Geliebter Unhold

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Ich weiß, was du ihr angetan hast, Prinz Unhold.

*~*~*

Der Tag verging in Windeseile, kaum war er angebrochen, verabschiedete sich die Sonne bereits wieder und ging mit einem letzten Aufbäumen in einem roten Inferno am Himmel über der weißen Hauptstadt Solitude unter. Ein Spektakel, an dem sich Kacey nie sattsehen konnte. Dieser heiße, brennende Himmel, durchzogen von einer Nova aus Licht und Wolken, die über dem satten, grünen Blätterdach des Urwaldes unterging, der die Stadt wie eine dichte Mauer umgab.

Er sah es sich jeden Abend an, vom Balkon seiner neuen Zimmer aus – die er von dem vorherigen Magister übernommen hatte – oder von den perfekt gepflegten Gartenanlagen der Akademie. Selbst wenn er wie in den letzten Tagen Stunde um Stunde in Arbeit versunken war.

Einige Schüler waren tatsächlich zur riesigen, aus dunklem Gemäuer erbauten Akademie mit ihren zahlreichen Türmen und Erkern und Buntglasfenstern – womit sich die Anlage deutlich von der aus weißem Marmor errichteten Stadt abhob – zurückgekehrt, sowie einige ausgelernte Magier und Illusionisten aus aller Welt, deren Namen und Fähigkeiten Kacey in den Archiven ausfindig gemacht und angeschrieben hatte. Sie kamen zum Lehren an die Akademie. Auch diese Entscheidung hatte er allein getroffen, denn für seine älteren Kollegen war es ein Unding, dass Magier, die nur einen einfachen Abschluss absolviert hatten – aus welchem persönlichen Grund auch immer – Kurse geben durften. Kacey hingegen hielt es für klug, so viele Magiebegabte wie möglich zu versammeln, denn er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Unruhen erst ihren Anfang fanden. Außerdem fand er es wertvoll, ihre Erfahrungen zu nutzen, um seine Studenten weiter zu bilden. Praktische Erfahrungen im Umgang mit Magie im Alltag war sehr viel wichtiger als jede Theorie, die seine Schüler in den sonstigen Kursen paukten.

Der Magie-Konflikt durfte nicht so ausarten wie in Nohva, es durften keine ganzen Dörfer brennen, nur weil die Bewohner einen zauberkundigen Freund versteckten. Nein, lieber sollte ein einziger, abgesicherter Ort Ziel zum Hass ihrer Gegner werden, dann waren sie auf einen Angriff vorbereitet und konnten ihresgleichen schützen. Er hatte auch andere Schulen und ihre Magister angeschrieben und viele waren auf seiner Seite, riefen ihre Schüler zu sich und stellten Anträge, um Kraftfelder errichten zu dürfen.

Ihm war bewusst, dass er damit auch Argwohn säte, dass Bürger das Gerücht verbreiten konnten, er würde eine Armee aus Zauberkundigen zusammenstellen. Doch vorrangig war ihm das gleich, zuerst zählte der Schutz derer, die unschuldig dem Hass anderer ausgesetzt waren.

Es war ein regelrechter Ansturm aus Zurückkehrern und Neuankömmlingen, Kacey wäre dankbar gewesen, hätten sie ihm durch einen Boten von ihrer Anreise unterrichtet. Doch er verstand auch, dass dazu vermutlich bei einem schnellen Aufbruch keine Zeit gewesen war. Unter Furcht dachte man nur daran, so schnell wie möglich einen sicheren Hafen zu erreichen.

Gemeinsam mit den Studenten und Verwaltern hatte er dafür gesorgt, dass niemand lange auf ein Zimmer warten musste, nebenher hatte er noch Führungen für diejenigen organisiert, die seit Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen waren, hatte alle über das Alptraumfeld informiert, Fragen beantwortet. Seine Tür zu seinen Räumlichkeiten hatte immer offen gestanden, den ganzen Tag. Er hatte Vorlesungen abgehalten, wobei seine Studenten überwiegend mehr über das Kraftfeld erfahren wollten und was bei der Versammlung herausgekommen war. Ardor, Kaceys Leibwächter, war natürlich mit undurchdringlicher Miene stets an seiner Seite gewesen.

Es gab den ganzen Tag so viel zu tun, dass Kacey seine Verabredung mit seinem Lieblingsschneider hatte ausfallen lassen müssen, was ihn ein wenig traurig stimmte, denn er hätte gerne eine neue Robe in Auftrag gegeben. Nur um etwas Normales zu tun, das ihn für einen Moment die brisante Lage hätte vergessen lassen. Aber er sollte wohl ohnehin sparen, denn die Höhe der zu zahlenden Strafe stand noch aus, der Brief würde gewiss erst in einigen Tagen eintreffen. Dann würde er wissen, ob er sich danach noch eine Robe leisten konnte, oder sogar die anderen verkaufen musste.

Was soll´s, dachte er bei sich, er umgab sich gern mit schmucken Dingen, mit Prunk und allem was extravagant war oder glitzerte, aber es würde ihn nicht umbringen, ohne all das zu leben.

Obwohl er es vermissen würde, das gab er ehrlich zu. Nachdem er seine Jugend nur mit dem Nötigsten verbracht hatte, sehnte er sich nun umso mehr nach all den Dingen, die ihm verwehrt gewesen waren. Abgesehen von Nähe zu lebendigen Wesen war das nun mal auch goldener Schmuck, Edelsteine, Seide, Samt und Damast. Oh und natürlich edler Wein und nahrhaftes Essen.

Und von letzterem hatte er an diesem Tag wenig zu sich genommen. Als er sich also etwas schwach fühlte, schob er es auf die Erschöpfung und den Mangel an Essen und Trinken.

Er zog sich gegen Abend, als das letzte Sonnenlicht verblasste, in seine mit dunklen, edlen Kirschbaumholzmöbel eingerichteten Räume zurück. Im Empfangszimmer saß noch eine Studentin und sortierte seine Unteralgen für den nächsten Tag.

Ardor hatte ihm ein Tablett mit Essen bringen lassen, dann hatte Kacey den großen Mann mit der Narbe über dem rechten Auge und dem polierten Brustpanzer für den Rest des Tages fortgeschickt, doch wie er seinen übereifrigen Leibwächter kannte, blieb dieser sicher in der Nähe und abrufbereit. Ardor war noch immer ein klein wenig vernarrt in Kacey und dementsprechend ein äußerst ambitionierter Leibwächter. Vielleicht der treuste Mann im ganzen Reich, zumindest würde Kacey sein Leben immer blind in seine Hände legen. Dennoch konnte er dessen Gefühle nicht erwidern.

Nein, stattdessen verliebte er sich in Männer, die zwielichtig und undurchschaubar waren.

Kacey ließ denn Abend über seinen Forschungen ausklingen und schrieb ein paar Seiten über das Alptraumfeld, das er beschworen hatte, auch wenn er sich sicher war, dass er diese Schriften niemals veröffentlichen würde. Doch er wäre kein Magister, würde er nicht jeden seiner Handgriffe niederschreiben. Er gab zu, dass er auf seine Arbeit stolz war.

Er hatte keine Lust, ins Bett zu gehen und sich herumzuwälzen, während seine Gedanken um Riath oder Xaith, und im schlimmsten Fall um beide kreisten, also blieb er wach, solange er konnte, bis er zu müde sein würde, um überhaupt noch an irgendetwas denken zu können.

Er spürte die Übelkeit urplötzlich, sie kroch ohne Vorwarnung seine Brust hinauf. Instinktiv legte er die Feder nieder und griff zu seinem rubinbesetzten Kelch, weil er das schlechte Gefühl einfach hinunterspülen wollte. Erst da bemerkte er, dass seine Hand stark zitterte. Stirnrunzelnd blickte er auf seine Finger und zog sie langsam zurück, um sie inspizieren zu können.

Das Schwächegefühl in seinen Armen und Beinen wurde stärker und wanderte in seinen Kopf, innerhalb von wegen Herzschlägen brach ihm der Schwindel aus. Kalter Schweiß drang aus seinen Poren, die Übelkeit kroch ihm bis in die Kehle und seine Brust wurde eng.

Die Erschöpfung, dachte er. Vermutlich war es an der Zeit, sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen.

Sein Teller war nur halb aufgegessen, worüber er nun froh war. Vermutlich war das Essen daran schuld, dass ihm übel geworden war. Nachdem er den ganzen Tag wie ein Spatz gegessen hatte, hätte er am Abend keine halbe Gans verspeisen sollen.

Ruhe und Entspannung würden ihm gewiss helfen, sich besser zu fühlen, also verschloss er das Tintenfässchen, steckte die Schreibfeder in ihren Halter und stand auf.

In dem Moment, als er die Knie durchstreckte, spürte er einen Druck im Kopf und einen Hammerschlag in seiner Brust, der ihn beinahe zu Boden stürzen ließ. Keuchend hielt er sich an der Tischkante fest. Die Welt verschwamm, er blinzelte, das Zimmer wurde wieder klar, dann noch klarer … zu klar… Kacey petzte die Augen zusammen, die Kerze auf seinem Tisch war auf einmal zu hell, der Raum wirkte, als sähe er ihn aus fremden Pupillen. Eine seltsame Sicht stellte sich ein, als dehnte sich das dunkle Arbeitszimmer aus. Er nahm Dinge wahr, die er noch nie gesehen hatte. Die einzelnen Fasern des Teppichs, die feinen Risse im Leder der Buchrücken, das Schwitzen des Kerzenwachses. Er konnte die toten, schwarzen Auren des Holzes der Möbel erkennen, die kalt und trostlos alles im Raum umgaben.

Er wusste sofort, dass dies nichts mit Erschöpfung zu tun hatte, und für einen Moment befürchtete er, jemand hätte sein Essen vergiftet.

Doch dann brüllte etwas in ihm, drängte nach draußen, drängte in seinen Kopf. Krallen bohrten sich in seinen Verstand, er konnte es spüren, wie heiße Dolche in seinem Schädel. Er riss den Mund zum Schrei auf, doch es kam nichts heraus, nur ein ersticktes Keuchen.

Etwas kitzelte seine Wange und er wischte es instinktiv fort, spürte warme Feuchtigkeit an seinen Fingerspitzen und blickte verwirrt auf seine Finger. Zuerst verstand er nicht, was er sah, er verrieb grübelnd die Flüssigkeit, bis ihm bewusstwurde, dass es sich dabei um dunkelrot schimmerndes Blut handelte, das regelrecht wie ein flüssiger Rubin auf seiner weißen Haut leuchtete.

Sein Herz erlitt einen kleinen Aussetzer, er war zu geschockt, um zu begreifen, erst als ein Bluttropfen unter ihm auf einer Pergamentseite landete und sich langsam wie eine öffnende Rosenblüte ausbreitete, begriff er, dass sein Gesicht blutete.

Beunruhigt sah er sich um, entdeckte den Silberspiegel an der Wand und stürzte darauf zu. Dass er seinen Stuhl dabei umriss und er polternd zu Boden fiel, war ihm gleich, er bemerkte es nicht einmal.

Nach vorne stolpernd fing er sich links und rechts neben dem winzigen Spiegel mit den Händen an der Wand ab, hinterließ einen roten Fleck wegen des Blutes an seiner Hand. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Er erblickte sich selbst, ohne jeden Zweifel, das war sein zartes Gesicht, seine goldenen, mittellangen Haare, sein Stirnreif auf der kleinen Stirn, seine Stupsnase, seine geschwungenen, einladenden Lippen, seine langen Wimpern, das schmale Kinn, der schlanke Hals. Nur seine Augen waren ein Abbild skurrilen Grauens. Um die schwarzen, geweiteten Pupillen flammte ein goldener Kreis, ebenso umrandete ein weiterer goldener Schimmer seine eisblauen Iriden. Doch was ihm am Meisten den Atem raubte waren die blutigen Tränen, die sich wasserfallartig über seine hohen Wangenknochen ergossen hatten und von seinem Kinn tropften.

 

Rote Tupfer landeten auf dem weißen, hochgeschlossenen Stoff seiner Robe und breiteten sich zu großen, dunklen Kreisen aus.

Kacey erschrak vor sich selbst, zuckte zurück, entfernte sich von dem Spiegel, als hätte er darin einen Dämon erblickt.

Er wusste, was mit ihm passierte. Und er hatte Angst, dass er nicht stark genug sein würde.

Taumelnd wanderte er durch sein Arbeitszimmer, stieß mit den Schultern gegen Bücherregale, riss Stühle um, fegte Dokumente vom Tisch, während er sich zur Tür voran arbeitete.

Er schaffte es bis ins Schlafzimmer, dann überkam ihn eine neue Welle. Wieder ein Schlag von innen gegen sein Brustbein. Es war, als ob Knochen barsten. Er schnappte nach Luft, stolperte vorwärts und hielt sich an der geschnitzten Säule des Bettgestells aufrecht.

»Magister, geht es Euch gut?« Die junge Studentin erhob sich im Vorzimmer aus ihrem Stuhl, Kacey konnte ihre Schritte hören.

»Nein!«, rief er und streckte die Hand aus. Die Tür flog zu, obwohl er nicht einmal in ihrer Nähe gewesen war.

Er hörte einen erschrockenen Aufschrei.

Selbst verwundert blickte er auf seine ausgestreckte Hand, als erkenne er sie nicht wieder.

Die Krallen griffen nach seinem Verstand, der Schmerz raubte ihm die Sicht.

»Magister?« Die Studentin klang ängstlich und besorgt zugleich.

»Ich bin… unpässlich«, presste er hervor und stolperte zur Tür, während er sich zwei Finger in die Schläfen drückte. »Verzeih, Moonie, ich… ich brauche etwas Schlaf. Komm morgen wieder.«

Stille. Kacey erreichte die Tür, schloss sie ab und lehnte sich schwer atmend dagegen.

»Soll ich nach einem Heiler rufen?«, fragte sie unsicher durch das dicke, dunkle Holz.

»Nein, ich bin nur erschöpft.« Seine Stimme klang beunruhigend gepresst, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, gesund zu klingen.

Sie zögerte noch, doch dann hörte er, wie sie sich entfernte und ihren Umhang vom Nagel nahm. Er konnte noch hören, dass sie etwas sagte, vermutlich verabschiedete sie sich, aber er verstand die Worte nicht mehr, denn in seinem Kopf dröhnte es.

»Neiiiiiiin!«, knurrte er leise und nahm den Kampf gegen sein Innerstes auf. Er stolperte zum Bett und zog sich darauf wie ein verletzter Panther auf seinen Ast. Er wusste nicht, was er tun sollte, er wusste nur, dass er das, was in ihm vorging, aufhalten musste. Und das konnte er vielleicht nur, indem er sich dem Schmerz entgegenstellte. Es fühlte sich an, als ob sich ein Loch in seine Brust brannte, und gleichzeitig saß ein Drache in seinem Geist hinter dicken Gittern und wütete.

Vor knapp acht Jahren hatte Sarsar, Riaths und Xaiths Bruder, in Zadest im Gewölbe eines Turmes, die außer Kontrolle geratene Magie eines Götterportals auf die damals Anwesenden übertragen und sie mit einem Siegel verschlossen, damit sie niemals in falsche Hände geraten konnte. Sie alle, Kacey eingeschlossen, waren Gefäße, Gefängnisse für eine intelligente, gefährliche Macht.

Und genau diese Magie versuchte nun das Siegel zu brechen und Kaceys Verstand zu übernehmen.

~3~

»Urgh… ich glaub, er hat schon wieder gekackt.«

»Jetzt schieb es nicht auf den Schreihals.«

»He! Ich war das nicht!«, empörte sich Siderius, während er unbeholfen hinter Xaith über Wurzeln und Felsen durch die unwirtliche Wildnis stolperte. Er hatte Mühen, mit ihm mitzuhalten, dabei liefen sie in einem gemäßigten Schritt, immerhin war Xaith selbst noch geschwächt. Doch seinen Begleiter fehlten motorische Fähigkeiten und er litt offensichtlich unter einer Gleichgewichtsstörung, denn anders konnte er sich wirklich nicht erklären, warum der Junge bei jedem dritten Schritt stolperte oder taumelte.

Wie band er sich morgens eigentlich allein die Schuhe zu?

Kinder waren so anstrengend. Und doch zog er sie irgendwie magisch an, er hatte bereits zwei davon an der Backe, und einen davon ganz ungewollt. Nun ja, den Schreihals hatte er sich natürlich selbst zuzuschreiben, er hätte den Bengel ja auch in der Mutter sterben lassen können, aber er brauchte ihn für zweierlei Dinge. Und auch wenn er es nur widerwillig zugeben wollte, selbst wenn er ihn nicht bräuchte, hätte er ihn wohl kaum einfach im Leib der toten Mutter sterben lassen können, denn der Bengel war am Ende ja doch sein Neffe – und trug von allen am wenigsten Schuld an irgendetwas.

Ebenso sein Zwilling, den Xaith in der Hoffnung bei Desith und Vynsu gelassen hatte, dass er eine sichere Kindheit bekommen würde. Vielleicht sogar ein sicheres Leben, wenn Desith sich ein Herz fasste und niemals jemanden verriet, wessen Kind er Unterschlupf gewährte. Wenn Desith… in der Lage war, den Hass auf Riath nicht auf dessen Sohn zu übertragen. Doch Xaith war zuversichtlich, denn die Mutter der Kinder war Desith Schwester gewesen, so waren sie auch Desiths Neffen.

Lohna – Desiths Zwillingsschwester – hatte ihn gebeten, als er ihr half, in das Geburtenhaus in Carapuhr zu flüchten: »Bring die Kinder zu Desith, wenn ich die Geburt nicht überlebe. Bring sie zu ihm, ich weiß, er wird sie lieben, weil sie ein Teil von mir sind. Nur er wird sie beschützen.« Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde, Vynsus Kinder Aegir und Heda hätten ihr bei der Niederkunft schon beinahe das Leben gekostet, doch Riath hatte ihr kein einzelnes Kind gemacht, sondern Drillinge. Xaith hatte zwei retten können, doch Riath wusste nur von einem. Und er wollte, dass es so blieb.

Xaith konnte Lohnas Bitte am Ende nur zum Teil erfüllen, doch er hoffte, dass sie Desiths Wut auf Riath nicht unterschätzt hatte.

»Können wir anhalten und ihn frisch machen?« Siderius klang nasal, als ob er krampfhaft versuchte, nicht durch die Nase einzuatmen. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Xaith verdrehte die Augen. »Ein Stück weiter noch, ich höre in der Nähe ein leises Plätschern«, beschloss er und führte Baron – seinen ruhigen Fuchshengst – weiter den steinigen Trampelpfad entlang. Über den Baumkronen hörte er das dunkle, kratzige Schreien seiner Raben, die seinen Willen spürten und abbogen, um ihm die Richtung zum Bach zu weisen. Die schwüle Luft schmeckte bereits nach klarem Wasser.

Siderius blieb einen Moment hinter ihm stehen und legte den Kopf schief, um zu lauschen. Sein junges Gesicht war dabei zu einem »Hä« verzogen, und er lief verwirrt weiter. »Wie kannst du das hören? Ich höre gar nichts.«

»Weil du dich nicht anstrengst.« Xaith suchte den von Baumkronen verdeckten Himmel ab und konnte durch die raschelnden Blätter Petalits weißes und Gagats schwarzes Federkleid entdecken.

»Ich strenge mich an!« Siderius stolperte zu ihm auf, beide Arme um das stinkende Bündel geschlungen, das er mit einem Tuch eng an seine Brust gebunden hatte.

Sie wechselten sich mit dem Tragen des Bengels natürlich ab. Irgendwann zumindest. Wenn und falls ihm danach war. Vielleicht. Gegen Abend.

Möglicherweise.

»Du könntest den Kleinen auch mal nehmen«, beschwerte sich der Junge, als hätte er seine Gedanken erraten, und keuchte vor Anstrengung, als Xaith ihn und das Pferd durch die Bäume führte.

»Nein, ich bin noch zu geschwächt von den magischen Anstrengung der letzten Wochen«, gab er trocken und unverfroren zurück.

Er konnte förmlich den angepissten Blick des Jungen im Nacken spüren. »Ich habe gesehen, wie du zig Portale geöffnet und dich danach noch in einen Schwarm Motten verwandelt hast!«

»Lerne, die Erwachsenen zu ehren.«

»Was?«, bellte der Junge verständnislos.

Xaith verdrehte die Augen und brummte entnervt, dann versuchte er, sich so auszudrückte, dass selbst ein Dummkopf ihn verstehen konnte: »Ich bin älter, also bist du am Arsch.«

Endlich hielt Siderius die Klappe, mahlte grimmig mit den Kiefern, aber er hielt die Klappe, und süße, wundervolle Ruhe drang in Xaiths Ohren. Nun ja, von diesen lauten Brüllaffen, den schnatternden Papageien und Siderius` lautem Schnaufen abgesehen.

Aber immerhin wurde das Plätschern lauter und endlich schimmerte ein kristallblauer Bach durch das dichte Unterholz hervor. Petalit und Gagat saßen auf einem Felsen im fließendem Wasser und putzten sich gegenseitig das schimmernde Federkleid.

Die Wahrheit, die er seinem Begleiter nicht unter die Nase reiben wollte, war, dass er sich wirklich geschwächt fühlte und sich schonen musste, denn bald würden sie die letzte Etappe erreichen. Was bedeutete, dass sie eigentlich dorthin zurückgingen, wo alles angefangen hatte, um es zu vollenden.

Doch er wusste gar nicht, ob das, was er sich vorgenommen hatte, am Ende auch Früchte trug.

Er wusste es einfach nicht – und wollte nicht darüber nachdenken, was geschah, sollte er scheitern.

Oder sollte er Erfolg haben.

*~*~*

Sie schöpften etwas Wasser und lösten den kleinen, gusseisernen Topf, der während ihrer Reise an Barons Flanke am Sattel befestigt war, um es über einem kleinen Feuer abzukochen. Zwar wirkte der Bach klar und sauber, aber er wollte sicher gehen, denn er säuberte damit den Arsch des Neugeborenen.

Die Rast dauerte etwas länger. Xaith säuberte den Bengel und wickelte ihn neu, wusch die Tücher aus, während Siderius sich auf einen vom Wasserstrom glattgeschliffenen Felsen gesetzt und die Stiefel ausgezogen hatte, um seine Blasen zu versorgen.

»Komm.« Xaith ging vor ihm in die Hocke, gab sich genervt, als er nach den dünnen Fesseln griff und sich die Blasen ansah.

Der Junge zischte und zuckte zusammen, als ob Xaith ihm die Klinge eines Breitschwertes aus der Brust zog, dabei stach er nur die vollgefüllten Blasen auf und ließ das Wasser ab.

»So ist es besser«, sagte er und hielt seine Hand über das offene Gewebe an den Sohlen, sammelte etwas Energie aus dem Boden, auf dem er kniete, und sandte heilende Ströme in die Wunden, um sie verschorfen zu lassen. »Das muss reichen.«

Siderius beobachtete ihn mit unergründlicher, stummer Miene, wirkte plötzlich äußerst zurückhaltend, gar schüchtern.

»Ich dachte«, sagte er zögerlich, »du musst deine Kräfte sammeln.«

Xaith atmete mit einem Stoß aus und erhob sich. »Kannst du nicht einfach Danke sagen?«

»Nein«, gab der Junge trocken zurück, zuckte mit den Schultern, als Xaith ihn mit verengten Augen ansah. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Du hast mich lieb.«

Xaith drehte sich grunzend um und klopfte die Hände aneinander ab. Er blickte zum Himmel hinauf, Hochnebel zog sich um sie herum zu und verdeckte die Sonne, ein paar Vogelsilhouetten zeichneten sich im Dunst vor dem warmen, glühenden Ball des Himmelskörpers ab.

Er könnte behaupten, dass er Siderius nur geholfen hatte, weil es ihn nervte und aufhielt, dass er wegen der Blasen nicht schritthalten konnte, aber tatsächlich war es für ihn unerträglich, mitansehen zu müssen, wie er gelitten hatte. Diese großen, traurigen, dunkelgrünen Augen machten etwas mit ihm, etwas Unerklärliches, das ihn … berührte.

Er verzog das Gesicht, er mochte diese Gefühle nicht, obwohl sie ihn sein Leben lang begleiteten. Liebe, Zuneigung… schlicht die Fähigkeit, andere zu mögen, hatten ihm immer nur Kummer bereitet. Vaaks, Riath … Kacey. Die Liebe zu seinem Vater. Es tat weh, immer wieder, er wollte dieses zerreißende Gefühl nicht mehr fühlen, denn es wäre doch so viel einfacher, wäre ihm niemand wichtig.

Doch dem war nicht so, er konnte nicht ändern, wie sein Herz zu fühlen gedachte, sich nicht vor sich selbst verschließen. Wäre dem so, wäre er gar nicht erst auf dieser Mission.

Er konnte regelrecht das wissende Schmunzeln im Nacken spüren und hatte nicht übel Lust, den Kleinen ins Wasser zu schubsen. Aber die Aussicht darauf, sich die darauffolgenden Klagen darüber anzuhören, dass seine Kleider wegen der schwülen Hitze nicht trockneten und scheuerten war weniger erheiternd. Also ging er hinüber zu dem Bengel, der nach seiner Blutmahlzeit satt in seinen Decken am Ufer lag und den Schlaf der Gerechten schlief.

 

Xaith band sich seinen Neffen selbst um, schwer hing der kleine Klobs an seiner Brust, die warme Wange an den Streifen glatter Haut geschmiegt, der durch Xaith schwarzes, offenes Hemd hervorlugte. Das Neugeborene sabberte, Xaith glaubte bereits, winzige, nadelartige Fänge zu spüren. Er umhüllte das Kind mit seiner Aura und speiste dessen mit seiner Kraft, ließ sie kontrolliert in den winzigen Leib fahren, wie ein warmer Sonnenstrahl in die Poren der Haut, damit er wuchs und schneller alterte als je ein Kind zuvor.

Dies war die eine Sache, weshalb er das Kind brauchte, es war sein Versuch, ob es möglich war, ein Kind schneller heranwachsen zu lassen, als die Natur es vorgesehen hatte.

Er musste Erfahrungen sammeln, experimentieren. Damit er sie zu gegebener Zeit weitergeben konnte.

Sie machten sich wieder auf den Weg, Gagat und Petalit wiesen ihnen die Richtung, Baron trug ihre Lasten, die Wildnis bot ihnen Schutz.

Doch sie mussten sich sputen, denn er wusste, das Riath keinen Sichtkontakt brauchte, um ihn aufzuspüren. Und noch war nicht der richtige Moment und auch nicht der passende Ort erreicht, um sich mit Riath zu treffen.

Noch nicht, Bruder, aber bald.

Versprochen.

*~*~*

Kacey hatte eine grauenvolle Nacht verbracht, von Schmerzen gefoltert, gegen seine eigene Angst kämpfend, zitternd, panisch, erschöpft und kurz davor, einfach aufzugeben, hatte sich gegen die Magie aufgelehnt, die sich brennend wie Lava durch seine Venen gefressen hatte und hatte sie mit aller Macht zurückgedrängt, was ein weiteres verbrennendes Gefühl nach sich gezogen hatte. Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall und Atemnot.

Auf die Qual folgte der schönste Morgen seines Lebens, denn als er die Augen blinzelnd öffnete – wobei er sich nicht erinnerte, wann er eingeschlafen war – leuchtete die Morgensonne sanft in sein Zimmer. Das Fenster stand auf, Nebel hatte sich gebildet, doch hinter ihm schien die rote Dämmerung hindurch. Es sah aus wie ein Bild, getünchte, zärtliche Farben. Weiße Häuser vor einem waldigen Hintergrund. Der Duft sich öffnender Blumen drang in seine Nase, wirkte beruhigend, ebenso der Gesang der Vögel. Es war ein unheimlich friedlicher Morgen, für den Kacey dankbar war.

Auf großes Leid folgte tiefe Ruhe, denn vor wenigen Stunden hatte er nicht ansatzweise so sehr wertschätzen können, sich gut zu fühlen.

Er hätte nicht erwartet, die Sonne noch einmal zu sehen.

Kacey fühlte sich schwach, seine Gliedmaßen zitterten als hätte er sie tagelang überanstrengt, in seinem Kopf herrschte ein dumpfer Druck, aber es ging ihm gut. Obgleich er deutlich in sich horchte und jedes Zwicken in seinen Muskeln ihn in Angst versetzte, doch seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Er setzte sich im Bett auf und die Schmerzen blieben fern.

Getrocknetes Blut spannte auf seinen Wangen, er kratzte sich im Gesicht, während er die Beine über die Bettkante streckte und vorsichtig die Füße auf den Boden stellte.

Just in diesem Augenblick hämmerte es energisch an der Tür und er erschrak.

»Mein Prinz?« Es war Ardor, und er klang besorgt. »Geht es Euch gut? Es ist fast Mittag, wir haben noch nichts von Euch gehört.«

Mittag. Doch kein so friedlicher Morgen, eher ein idyllischer Tag.

»Mein Prinz? …. Kacey?« Ardor klopfte erneut. »Ich werde diese Tür eintreten, wenn Ihr nichts sagt.«

Kacey musste schmunzeln und spürte für den großen, stillen Krieger eine unheimlich tiefe Wärme. »Mir geht es gut, Ardor«, sagte er und erschrak ob seiner dünnen Stimme. »Ich bin jetzt wach.«

Es blieb still, doch er hörte keine Schritte.

Die Augen verdrehend, jedoch schmunzelnd zog er sich am Baldachin hoch, sodass seine hochgerutschte Robe herabfiel und sich um seine Fesseln schmiegte. Seine Knie waren noch zittrig und er schlurfte vorsichtig durch den Raum zur Tür. Kaum hatte er sie aufgeschlossen, wurde sie auch schon aufgerissen und sein Leibwächter stürmte an ihm vorbei in den Raum, die Hand auf dem Schwert und zugekniffene Augen, bereit, sich auf jeden Eindringling zu stürzen.

Dann stockte er, als er den Raum erblickte, richtete das breite Kreuz etwas auf, wobei sein Brustpanzer leise klimperte, und ließ die Augen über die Einrichtung wandern. »Bei den Göttern«, raunte der Elkanasai mit dem volkstypischen dunklem Haar und langen, spitzen Ohren, »was ist hier geschehen?« Er wandte sich zu Kacey um und weitete die Augen, als er ihm ins Gesicht sah.

Kacey hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Aber das beruhigte seinen Leibwächter keineswegs, und er konnte es ihm auch nicht verübeln. Der Raum war verwüstet, obwohl Kacey sich nicht erinnern konnte, wie und warum es geschehen war. Bücher, Vasen, Blumen und loses Papier lagen am Boden, die Fenster standen alle offen, als ob eine Druckwelle sie aus den Rahmen gedrückt hätte. Das Bett war zerwühlt, die Kissen zerbissen, sodass alles von weißen Federn bedeckt war, als hätte es in seinem Schlafgemach geschneit. Und er selbst gab gewiss auch einen schaurigen Anblick ab.

Alles nicht so schlimm. Ja klar…, das hätte er sich nicht einmal selbst abgekauft.

»Ihr blutet.« Ardor bemühte sich sichtlich darum, die Fassung zu bewahren, wofür Kacey ihm sehr dankbar war.

Nickend schwankte er an seinem Leibwächter vorbei, zurück zum Bett, wo er sich erschöpft auf die Kante fallen ließ.

»Mein Prinz…« Der Leibwächter machte einen mutigen Schritt auf ihn zu, blieb dann aber stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Noch nie war er Kacey zu nahegekommen, wenn nicht ausdrücklich erwünscht.

Kacey rieb sich die Stirn und versuchte, die Erschöpfung abzustreifen. »Ein… kleiner …Anfall«, versuchte er, es zu beschreiben.

»Anfall?«, echote der Krieger irritiert.

Kacey hob den Blick, sie sahen sich an, als sprächen sie beide eine andere Sprachen.

Niemand durfte je erfahren, dass seine Magie die Kontrolle hatte übernehmen wollen. Niemals. Es gehörte zu den Grundkursen, die ein Student bereits im ersten Lehrjahr absolvierte. Die Kontrolle über die eigenen Fähigkeiten. Ein Magier beherrschte seine Magie stets, er wurde nicht von ihr beherrscht. Eigentlich eine leichte Übung, vor allem wenn man mit Magie geboren wurde, wenn man innerlich im Reinen war und wenn man seine eigenen Gefühle kannte und einschätzen konnte. Denn Magie war Gefühl, Magie war an die Launen jedes einzelnen gebunden. Deshalb war Kontrolle wichtig, sie war das oberste Gebot. Wie Atmen um zu Leben.

Und er hatte niemals Probleme damit gehabt, bis zum gestrigen Abend.

Niemand durfte je davon wissen, sonst würden sie ihm seines neuen Amtes entheben, ihn nicht mehr lehren lassen, aber gerade jetzt brauchten die Magier ihn. Er musste stark sein.

Ardor stand mit ratloser Miene vor ihm, den Mund halb geöffnet, und wartete auf eine weitere Erklärung.

Er war sein Leibwächter, dachte Kacey, als er ihn betrachtete. Sein engster Vertrauter, sein Freund, er würde sein Geheimnis immer wahren, seine Treue galt nur ihm. Ihm allein. Er könnte mit ihm diese Bürde tragen.

Doch würde er es als Nicht-Magier verstehen? Oder würde er wie alle anderen Angst bekommen?

Niemand außer denen, die dabei gewesen waren, wussten von der fremden Macht, die er zusätzlich in sich trug und bändigen musste. Sollte er Ardor etwa auch davon erzählen?

»Diese verdammten Politiker«, er zwang sich zu einem Auflachen und machte eine wegwerfende Geste mit der schmalen Hand, an der noch Blut klebte.