Geliebtes Carapuhr

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Kapitel 2

Erst als es dunkelte, kehrte der Großkönig mit seinen Barbarenkriegern aus dem Dickicht des Dschungels zurück. Riesige, halbnackte Männer in Lederhosen, die fellbesetzte Schulterplatten trugen. An ihren Hüften baumelten Breitschwerter oder Äxte, auf ihren Rücken schaukelten Rundschilde mit eisernen Buckeln. Einzig Großkönig Melecay Wiglaf von Carapuhr trug seine Bärenlederrüstung vollständig am Leibe, obwohl ihm der Schweiß über die rasierten Seiten seines strohblonden Schopfes rann, als stünde er unter einem Sturzbach.

Die Schar kam grölend wie ein Haufen wilder Hunde ins Lager gestampft, das versteckt in einer Senke im Unterholz lag, die Männer waren blutüberströmt, dreckig und übersät mit Bissen und Kratzern, viele tote Tiere wurden auf Schultern getragen, gepunktete Jaguare, schwarze Panther, selbst Krokodile. Der süße Gestank des Todes kehrte mit ihnen zwischen die Zelte und an die Feuerstellen zurück. Dienstmägde und Knechte schrien auf, als die Barbaren sie knurrend und hämisch lachend von hinten packten, von ihrer Arbeit wegzerrten und noch vor aller Augen ihre Röcke rafften oder Hosen runterrissen.

Dabei gab es nichts zu feiern, denn ein Drache war nicht unter den Trophäen dabei, was bedeutete, dass sie noch mindestens einen weiteren Tag in dieser feuchten, heißen Hölle verbringen mussten. Doch solange der Met noch in Strömen floss, konnte nichts diesen rauen Hunden die Feierlaune verderben.

Vynsu spuckte die Knochenreste in seine hölzerne Suppenschale, stellte sie auf den Boden und sprang von seinem winzigen Hocker vor dem Zelteingang des Schamanen.

»Onkel!«

Der Großkönig blieb nicht stehen, würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. »Habe gehört, dass ihr was im Wald gefunden habt«, sagte er regelrecht gelangweilt, während er sich die blutverschmierten Kampfhandschuhe mit den Zähnen von den Fingern zog. »Erwartest du Lorbeeren, Bursche? Soll ich dir Beifallklatschen, einen Knicks vollführen?«

Vynsu war über fünfundzwanzig Sommer alt, aber sein Onkel nannte ihn noch immer einen Burschen! Er biss ärgerlich die Zähne zusammen, wagte aber nicht, über die offensichtliche Herabsetzung seiner Person zornig das Wort zu erheben. Mit dem Großkönig stritt man bekanntlich nicht, wenn man seinen Kopf behalten wollte. Also musste er solche Spitzen über sich ergehen lassen.

Er folgte den immer größer werdenden Schritten des Großkönigs weiterhin, blieb aber hinter ihm, wie es sich für einen Hund wie ihn gehörte.

»Es ist Desith«, berichtete Vynsu. »Wir sahen auch Derrick.« Bei diesen Worten musste er jedoch sofort stocken und kleinlaut einlenken. »Nun ja, zumindest glauben wir, dass er es war. Die Beschreibung passt auf den Drachen. Schwarz, matt, mit einer feurigen Unterseite, Stacheln … allerdings scheint er etwas gewachsen zu sein.«

Das war untertrieben, im Vergleich zu dem wendigen, kutschengroßen Drachen, den Augenzeugen gesehen haben wollten, war er ein ausgewachsenes, fettes Monstrum geworden, wenn man Vynsu nach seiner Meinung fragte.

Vor einem Kessel, der über einem Feuer kochte, blieb der Großkönig stehen. »Lebt Desith noch?«

Vynsu zuckte zurück, als sein Onkel den eingedrehten, blonden Zopf nach hinten warf, bevor er sich zur Schöpfkelle beugte und sich die heiße Brühe gleich aus dem Kessel einverleibte.

»Mehr oder weniger, der Schamane tut sein Möglichstes. Er hat einige Brüche, Vergiftungen, hohes Fieber, Krämpfe und ziemlich üble Verbrennungen. Wenn der Allvater ihm gnädig gestimmt ist…«

»Ach pff… der Allvater schert sich nicht um ein Stück sterbendes Fleisch«, spottete der Großkönig. Vynsu musste sich sehr fest auf die Zunge beißen, um nicht zu widersprechen. »Alles Göttliche hat uns längst verlassen. Und wenn es nach mir ginge, dürfte der liebe Gott mir ohnehin gern die Eier lutschen, aber mein Schicksal würd ich nicht in seine Hand legen, und das solltest du auch nicht mit dem Leben des Sohn des Kaisers tun!«

Dazu sagte Vynsu nichts, er schwieg einfach.

Melecay stieß gereizt den Atem aus, er war auch bei guter Laune bereits mit Vorsicht zu begegnen, aber diese Hitze machte ihn zu einem spuckenden Feuerberg, der jeder Zeit drohte, seine tödliche, heiße Lava über alle zu ergießen.

»Wo habt ihr die beiden gefunden?«

»Am Fluss, nordöstlich von hier«, antwortete Vynsu. »Wir haben den Ort auf der Karte markiert, ebenso die Richtung, in die Derrick davonflog. Zwei Späher sind ihm nach, aber…«, Vynsu senkte matt die Stimme, »… sie kamen nicht mehr zurück.«

»Hätte ich mir denken können«, murrte der Großkönig und drückte mit Daumen und Zeigefinger sein krummes Nasenbein, als hätte er Probleme mit dem Sehen. »Noch weiter östlich, noch tiefer rein in dieses heiße Scheißloch. Aber immerhin zwei Mäuler weniger zu stopfen, nicht wahr? Hoffe nur, sie haben Derrick gemundet.«

Er meinte das vollkommen ernst, so etwas wie Mitleid kannte der Großkönig nicht, er war mehr praktisch veranlagt. Man munkelte, dass er ohne Herz geboren wurde. Vynsu wäre nicht überrascht, wenn an diesem Gerücht etwas wahr wäre.

»Mit Eurer Erlaubnis, Onkel, würden meine Freunde und ich-«

»Du meinst, meine Männer«, unterbrach sein Onkel ihn mit heimtückischer Freundlichkeit. Er drehte sich zu Vynsu um, ein falsches Lächeln auf den Lippen. »Oder bin ich nicht mehr der Großkönig von Carapuhr? Verzeih, unterstehen deine Hunde nicht in erster Linie mir?«

»Doch, Onkel…«

»Dann verschwende nicht meine Zeit und lass die Karte zu meinen Spähern bringen, damit ich meinen Erben zurückholen kann.«

Es war nur ein winziger Stich, aber er traf ihn tief ins Herz. Vynsu schlug die Augen nieder, aber sein Kopf blieb hocherhoben. »Ich würde gern ein paar Männer nehmen und Derrick verfolgen, die Nacht könnte uns Schutz gewähren, vielleicht kommen wir so näher an ihn heran…«

»Nein, ich suche höchstpersönlich nach ihm.« Der Großkönig riss an den Riemen seines Harnischs, um sich Luft unter der stickigen Rüstung zu verschaffen. Er roch wie ein Iltis, aber Vynsus eigener Geruch war keinen Deut besser. »Ich erledige das lieber selbst.«

»Aber…«, wandte Vynsu ein, »Onkel, wir waren so nah an ihm dran…«

»Und habt ihn wieder verloren.« Des Großkönigs blaue Augen blitzten warnend auf.

Vynsu reckte stolz sein kantiges Kinn, aber unter der Fassade machte sein Herz einen Satz. Er hatte seinen Onkel schon immer gefürchtet. Bewundert, gewiss, aber ebenso gefürchtet.

»Ich ließ Derrick ziehen, weil wir Desith ins Lager bringen mussten. Ich habe nur Euren Befehl befolgt, Onkel: Desith lebend zu finden.« Er hätte den kleinen Wildfang nicht sterben lassen können, selbst wenn es Melecay gleich gewesen wäre. Derrick war Vynsus Bruder, wenn auch nur im Geiste, und er hätte es Vynsu nie vergeben, wenn er Desith seinem Schicksal überlassen hätte.

Melecay schnaubte und eine abschätzige Musterung folgte, die Vynsu ebenso stolz über sich ergehen ließ.

»Fein, wie du meinst. Dann gebe ich dir noch einen Befehl, wenn du so gewillt bist, mir in den Arsch zu kriechen.«

Vynsu sah ärgerlich zur Seite und mahlte mit den Kiefern, als sein Onkel auf ihn zutrat. Groß, muskulös, ein Nordmann wie er im Buche stand.

»Nimm deine Schar und bringt Eagles Söhnchen in unser Lager im Westen«, befahl sein Onkel ihm gelangweilt. »Wenn er sich vor meinem Eintreffen soweit erholt hat, dass ein längerer Transport ihm nicht mehr schadet, reist ohne uns zurück nach Carapuhr. Ich lege sein Leben nun in deine Hand! Sei sein Bewacher.«

Melecay wollte ihn nach Hause schicken?

Alles in Vynsu wollte sich auflehnen, wollte seinen Mann stehen, doch er konnte sich noch rechtzeitig beherrschen und so entkam ihm nur ein kindisches, gezischtes: »Ich bin kein verdammter Leibwächter, ich bin Euer Neffe und habe viele Schlachten geschlagen!«

Melecay, der sich schon halb abgewandt hatte, drehte sich mit nun gleichgültiger Miene um und konterte trocken: »Und auch Schlachten verloren.«

Ein Dolch mitten ins Herz. Vynsu musste schlucken. Er streckte den Hals, um größer zu wirken, als sein Onkel erneut nahe an ihn herantrat, sodass er fast den Kopf in den Nacken legen musste, und ihm eindringlich und ebenso unerbittlich erklärte: »Benimm dich nicht wie eine eingeschnappte Hure, Neffe, du hast deine Pflicht nicht erfüllt, solche Dinge passieren eben. Jetzt bist du zurück und hast die Gelegenheit, die Konsequenzen für dein Handeln wie ein Mann zu tragen. Du suchst Vergebung? Vergebung ist für Feiglinge. Du suchst deine Chance, dich zu beweisen? Fein. Dann beweise dich. Bring Desith ins große Lager, und möge dein ach so geschätzter Gott dir gnädig sein, sollte der Bursche nicht überleben. Er ist Kaiser Eagles Sohn, und es wäre nicht von politischem Vorteil, wenn ich Eagle Airynn mitteilen müsste, dass sein Söhnchen unter unserer Obhut den Tod fand, da wir uns doch gerade erst mit dem Kaiserreich wieder versöhnt haben, nach dieser hässlichen, dummen Sache, die dir widerfahren ist.«

Vynsu war mit jedem Wort innerlich zusammengeschrumpft, auch wenn er es äußerlich nicht zeigte, er stand stramm und unerbittlich vor seinem Onkel. Was jedoch alles andere als stolz und männlich wirkte, war sein Blick, der Melecays durchbohrenden, kalten Augen geflissentlich auswich.

»Wenn wir Derrick haben, folgen wir«, schloss Melecay den Befehl ab und wandte sich um. »Gute Reise, Neffe«, sagte er zum Abschied noch, wobei seine Worte ganz und gar voller Herablassung waren.

Vynsu sah ihm nach, die Abendsonne erkämpfte sich Wege durch das dichte Blätterdach, sodass winzige Lichtpunkte über des Großkönigs Haupt und Schultern glitten, fast wie ein göttlicher Segen.

 

Erst als sein Onkel in seinem großen Zelt, vor dem zwei Leibwächter positioniert waren, verschwunden war, traute Vynsu sich, tief durchzuatmen. Ernüchtert fuhr er sich über den violetten Kamm. Seine Zöpfe waren fettig und verfilzt, die Seiten seines Schädels mussten dringend rasiert werden, doch sein Aussehen kümmerte ihn zurzeit recht wenig.

»Wir reisen ab?« Jori stand plötzlich hinter ihm und hätte Vynsu beinahe vor Schreck zusammenzucken lassen. So groß und muskulös wie ein Bär, aber er konnte schleichen wie eine Katze.

Vynsu schnaubte, doch statt zu antworten, klagte er mit einem Wink in Richtung des Zeltes seines Onkels: »Er hasst mich.«

»Ja… das lässt sich wohl nicht abstreiten«, seufzte Jori, legte Vynsu aber von hinten brüderlich eine Hand auf die Schulter.

Vynsu warf einen halb genervten, halb spöttischen Blick zurück, rauchgraue Augen blitzten ihm entgegen, die Sonne verfing sich in langem, dunklem Haar, das durch geflochtene Strähnen aus einem männlichen, aber blutjungen Gesicht gehalten wurde, die vollen Lippen waren zu einem provozierenden, schiefen Schmunzeln verzogen, das dafür sorgte, dass es auch in Vynsus Mundwinkeln zuckte.

»Mach die Eisbären bereit«, trug Vynsu seinem Freund auf, »und lass eine Trage ins Schamanenzelt bringen, wir haben hochwohlgeborene Fracht zu transportieren.« Er seufzte schwer.

»Jawohl, mein Prinz«, neckte Jori, bevor er wegtrat.

Vynsu ließ ausatmend die massiven Schultern hängen und sagte zu sich selbst: »Ich bin kein Prinz mehr.«

Und am liebsten hätte er die Pflicht, die ihm sein Onkel gerade auferlegt hatte, auch sofort wieder abgetreten. Ausgerechnet er sollte einen Airynn bewachen und beschützen. Ausgerechnet er…

Kapitel 3

Eine Berührung an seinem Arm schmerzte derart brutal, dass es ihn aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit herausriss.

Mit einem Aufschrei erwachte Desith und schlug instinktiv zu, blind, aber durch den nebligen Schleier der Schmerzen spürte er, wie seine zur Faust geballte Hand in etwas Warmes einschlug, das sofort nachgab. Ein dumpfer Laut drang an sein Ohr, gefolgt von einem geknurrten Fluch. In seinem Schlag hatte keine Kraft gelegen, aber seinen Angreifer offensichtlich überrascht. Noch immer entsagten ihm seine Sinne den Dienst, waren desertiert, er konnte nicht richtig sehen, seine Lider waren wie verklebt, das versetzte ihn noch mehr in Panik. Er spürte nur Schmerz, Hitze auf der Haut, und eine beunruhigende Kälte in seinem linken Arm, roch nichts, hörte unheilvolle dunkle Stimmen und Schritte um sich herum, und seinen eigenen, rasenden Herzschlag, der schwer vor Anstrengung in seinen Ohren dröhnte.

Und alles, woran er sich erinnerte, waren blaue Flammen, klares Wasser und gesichtslose Dämonen in dunklen Umhängen. Er warf sich brüllend umher, war sich dem Schaukeln unter sich überhaupt nicht bewusst. Hände packten ihn plötzlich an Armen und Beinen, er kämpfte mit aller Kraft gegen sie an. Stimmen erhoben sich rund herum, traten näher, er hatte das Gefühl, anzuhalten, obwohl ihm zuvor nicht bewusst gewesen war, dass er sich bewegt hatte. Es war ihm auch gleich, er wusste nur eines: er musste sich wehren.

Schreiend, tretend und schlagend versuchte er, seine Angreifer abzuwehren, während sein geschwächtes Herz einen Satz nach dem anderen machte. Ein Feuer loderte in ihm und ließ ihn schwitzen und zittern zugleich. Übelkeit kam auf und er musste spucken. Wieder fluchte jemand, ein paar Hände ließen locker, er warf sich gegen den Angreifer, dem dieser Fehler unterlaufen war.

Schmerz entfachte, als er hart auf dem Boden aufkam, und breitete sich wie ein Buschfeuer über seine Rippen aus, stach ihm mitten ins Herz und brachte ihn zum Keuchen. Es raschelte unter ihm, als lägen sie in einem Laubhaufen, während er blind mit seinem Angreifer rang.

»So tut doch was, Herr!«, ächzte eine alte Stimme, dünn wie Papier. »Er bringt sich noch um.«

Unter ihm grollte ein Mann: »Nehmt ihn runter von mir! Der hat doch die Tollwut!«

Irgendwo lachte jemand schmutzig: »So nah war dir noch kein sterbliches Wesen, wah Rurik?«

»Leck mich, Bragi!«, knurrte der Dämon, den Desith unter sich festhielt. »Nehmt ihn runter, bevor ich ihm das Genick breche!«

Desith schrie wütend, etwas anderes bekam er nicht heraus. Es machte ihn rasend, dass dieser Dämon glaubte, er käme gegen ihn an, obwohl Desith ihn doch bereits festgesetzt hatte! Pah! Bevor diese Kreatur ihm das Genick brach, hatte er sie mit bloßen Händen zerrissen!

»Beim Allmächtigen, so beruhige dich doch endlich! Desith!« Er wurde hochgerissen, ein Felsen schien sich um seine Brust zu legen und hielt ihn mühelos in der Luft, gepresst an einen Berg. Desith strampelte, fauchte und spürte, wie die Wut in ihm ein gleißendes, weißes Licht in seinem Inneren zum Erstrahlen brachte, das seinen Schmerz linderte und seinen Gebeinen Lebensgeister einhauchte. »Lasst mich los, aahhhhh, ihr verfluchten Dämonen, mich bekommt ihr nicht!«

»Er ist von Sinnen, Herr! Schnell, wir müssen ihm Kräuter einflößen!«

»Still, Desith, es ist jetzt genug!«, sagte der Berg, der ihn gefangen hielt, die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor, doch seine Furcht und sein Überlebenswille waren stärker als der Funke Vertrauen, der erwachte. Er versuchte, seinem Widersacher die Ellenbogen in die Rippen zu rammen, doch mehr als ein Grunzen entlockte er dem Angreifer damit nicht. Aus purer Verzweiflung schlug er schließlich die Zähne in den felsengleichen Arm, der ihm die Luft abdrückte.

Der Klammergriff löste sich dadurch um keinen Fingerbreit, aber es war eine honigwarme Genugtuung, den darauffolgenden schmerzerfüllten Schrei zu vernehmen.

Und in diesem Moment wusste er, wer ihn festhielt.

Bevor er sich jedoch besinnen konnte, wurde er bereits grob auf den Boden geschubst und mit einem recht unsanften Tritt auf den Rücken befördert.

Er blinzelte, die grobe Behandlung sorgte dafür, dass sich sein Blick ein wenig klärte.

Ein paar große Schatten standen um ihn herum, breite Schultern, lange Zöpfe und Bärte – keine gesichtslosen Geister unter Umhängen, nur ein paar stinkende Barbaren.

Er wurde an den Schultern gepackt und niedergedrückt, hart schlug ihm jemand ins Gesicht.

»Herr!«, rief die krächzende Stimme erschrocken. »Nicht doch, er ist zu schwach!«

Der Protest wurde ignoriert.

»Beiß mich nie wieder, Desith Airynn von Elkanasai, sonst zieh ich dir alle Zähne, dann frisst du zukünftig nur noch Grütze, kapiert?«

Als Desith die großen tiefbraunen Augen mit den violetten Sprenkeln darin erkannte, hätte er beinahe vor Erleichterung geschluchzt. »Vynsu?«, ächzte er mit schwacher Stimme. Da fiel ihm alles wieder ein, der Fluss, die Rettung, Derrick…

»Rick!«, rief er und klammerte sich mit knochigen Fingern in Vynsus Wams. »Ihr … ihr…«

Vynsus violette Sprenkel verloren an Intensität, als in sein grobes Gesicht ein mildtätiger Ausdruck trat. »Keine Sorge, der Großkönig wird ihn suchen und heim-«

»Nein!«, fuhr Desith auf, und bereute es sofort. Ihm stach ein so scharfer Schmerz in den Kopf, dass ihm schwindelig und übel wurde. Etwas Warmes rann ihm über die Schläfe und Wange, Vynsu riss die Augen auf und jemand hinter ihm verwünschte Desith.

»Er hat sich die Naht am Kopf aufgerissen, der Narr!«

Desith achtete nicht darauf, er versuchte, Vynsus Aufmerksamkeit durch ein Schütteln zu erlangen, und beschwor ihn furchtvoll: »Ihr dürft ihn nicht suchen! Ihr dürft niemals mehr nach ihm suchen! Niemals! Warn den Großkönig! Ihr dürft ihn nicht zurückbringen! Ihr…«

»Schsch!« Vynsu drückte ihn auf den feuchten Waldboden, die Sonne fiel über dessen Kopf durch das Blätterdach und blendete ihn. »Ruhig. Alles ist gut…«

»Nein … ihr … ihr dürft ihn nicht …« Schwäche suchte Desith heim, alles drehte sich. »Bitte… nicht…«

Ein Schatten trat neben Vynsu, ging in die Hocke. Desith riss noch erschrocken die Augen auf, aber da wurde ihm bereits feines Pulver ins Gesicht gepustet. Eher als ihm lieb war, sank er zurück in einen übermächtigen Schlaf, der wie ein Dämon seine Krallen in ihn schlug und ihn in die Tiefe zog. Es war, als würde er in einem Meer aus öligem, schwarzem Wasser ertrinken, doch immerhin hatte er dort weder Sorgen noch Schmerzen.

*~*~*

Sie stand auf dem Eis im weißen Nebel. Der schneidende Wind wehte die dichten Schwaden über den gefrorenen See, doch die Sicht blieb versperrt. Sie trug ein Nachthemd, das dünn genug war, um ihre rosigen Brustwarzen hervorschimmern zu lassen. Der Stoff war so weiß wie der Dampf, der sie einhüllte, nur ihr flammenrotes Haar leuchtete aus der Kälte hervor, ihre Iriden besaßen die gleiche Farbe wie das frostige Eis, auf dem sie mit nackten Füßen stand.

Sie winkte ihn zu sich.

Vynsu blinzelte. Der Schnee unter seinen Füßen knirschte, als er sich in Bewegung setzte. »Was willst du mir zeigen?«

Sie legte einen zierlichen Finger über ihre blauen Lippen, ihre Wimpern waren eingefroren. Die Antwort blieb sie ihm schuldig, aber sie winkte ihn drängend zu sich. Vorsichtig trat er näher, das Eis, auf dem er ging, war brechend dünn, er hörte es unter seinem Gewicht gefährlich knarren. Furchtvoll blickte er hinab, sein Atem bildete weiße Wolken vor seinem Gesicht. Auf dem Eis lag Blut, es färbte den Frost rosa. Unter Vynsus Stiefeln schwammen Gesichter von Leichen, gefallene Krieger mit offenen, gefrorenen Augen.

Er sah sich auf dem See um, Schwerter steckten im Schnee, gebrochene Schilde lagen daneben. Es war grabesstill. Eine Schlacht hatte hier gewütet, die Lachen dampften noch. Vynsu bemerkte die Waffe in seiner Hand und starrte sie verwundert an. Wo kam sie her? Seine Klinge und sein Arm waren Blut überströmt.

Kalte Hände umfassten sein Gesicht, er wollte zurückzucken, doch sie hielt ihn sanft fest, hob seinen Blick an, bis er ihrem begegnete. Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht bleich, kein Leben schien durch ihre Adern zu fließen. Der Wind wehte ihr das rote Haar in die Stirn, es wirkte durch ihre weiße Haut noch röter.

»Was willst du mir zeigen?«, wiederholte er atemlos.

Sie ließ ihn los, trat einen Schritt zurück und zeigte mit einem ausgestreckten Arm in die Mitte des Sees. Vynsus Herz krampfte, er wollte sich nicht umdrehen, aber eine unbesiegbare Macht ergriff von ihm Besitz und drehte seinen Kopf zur Seite.

Dort sah er es, die beiden Krieger. Feinde, wie es schien. Das Bild war eingefroren, nicht mehr als ein lebloses Gemälde. Einer der beiden kniete in Blut, der andere lag sterbend in seinen Armen und starrte ungläubig zu ihm auf. Ein Schwert steckte in der schmalen Brust des Sterbenden, die Faust des Siegers lag noch darum. Vynsu konnte sein Gesicht nicht erkennen, es wurde von blonden Strähnen verhüllt. Doch den Sterbenden erkannte er hingegen mit einer erschreckenden Klarheit.

Es war Desith, aus dem das Leben entschwand.

»Vynsu?«

Ein Rütteln an seiner Schulter, weder sanft noch grob, ließ ihn die Augen aufschlagen. Jori stand über ihm, in der Nacht wurde sein hartes Gesicht angestrahlt vom knisternden Lagerfeuer, an dem Vynsu saß.

»Deine Brühe verkocht«, sagte Jori mit seiner ruhigen, wohltuenden Stimme. Er klopfte Vynsu noch einmal auf die Schulter, bevor er an ihm vorüberging und sich ebenfalls im Schein der Flammen niederließ. Er holte seinen Wasserschlauch hervor und trank davon.

Vynsu öffnete die verschränkten Arme und beugte sich nach vorne, Moos und Rinde von dem umgestürzten Baumstamm, der ihm als Stütze gedient hatte, klebten ihm am Rücken, und als der Dreck abfiel, landete er natürlich in seinem Hosenbund und rutschte in seine Ritze. Grunzend bewegte er das Gesäß hin und her, dann lehnte er sich über das kleine Feuer und starrte in den Kessel, der darüber dampfte. Funken sprühten in der Dunkelheit unter dem geschwärzten Topf hervor, glommen flüchtig wie Glühwürmchen auf, um dann in der schwarzen Nacht zu verglühen. Irgendwo maulte ein Jaguar im Dschungel.

Vynsu rührte ein wenig in der Brühe und wirbelte die Knochen auf. Ein starker, leckerer Duft wehte ihm in die Nase, der ihn umgehend in seine Kindheit entführte.

»Von wem hast du geträumt?« Joris Nachhaken war vorsichtig, wie der Vater, der den Sohn fragte, wovor er sich fürchtete.

 

Vynsu zuckte mit den Achseln, er wollte nicht seine Träume vor seinen Freunden breittreten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er sie einfach so schnell vergessen, wie sie ihn heimsuchten.

»Du hast gewimmert wie ein Lämmchen«, nun lag Belustigung in der Stimme seines Freundes, »hast du von einer Frau geträumt?«

Nicht von irgendeiner, dachte Vynsu bei sich, und wieder hatte er Desiths Tod gesehen. Immer wieder derselbe Traum, das machte ihn unruhig. Er blieb Jori die Antwort aber schuldig. Stattdessen spähte er angestrengt in seinen Kessel und ließ durch stetiges Rühren die Hitze entweichen.

»Wusste nicht, dass du kochen kannst«, wechselte Jori nach einem Moment das Thema. In seiner Miene lag ein wissender und gleichwohl amüsierter Ausdruck.

»Das Rezept meiner Mutter«, verteidigte sich Vynsu und rührte weiter. »Diese Schamanen wissen doch gar nicht, was sie tun.«

»Hm«, brummte Jori und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Ich denke, dein Schützling hätte längst das Zeitliche gesegnet, verstünde der Schamane sein Handwerk nicht. Aber wenn dich deine Sorge dazu bringt, uns Brühe zu kochen, werde ich dich nicht belehren.«

Vynsu sah nicht auf, als er eine Holzschale vom Boden hob und sie füllte. »Die Suppe ist nicht für euch.«

Jori lachte leise in sich hinein. »Das habe ich befürchtet. Aber wissen das auch die anderen?«

Vynsu sah ihn ernst an. Er hatte nicht den ganzen Abend gekocht, damit seine Männer Desiths Kraftbrühe wegschlurften.

»Geh«, lächelte Jori ihm milde zu, »ich bewache deinen Kessel.«

Vynsu zögerte noch einen Moment, aber wenn er einem seiner Männer vertraute, dann Jori.

Seufzend stand er mit der Brühe in der Hand auf, seine Glieder fühlten sich steif an, seine Beine so schwer wie mit Eisenplatten versehen. Er versuchte, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, aber der mitleidvolle Blick seines Freundes sagte alles, als er an ihm vorüber ging.

Er hörte Jori noch leise, aber ehrlich sagen: »Hast ein gutes Herz, mein Prinz.«

Ihm lag auf der Zunge, erneut zu betonen, dass er nicht mehr der Prinz war – und er gewiss kein gutes Herz besaß –, tat dann aber der Einfachheitshalber so, als hätte er den Kommentar nicht gehört und ging auf das einzige Zelt in ihrem winzigen Lager zu, das er zusammen mit Jori am frühen Abend aufgebaut hatte, während die anderen jagen und Früchte sammeln waren und der Schamane dem bewusstlosen Desith die Naht an der Stirn wieder zusammengeflickt hatte.

Als er nun das Zelt betrat, war es still im vom Kerzenschein gefluteten Innerem, und so stickig wie in den Schwitzbuden Carapuhrs. Nach seinem Traum kam ihm die Ruhe beinahe beängstigend vor, als würde der Tod über Desith stehen, ihm zuflüstern, ihm zu folgen.

Der Schamane war nicht anwesend, vielleicht holte er Wasser oder verrichtete seine Notdurft.

Trotz Räucherwerk, das in vielen Schalen vor sich hin qualmte, konnte Vynsu den beißenden Geruch von Pisse und Scheiße im Krankenzelt überdeutlich wahrnehmen.

Desith lag mit dem Rücken zu ihm auf einer Pritsche aus Leder und Fellen, nackt und leicht rosig, er war gerade erst gesäubert worden, die Waschschale stand noch an seinem Lager, der Nachttopf war leer. Vynsu schob alles mit seinem Fuß zur Seite, zog mit einer Hand einen Hocker heran und setzte sich dicht neben ihn.

Desith besaß das gleiche rote Haar wie seine Schwester. Kein blasses, farbloses Rot, wie es das Volk aus den südlicheren Fürstentümern Carapuhrs oft besaß, sondern ein lebendiges, feuriges Rot. Es hatte sich über die Jahre nicht verändert, noch immer trug er es lang und zu einem Zopf, wobei der Schamane den Knoten und Desiths rotes Haarband gelöst hatte, sodass sich die struppigen Strähnen nun wie wütende Flammen auf den Fellen ausbreiteten. Doch anders als die Haarpracht seiner Zwillingsschwester Lohna beschrieb Desiths Haar keine fließenden, seidenen Wellen, es wirkte wie abgefressen. Um das Gesicht herum reichten ihm die längsten Strähnen bis zum Kinn, die kürzesten nur bis zur Schläfe, hinten ließ er das Haar länger, dort reichten die Spitzen der längsten Strähnen bis zu der Kuhle seiner Taille, die kürzesten nur bis zu seinem schlanken Nacken.

Er war dünn geworden, stellte Vynsu besorgt fest, beinahe mager.

Mit der freien Hand fuhr er Desiths Rippen nach, die sich unter der warmen, seidenen Haut abzeichneten. »Wann hast du zuletzt gegessen? Was habt ihr nur solange da draußen getrieben?« Vynsu hätte es gerne verstanden, er kannte den Grund für Desiths und Derricks Reise, aber er konnte bis heute nicht verstehen, weshalb sie all die Jahre so verbissen nach einem Toten gesucht hatten, so tief im Dschungel. Warum waren sie nicht nach einem oder nach zwei Jahren heimgekehrt? Es war eine sinnlose Suche gewesen, irrsinnig und gefährlich. Der junge Mann, der nun vor Vynsu lag, war längst nicht mehr der flapsige Bursche von damals, und die Blessuren seines Leibes zeugten von der Hölle, durch die er gegangen sein musste.

»Warum seid ihr nicht nach Hause gekommen?«, flüsterte er Desith drängend zu, erhielt natürlich keine Antwort.

Verbände waren um Desiths Arme, Schultern, Beine und den Kopf gewickelt, eine Salbe roch stark nach scharfen Kräutern und färbte die Binden gelb. Irgendwie schien es Vynsu wie ein verdammtes Wunder, dass der kleine Wildfang noch lebte, die Vergiftungen der Schlangenbisse, die Verbrennungen an seinem Arm, selbst die Kopfwunde hätten tödlich enden können, und doch lag Desith vor ihm, atmete, fühlte sich warm und nicht einmal sonderlich fiebrig an, schimmerte bereits wieder rosig, obwohl er noch vor einer Nacht kurz davor gestanden hatte, in seine Nachwelt einzutreten – wie die Elkanasai ihren Tod nannten.

»Wie kannst du noch am Leben sein?« Vynsus Stimme war nur ein raues Flüstern, natürlich erwartete er von Desith keine Antwort, seine Frage war ohnehin mehr an das Schicksal gerichtet.

Doch auch wenn es schien, als wäre er auf dem Weg der Besserung, fürchtete Vynsu sich davor, dass sie einem Trugschluss aufsaßen. Immerhin konnte Desith nicht so schnell gesunden, das war völlig unmöglich. Und Melecay hatte ihn gewarnt, dass Desith besser nichts zustieß, während er in Vynsus Obhut war. Er konnte es sich schlicht nicht erlauben, einen Fehler zu begehen.

Vorsichtig umfasste er Desiths Schulter und drehte ihn langsam auf den Rücken, das Fell eines Braunbären bettete ihn sanft. Langsam schob Vynsu ihm einen Arm unter den Kopf und stützte ihn leicht auf. Desith brummte schläfrig, er bekam die Augen nicht auf. »Trink, das gibt dir Kraft«, hauchte Vynsu, dann pustete er in die Suppe, bevor er die Schale an Desiths trockene, aufgerissene Lippen führte.

Erst verschluckte er sich, aber dann trank er, halb im Schlaf, gierig wie ein Hund, ohne jeden Anstand, lauthals saufend.

Für einen Moment betrachtete Vynsu Desiths Antlitz. Immer schon hatte er dieses Gesicht mit großer Irritation wahrgenommen. In seiner Heimat bedeutete Männlichkeit Breite, Muskeln, markante Züge. Alles an einem Mann musste mächtig wirken, um einzuschüchtern. Desith war weder breit noch groß, auch seine Züge waren nicht im eigentlichen Wortsinn männlich, jedoch auch nicht hager oder gar weiblich. Etwas schlank, gewiss, das war nicht abzustreiten, das Kinn lang und spitz, die Augen zu groß, die Brauen zu dünn, die Stirn klein und unauffällig und die winzige Nase frech nach oben gebogen, weshalb Vynsu ihn früher oft mit dem Schimpfwort »Sau« betitelt hatte. Zarte Sprenkel überzogen heute zahlreich sein gekrümmtes Nasenbein, doch auch sie konnten nichts daran ändern, dass Vynsu überhaupt nichts Weiches an diesem Gesicht finden konnte, nichts Sanftes. Es war hart und kalt.

Desith war kantig, nicht typisch männlich, aber doch auf eine andere Weise unverkennbar maskulin. Und während er ihn so betrachtete und ihm zu trinken gab, musste er feststellen, dass Desith bis auf die Farbe seines Haars und seiner Augen rein gar nichts mit seiner Zwillingsschwester gemein hatte. Aus einem unbestimmten Grund, enttäuschte das Vynsu. Er hätte sie gern noch einmal gesehen, und sei es nur in der Ähnlichkeit, die sie zu ihrem Bruder gehabt hatte. Doch Desiths fehlende weibliche Züge zerstörten jegliche Illusion.