicht im Stich lassen.“ Zumindest das war nicht gelogen.

„So wie es Ihre Schwester laufend tut?“, erkundigte sich die Zwanzigjährige spitz. Alice studierte Psychologie und wohnte in einer WG. Ursprünglich kam sie aus Irland, wo ihre Eltern eine Farm besaßen. „Verzeihen Sie, das hätte ich nicht sagen sollen.“

„Stimmt. Du bist gefeuert, Alice!“, zischte Tiff, die plötzlich hinter ihnen stand.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, ergriff Emma Partei für das Mädchen, das leichenfahl wurde. Alle wussten, wie dringend sie den Job brauchte. London war ein teures Pflaster.

„Im Gegenteil.“ Tiff verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sortiere aus und du bist die Nächste, wenn du noch einmal so mit mir sprichst, Emma. In der Konditorei bin ich deine Chefin, nicht deine Schwester, weshalb es keinerlei Narrenfreiheit für dich gibt.“

Emmas Herz raste und eine unbändige Wut erfasste sie. Es reichte! Das Fass war übergelaufen. Genau genommen war es das längst. „Narrenfreiheit? Mein Name ist Emma und nicht Tiffany!“ Zornig stellte Emma das Glas auf den Tresen und warf das Tuch daneben hin. Alice stand immer noch reglos da. „Du kommst und gehst, wann es dir passt. Kein Wunder, dass uns das ärgert. Alice hat nur ausgesprochen, was wir alle denken.“

„Du hast keine Ahnung, wie egal mir das ist.“ Allmählich wurden die Gespräche an den Tischen leiser. „Ihre Aussage war respektlos und ein Imperium wie unseres braucht eine harte Hand. Tanzt mir einer auf der Nase herum, tut es der Nächste ebenfalls und meine Arbeitsleistung steht ohnehin nicht zur Debatte. Davon abgesehen ließ Alices Einsatz in den letzten Wochen sehr zu wünschen übrig.“

„Sie ist eine der Fleißigsten!“ Emma bemerkte, dass das Mädchen gegen die Tränen ankämpfte.

„Du solltest jetzt besser den Mund halten“, warnte Tiff sie.

„Sonst was?“, zeigte sich Emma angriffslustig. Tiff hatte sie nicht nur auf dem falschen Fuß erwischt, sondern mit ihrem Verhalten Alice gegenüber eine Schleuse geöffnet. Nebenbei tat die Sache mit dem Lesezeichen ihr Übriges.

„Kannst du dir das nicht denken?“ Tiff zog die Augenbrauen zusammen. „Obwohl das zu viel verlangt wäre. Im Denken warst du nie eine Leuchte. Lieber hast du geheult über dein ach so schlimmes Dasein.“

„Woran du nicht unschuldig bist“, warf Emma ihr vor. „Du egoistische, berechnende und intrigante Schnepfe!“ Nie zuvor hatte sie so mit ihrer Schwester gesprochen oder sich vor den Angestellten mit ihr gestritten, die sie mit offenem Mund anstarrten. Sogar Tiff stand wie vom Donner gerührt da. „Von klein auf hast du ständig versucht, mir alles wegzunehmen, das mir wichtig war. Notfalls mit eiskalten Mitteln. Aber hast du ein schlechtes Gewissen? Nein, du beutest mich ohne mit der Wimper zu zucken aus und ich dämliches Schaf lasse das zu. Doch das hat ein Ende, weil ich nicht mehr für dich arbeiten will, du … du …“ Ihr fiel kein passendes Schimpfwort ein, und jene, die ihr in den Sinn kamen, wollte sie den Anwesenden nicht zumuten. „Ich kündige, und zwar fristlos.“ Tiff schnappte nach Luft. „Such dir eine andere Dumme, die für dich die Drecksarbeit macht. Ich bin raus.“ Emma zog an der Masche ihrer Schürze, zerrte sie sich förmlich vom Körper und schleuderte sie Tiff vor die Füße. Dann eilte sie in die Küche, um ihre Tasche zu holen und das Geheimgewürz einzustecken. Im Gastraum zurück, drängte sie sich an ihrer Schwester vorbei. Als Emmas Blick jedoch auf den roten Kapuzenmantel fiel, der am Haken der Bürotür hing, blieb sie wie gelähmt stehen.

„Gehört der Mantel dir?“ Bleiern wandte sie sich Tiff zu, die sie spöttisch von oben bis unten betrachtete.

„Eifersüchtig auf das Einzelstück?“ Ihr Lachen war widerwärtig.

Du bist Brandons Affäre?“, flüstere Emma ungläubig. „Mein Mann hat mich mit der eigenen Schwester betrogen?“ Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum. „Wie konntest du nur?“

„Du kennst seine Einstellung. Für ihn warst du nur das hässliche kleine Entlein. Welcher Mann gibt sich nicht lieber mit dem schönen Schwan ab? Tja, und Angie ist unser Codewort gewesen, wie meine ständigen Dates nur erfunden waren.“

Alle Blicke waren auf Tiff gerichtet. Entsetzte und angewiderte. Selbst das schien sie nicht zu merken, wie sie nichts mehr um sich herum merkte. Vielmehr fühlte sie sich scheinbar über alles und jeden erhaben. Im Recht. Sogar jetzt noch. „Du widerst mich an, Tiff.“