Geliebtes Carapuhr

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Desith beendete das Trinken mit einem lauten Schmatzen, gefolgt von einem unsittlichen Grunzen, als er Luft schluckte. Vynsu legte ihn wieder ab und stellte die geleerte Suppenschale auf den Boden. Flüchtig flackerten Desiths Lider, das frostige Blau seiner Iriden blitzte auf, darin erkannte Vynsu unter der tiefen Erschöpfung auch noch den Funken Eiseskälte, den Desiths Blick schon immer besessen hatte.

Manchmal fand er es seltsam, dass ausgerechnet der ruhige und gutherzige Derrick sich in diesen aufmüpfigen Burschen verliebt hatte, sie waren gänzlich gegensätzlich. Vielleicht war auch das schon das ganze Geheimnis ihrer Liebe, außerdem hatte Desith mit Derrick seinen verstockten Vater ärgern können.

Noch ein weiteres Mal zitterten Desiths Lider, Erkennen stand nun in seinem Blick, begleitet von einer tiefen Angst. »S…sucht ihn nicht«, flüsterte er schwach, hob eine Hand, als wollte er Vynsus Arm packen, doch sie fiel nutzlos wieder herab und blieb mit zuckenden Fingern liegen. »I…ihr dür…dürft ihn nicht s…suchen.«

Vynsu runzelte nachdenklich seine Stirn, legte Desith aber beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Schlaf«, trug er ihm auf, »ich wache über dich.«

»N…nein…« Aber seine Erschöpfung ließ ihm keine andere Wahl, außerdem schien er noch unter dem Einfluss des Schlafpulvers zu stehen. Ohne weiteren Protest sackte sein Gesicht zur Seite, und er sabberte auf die Felle.

Eine Weile blieb Vynsu einfach dort sitzen, ertrank in tiefen Grübeleien.

Irgendwann schlug jemand die Zeltplane zurück und streckte den Kopf herein.

»Wie geht es ihm?«

Vynsu winkte Jori näher, zog ein Fell über Desiths Blöße und stand auf. Schulter an Schulter blieben sie vor dem Krankenlager stehen und sahen auf ihren Schützling herab.

»Erstaunlich, er wirkt fast als wäre er über den Berg.«

»Nicht wahr?« Vynsu rieb sich nachdenklich das breite Kinn, seine dichten Stoppeln kratzten. »Dabei wäre er vor nicht einmal einem Tag beinahe sang und klanglos abgekratzt.«

»Stammt sein Vater nicht von Luzianern ab?« Jori legte nachdenklich den Kopf schief. »Vielleicht hat er ihre … Stärke und schnelle Erholung geerbt.«

»Hm«, brummte Vynsu grübelnd. Dabei fiel sein Blick auf Desiths Handgelenke und auf die langen, wulstigen Narben. Als Desith sich damals die Venen aufgeschnitten hatte, hatte er viel länger gebraucht, um zu gesunden. Doch seine Überlegung behielt er für sich, sein Volk – und seine Männer – konnten unglaublich abergläubig sein, und er wollte keine schlafenden Hunde wecken.

»Ich muss dir etwas beichten.« Jori seufzte schwer, als Vynsu ihm erwartungsvoll das Gesicht zuwandte. »Du musst neue Brühe kochen.«

Genervt ließ Vynsu die massigen Schultern hängen. »Wolltest du nicht aufpassen?«

»Das habe ich, Bruder. Rurik und Vala haben den Kessel nicht angerührt, als ich ihnen sagte, für wen er ist, aber…«

»Bragi«, beendete Vynsu Joris Satz und sah zu, wie sein Freund betreten die Augen niederschlug.

»Ich hab gesagt, er soll die Finger davon lassen, aber du kennst ihn … frech wie Dreck. Meinte, wenn du nicht willst, dass er was isst, musst du schneller aufessen.« Jori versuchte, das Thema einfach abzuwinken.

Vynsu schnaubte mit einem amüsierten Lächeln. »Du musst diesen Dieb dringend zähmen, mein Bruder, er tanzt dir ziemlich auf der Nase herum!« Lachend schlug er Jori auf den Rücken.

Dieser brummte etwas Unverständliches und verbarg seine Verlegenheit, indem er sich über den grimmigen Mund rieb.

Erneut wurde die Zeltplane aufgeschlagen, der Schamane kam herein, behangen mit allerlei Schmuck aus Zähnen und Krallen großer Raubtiere, sein Gewand war nicht mehr als Lederfetzen, die einen Lendenschurz und einen Umhang aus Bärenpelz zusammenhielten.

Der kleine, hagere Mann war schon alt, sein langes Haar und sein Bart waren so grau wie ein verblasstes Eisenschwert. »Herr«, sagte er, legte sich kurz die Faust über die Brust und neigte regelrecht beim Vorübergehen sein Haupt. Er wirkte in Eile und tüchtig, als er mit einer leeren Schale um Desiths Lager herumging.

»Wie steht es um sein Wohl?«, hakte Vynsu nach.

Der Schamane stellte sich ihnen gegenüber. »Es ist…«, er schien mit sich zu hadern, und Vynsu tauschte einen unbehaglichen Blick mit Jori.

»Es ist seltsam, Herr«, brachte er schließlich hervor, nahm einen von Desiths schlaffen Armen und hielt die Finger in den Kerzenschein. »Seht Ihr, die Knöchel waren heute Morgen noch gebrochen, jetzt sind sie so verheilt, als wären sie nie gebrochen gewesen.« Er zuckte mit den Schultern und legte den Arm ab. Dann schüttelte er ratlos seinen ergrauten Schopf. »Die Vergiftungen hätten ihn innerhalb weniger Augenblicke töten müssen, selbst meine Kräuter hätten nichts mehr ausrichten können. Ihr kennt die Schlangen in dieser Hölle, Herr, er hätte es nicht überleben dürfen. Aber es scheint, als ob… als ob das Gift ihm nichts hatte anhaben können.«

»Also… er lebt«, schlussfolgerte Vynsu trocken. Neben ihm kratzte sich Jori am Kopf.

»Er lebt«, nickte der Schamane zustimmend und blickte Vynsu entschuldigend in die Augen, »ich kann nur nicht erklären, wie. Es ist, als ob sein Leib viel schneller heilt, als es ein Mensch vermag. Herr, versteht mich nicht falsch, ich bin froh darüber, der Großkönig hat unmissverständlich betont, dass der Junge überleben muss, aber ich muss gestehen, dass er das nicht mir zu verdanken hat. Und ich kann dieses Wunder nicht erklären, er ist ein einfacher Mensch, er dürfte solche Kräfte nicht besitzen.«

»Hm.« Sie verfielen in Schweigen und betrachteten Desith, der von der Unterhaltung überhaupt nichts mitbekam.

»Also kommt er durch«, mutmaßte Jori und warf fragende Blicke in die Runde.

Der Schamane sah auf. »Das vermag nur der Allmächtige zu beantworten. Zwar hat er die Vergiftungen und Brüche wie durch ein Wunder selbst geheilt, aber die Verbrennungen machen mir Sorgen, sie scheinen nicht von normalem Feuer zu stammen und lassen sich schwer behandeln, meine Salben neigen sich dem Ende zu und meine geringe Magie reicht nicht aus.«

Mit anderen Worten, bei dieser Art Verbrennung war die Magie einer echten Hexe gefragt.

»Er wird bis zum Lager im Westen durchhalten müssen«, sagte Vynsu.

Der Schamane nickte reuevoll. »Er wird Schmerzen haben, aber das ist gerade seine geringste Sorge. Herr, ich … ich bräuchte eine helfende Hand.«

Vynsu zog wieder die Stirn kraus. »Wobei?«

»Der Bursche hat sich nicht nur zahlreiche Verletzungen, sondern auch Krankheiten und … Parasiten eingehandelt.«

Jori brummte: »Ich glaube nicht, dass mir gefällt, was gleich folgt…«

»Parasiten?« Vynsus Nachhaken war ihm bereits über die Lippen, eher er sich auf die Zunge hatte beißen können.

»Parasiten«, bestätigte der Schamane. »Sie haben bereits Eier gelegt, die kann ich mit ein paar Kräuteraufgüssen bekämpfen, aber die geschlüpften Larven… Nun ja, Herr, wären wir in einem Lager, würde ich Knechte damit beauftragen, aber wir reisen nur mit … Nun, jemand muss mir zur Hand gehen.«

Vynsu schüttelte leicht den Kopf. »Wobei zur Hand gehen?«

»Wir müssen ihn auf Würmer untersuchen und ihn davon befreien.«

Es dauerte einen Herzschlag lang, bis Vynsu begriff, was der Schamane von ihm verlangte. Mit offenem Mund sah er Jori an.

»Oh… Ihr meint…?« Jori wurde feuerrot. »Wir müssen … sein … seinen …«

»Fabelhaft«, schnaubte Vynsu und befreite Jori von seinem Stottern, als er ihm ins Wort fiel. »Wir sollen ihm Würmer aus dem Hintern puhlen.« Er beugte sich über Desiths schlafendes Gesicht und sagte zu ihm: »Du schuldest mir etwas dafür, Kaisersöhnchen. `Ne ganze Menge, würd ich sagen.« Dann blickte er auf und nickte dem Schamanen zu. »Drehen wir ihn um.«

*~*~*

Als er das nächste Mal aufwachte, fühlte sich sein Verstand um einiges freier an als beim letzten Mal. Es kam ihm zumindest nicht mehr so vor, als ob ein Drache auf ihm säße, sondern als läge nur noch ein Flusspferd auf seiner Brust. Seine Lider ließen sich leichter heben und blieben nach einigem Blinzeln sogar offen. Die Trockenheit seiner Augen schmerzte, ließ sich aber durch ein kräftiges Reiben mit seinen Handballen vertreiben.

Desith erkannte die dunklen Lederwände, die ihn umgaben. Er lag in einem Zelt, ohne jeden Zweifel. Sein Untergrund war weich und hüllte ihn in Geborgenheit, es war stickig, heiß und feucht, ein paar Kerzen schimmerten vor sich hin und warfen große Schatten an die Zeltwände. Er schwitzte, ein Feuer brannte in ihm, seine Beine und Arme zitterten unkontrolliert, er fühlte nur Schmerz, ein Brennen im Rachen, ein Stechen in jedem Muskel, Schwindel herrschte in seinem Kopf.

Als er aufwachte, wollte er sofort wieder einschlafen, das Leben erschien ihm unter diesen Umständen nicht mehr erstrebenswert, der Tod war die süße Aussicht auf Schmerzlosigkeit.

Aber sein Körper schien sich zu weigern, einfach aufzugeben, er kämpfte – und das schmerzte.

Stöhnend rollte Desith sich herum. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, ein fremder und doch vertrauter Laut…

Er rollte sich unter sengenden Qualen auf die andere Seite und suchte den Geräuschverursacher. Dieser saß neben seinem Bett auf einem knorrigen, alten Stuhl, der unter seinem Gewicht einzustürzen drohte. Vynsu. Die Arme waren vor der breiten Brust verschränkt, er hing schlaff im Stuhl, die langen Beine ausgestreckt und den Kopf nach vorn gesunken, sodass er unfreiwillig ein Doppelkinn zur Schau trug. Er schlief tief und fest und schnarchte wie ein alter Köter.

Im ersten Augenblick war Desith versucht, irgendetwas nach ihm zu werfen, damit er still war. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob Derrick je geschnarcht hatte, und wenn doch, niemals so laut, auch nicht als Drache. Das mag etwas heißen…

 

Aber noch bevor er seinen schwachen Körper dazu bewegen konnte, nach etwas Werfbarem zu greifen, legte sich das Schnarchen wie ein Wiegenlied über ihn und machte ihn schläfrig.

Vielleicht würde Vynsus Schnarchen alle Drachen der Welt von diesem Zelt fernhalten. Mit diesem beruhigenden Gedanken schlummerte er wieder ein.

Kapitel 4

Die Wächterinnen sprachen die Sprache des Ostens. Wortfetzen hallten über die nackten und kahlen Wände des schwarzen Gesteins. Eine glänzende, fast ölige Schicht schimmerte auf dem Erz im Schein der Fackeln. Es war düster, trotz Lichtquellen. Hier herrschte eine Schwärze, gegen die nur das Sonnenlicht angekommen wäre, doch sie befanden sich tief im Felsen, weit unter der Erde.

Gespräche und Befehle schallten tagsüber durch die engen und niedrigen Gänge. Die Sprache war wie ein wütender Redefluss, zudem besaß der Stamm einen seltsamen, fremden Dialekt. Die Worte klangen unnatürlich in den Ohren eines Westländers.

Er setzte sich auf und blinzelte gen Decke. Das feuchte Gestein tropfte ihm zwischen die Augen, aber er genoss das sanfte Tröpfeln auf seinem erhitzten Gesicht. Zwar war es so tief im Felsen erstaunlich kalt – wenn man bedachte, welche Hitze an der Oberfläche herrschte –, doch das Fieber ließ seine Stirn brennen. Wobei das Feuer in ihm bereits erlosch.

Das Fieber hatte sich gesenkt, ohne Heiler. Seit Tagen hielten sie ihn bei Brot und Wasser in seiner feuchten Zelle, zusammen mit anderen abgemagerten, kranken Sklaven, hin und wieder starb jemand und wurde von den Kriegerinnen ausgesondert. Es war nicht schmutzig, sie hatten Eimer für ihre Notdurft, die regelmäßig geleert wurden, das Wasser, das man ihnen zu trinken gab, war sauber, das Brot immer frisch, manchmal sogar noch warm. Diese Umstände waren sein Glück, sonst wäre er vermutlich dem Tode geweiht. Es gab Decken und er durfte einfache, saubere Hosen und ein Hemd tragen. Auch ohne Kräuter schien sein Körper gegen das leichte Fieber anzukommen, er konnte spüren, wie es sank und wie Lebensgeister in seinen Leib zurückkehrten.

»Halte durch, mein Kind, halte durch. Ich werde kommen.«

»Ja«, flüsterte er rau, seine Stimme klang wie reißendes Pergament, erschöpft lehnte er den Kopf an die Felswand, und als er die Beine anzog, rasselte die Kette, die ihn mit den anderen Sklaven verbunden hielt. »Ich halte durch, Vater. Ich halte durch…«

Er wusste nicht, ob Rettung nahte, vermutlich war die Stimme in seinem Kopf nur ein Hirngespinst, aber sie gab ihm Kraft und Hoffnung.

»Bist du gläubig?«

Er öffnete die Augen wieder und blickte zu seinem Nebenmann. Ein junger Tiermensch saß neben ihm im Schatten, die Knie angezogen und die behaarten Arme vor der fellbedeckten Brust verschränkt. Er war halb Mensch, halb Panther, sein Gesicht war eine groteske Missachtung der Natur, eine Verschmelzung zweier unterschiedlicher Rassen. Blanke Haut vom Hals aufwärts, menschliches, schwarzes Haar, verfilzt, aus dem pelzige Pantherohren hervorlugten. Die Augen eines Mannes, die Nase einer Raubkatze, samt Schnurrhaare. Lippen wie ein Mensch, aber Zähne einer Bestie. Woher er die Sprache des Westens kannte, war ein Rätsel, aber er sprach sie ohne Akzent, also stammte er vermutlich aus Elkanasai. Nur dort gab es Tiermenschen, die die Sprache des Westens verstanden und sprechen konnten.

Der Fremde sah ihn aufmerksam an. »Oder hat dich dein Glaube bereits verlassen?«

»Ich sprach zu meinem Vater«, erwiderte er nur und wandte den Blick wieder ab, wollte schlafen.

»Ah. Verstehe.« Ein Lachen, das in einem amüsanten Schnurren endete, im Dunkeln zuckte ein pelziger Schwanz. »Nun, du bist nicht der erste Sklave hier unten, der den Verstand verliert.«

Im Augenwinkel sah er, wie der Panther eine Kralle im Kreis über seine Schläfe führte.

»Ich bin kein Sklave«, raunte er mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner. Ihm war nicht danach, sich zu unterhalten. Er wollte nur seine Kraft zurückerlangen, um sich zu befreien.

»Wir sind alle Sklaven, Freund«, wandte der Fremde ein. »Und an deiner Stelle würde ich das sehr schnell akzeptieren. Siehst du, wie sie dich ansehen? Deine weiße Haut, deine runden Ohren? Jeder hier weiß, dass du weit aus dem Westen kommst, und weil du mit niemandem sprichst, glauben sie, du hältst dich für etwas Besseres.«

Ihm waren die argwöhnischen Blicke der anderen Sklaven nicht entgangen, auch ihr Widerwille, das Brot mit ihm zu teilen, ein einziges Mal hatte er darum kämpfen müssen, und obwohl er nie ein Kämpfer gewesen war, hatte er sich darum geprügelt und trotz Erschöpfung obsiegt, weil Verzweiflung einem Mann ungeahnte Macht verleihen konnte. Das hatte es nicht besser gemacht, seine Mitleidenden betrachteten ihn voller Abscheu, mit wachsendem Hass.

»Bevor du da warst, war ich der Anderling«, plauderte der Panther ungefragt weiter. »Besser, man fügt sich, fällt nicht auf. Sonst schieben sie dir etwas unter und verpetzen dich an die Wärterinnen, die prügeln dir die Scheiße aus dem Leib, Freund.«

Viele Augen funkelten aus den dunklen Schatten der Zelle zu ihnen herüber und verfolgten ihr Gespräch. Ketten rasselten leise, nackte Füße wurden über den Boden gezogen, irgendwo schniefte jemand, ein anderer hustete. Allesamt waren sie dunkelhäutige, dürre Gestalten mit mandelförmigen Augen und spitzen Ohren. Zadestianer. Männer. Keine einzige Frau. Niemals würde in Zadest einer Frau Ketten angelegt werden, dieses Schicksal teilte nur das männliche Geschlecht.

»Mein Name ist Chusei«, unternahm der Fremde einen weiteren Versuch, auf sich aufmerksam zu machen.

»Das bedeutet treu.«

Die Ohren des Panthers zuckten freudig nach vorne, er grinste breit. »Das stimmt! Du kennst die Worte meines Urvolkes? Bist du ein Gelehrter oder so?«

»Ich kenne viele Sprachen.« Er drehte Chusei das Gesicht zu und sah ihm in die weiten, gelben Augen. »Ich bin Sarsar.«

Kapitel 5

Tagelang stampften sie durch den Dschungel, hackten ohne jegliche Rücksicht auf die Natur Löcher und Wege in das Unterholz, die Hitze glich einem feuchten Mantel auf ihrer Haut.

Hin und wieder erwachte Desith durch das Geschaukel und Geruckel, doch obwohl die Erschöpfung ihn nicht losließ, war er bei klarem Verstand. Zumindest konnte er Traum von der Wirklichkeit unterscheiden, sodass niemand aus Vynsus Gefolge noch einmal von ihm attackiert wurde.

Sie transportierten ihn auf einer Trage, ein kleiner, kräftiger Falbe mit kurzer Stoppelmähne zog einen Karren mit Vorräten, der scheppernd hinter ihm herfuhr. Gelegentlich wollten Raubtiere das Pferd attackieren, dann hörte er die Barbaren kämpfen, scherte sich aber nicht darum. Er wusste, dass ihn kein Mann besser beschützt hätte als ein Barbar.

Wann immer seine geröteten Lider zuckten, sah er nicht nur Vynsu neben sich hergehen, sondern auch die dichten Kronen des Dschungels über sich. Er kam nicht umhin, sich mit einer schmerzenden Sehnsucht nach einem freien Himmel zu sehnen, nach den Dächern und Giebeln einer aus Stein und Marmor erbauten Stadt.

Desith hätte nie geglaubt, dass er jemals in seinem Leben sein Zuhause vermissen würde. Er war noch ein Bursche gewesen, als er wegen der Liebe zu Derrick seinem Vater den Rücken gekehrt und dem Großkönig von Carapuhr die Treue geschworen hatte. Als er sich das Leben hatte nehmen wollen, weil sein Vater ihn davon abhalten wollte, mit Rick zusammen nach Carapuhr zu gehen. Heute kam es ihm wie ein Traum vor, den er vor langer Zeit geträumt hatte und der mittlerweile nicht mehr als ein verblasster Erinnerungsfetzen war.

Rick war gegangen. Und Desith hoffte inständig, er möge fortbleiben und in diesem Dschungel verrotten.

Er zog die Decke über den Kopf, um dem Tageslicht zu entfliehen, und sank wieder hinab in fiebrige Träume.

*~*~*

Sie erreichten das große Lager mit nur zwei Tagen Verspätung, nachdem sie wegen Desiths Schmerzen einen ganzen Tag mit Rasten vergeudetet hatten. Vynsu wurde von einer beflügelten Erleichterung durchströmt, als er die Palisade und die dahinter gut bewachten Zelte erblickte.

Barbaren und Knechte tummelten sich an Feuern, Pferde schnaubten, Rauch stieg auf, Holzscheite knisterten und Kessel dampften, es roch nach Fellen und frischem Brot, das in Lehmtöpfen in der Glut gebacken wurde. Es war fast wie nach Hause zu kommen, jedoch fehlte der schneidende Wind und der Schnee.

Das Lager lag hinter der Grenze von Zadest in Kaiser Eagles Landen, sie hatten es vor der riesigen Urwaldwand aufgebaut, aus jener Vynsu mit seinen Kameraden trat. Hohe Gräser und Reisfelder kesselten sie ein, eine Kuhle bot etwas Deckung, aber bei weitem nicht genug. Taktisch war der Standort eine Katastrophe, aber der Großkönig kannte keine Gefahr. Nicht, dass er unklug handelte, sonst hätte er keine Palisaden und keine Wachen aufgestellt, aber manchmal provozierte er einen Angriff regelrecht.

Jedoch hatte das Lager seinen Standort dieses Mal rein aus Bequemlichkeit, es lag nahe an der Grenze zu Zadest, aber immer noch im Kaiserreich. Hier drohte ihnen keine Gefahr, Kaiser Eagle war ihnen wohlgesinnt und unterstützte natürlich die Unternehmung, seinen Sohn zu finden.

Er wäre selbst mitgekommen, das hatte er dem Großkönig versichert, aber mit dem Holzbein konnte er keinen langen Marsch unternehmen, und zu Pferd kam man so gut wie gar nicht durch das dichte Unterholz des Dschungels.

»Jetzt kann ich die Heimat schmecken!« Bragi zog neben ihm tief die frische, freie Luft ein, die über die gewaltige Weite der Felder wehte. Am Horizont konnten sie die Kulisse einer Stadt erspähen. »Der Wind weht von Norden, er ist kalt.«

»Kühl«, bemerkte Vynsu. »Kühl, aber noch nicht kalt.«

»Bald sind wir hoffentlich auf dem Heimweg«, mischte Jori sich ein, als er ebenfalls neben Vynsu trat und den Blick über die Senke schweifen ließ, die sich unter ihnen erstreckte und in der das Lager wie ein Heimatort wartete. Ein Stück Zuhause für Vynsu, wenn auch fern der Kälte.

»Falls sie je Derricks breiten Drachenarsch herschaffen können.« Bragi klang nicht zuversichtlich, und Vynsu konnte im Augenwinkel mitansehen, wie Jori ihm einen tadelnden Blick zuwarf.

»Was? Ich bin nur ehrlich!« Bragi zuckte nur mit den Schultern, sein noch sehendes, algengrünes Auge funkelte frech, das blinde Auge blieb milchig wie eh und je.

»Kommt«, forderte Vynsu sie lediglich auf und wandte sich ab, »tragen wir Desith da runter.«

Er selbst hatte kein gutes Gefühl, wenn er an Derrick dachte, größtenteils weil Desith jedes Mal panisch wurde, wenn auch nur dessen Name fiel.

Etwas stimmte hier nicht, aber wenn er den Großkönig warnen würde, nur weil er ein Bauchgefühl hatte, würde sein Onkel ihn vermutlich lediglich auslachen. »Du hast ein Bauchgefühl, Bursche? Dann solltest du stärker pressen, wenn du im Gebüsch sitzt. Aber verschwende nicht meine Zeit.«

Auf dieses Gespräch konnte er gut und gerne verzichten, er hatte sich ohnehin entschlossen nur noch Befehle auszuführen, er würde sich kein eigenes Urteil mehr erlauben. Vynsu übte sich im Schweigen und im demütigen Dienen.

Zumindest wurde er im Lager noch mit freudiger Aufregung in Empfang genommen, jede noch so arme Seele blickte auf, um ihn zu sehen, auch wenn mittlerweile bekannt sein dürfte, dass er die Krone nicht erben würde, wurde er von seinem Volk noch immer als Prinz betrachtet. So schlug ihm Bewunderung und Liebe entgegen, als er mit seinen Kameraden die Senke hinabstieg und die Palisaden durchschritt. Auch den Titel »Prinz Vynsu« ließen sie sich nicht verbieten, als sie nach ihm riefen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Er sorgte höchstpersönlich dafür, dass für Desith ein eigenes Zelt vorbereitet wurde, doch auch durch den ganzen Trubel um ihn herum, wurde Desith nicht wach, er schlief tief und fest. Noch immer brannte Fieber in ihm, im Traum stöhnte er und wenn er aufwachte, holte er nur Atem, um Vynsu zu beschwören, nicht nach Derrick zu suchen. Dann schlief er wieder erschöpft ein.

Nachdem er Desith untergebracht hatte, ging er in das große Zelt, wo sich üblicherweise der mitgereiste Hofstaat des Großkönigs aufhielt, bei Speis und Trank und allerlei. Eine heitere Stimmung empfing ihn, ein Barde spielte in einer Ecke an einer Feuerschale seine Laute, Zofen saßen neben ihm und sangen lieblich, sie kicherten, als Vynsu sie kurz betrachtete und lächeln musste. An den Langtischen saßen Barbaren, Krieger, Leibwächter und Adelssöhne zusammen bei Met und Wildbret, sie prosteten ihm zu, und er nickte zurück. Bragi, Rurik und Vala saßen bereits unter ihnen, Jori fand man vermutlich zuerst bei den Pferden.

 

Vynsu ging weiter, der Thron des Großkönigs, der am Anfang der Tafeln stand und über alles zu wachen schien, war verwaist. Niemand würde es wagen, sich in Abwesenheit des Großkönigs dort hineinzusetzen, man munkelte, Melecay würde es riechen und demjenigen den Kopf abschlagen.

»Vynsu?«

Vynsu drehte sich um und erspähte seine Mutter in dem Gedränge. Sie saß mit einer Hofdame bei Tee und Strickwerk, und hielt überrascht in ihrer Arbeit inne. Obwohl er viel früher als erwartet zurückgekehrt war und er ihr einen ermüdeten Seufzer zur Begrüßung schenkte, hatte sie nichts als Wärme und ein Lächeln für ihn übrig.

»Du bist zurück, mein Sohn!« Sie ließ alles stehen und liegen, um auf ihn zuzugehen und ihn zu umarmen. Dabei musste er sich hinabbeugen, da sie mindestens zwei Köpfe kleiner war als er. Er drückte sie an sich, während die schüchterne Hofdame einen Knicks für ihn vollführte und dann mit gesenktem Kopf einfach dort stehen blieb.

»Der Großkönig fand, ich stünde ihm im Wege«, sagte er und versuchte, mit gespielter Belustigung seine Enttäuschung zu übertönen, »er schickte mich mit Desith vor, während er noch weiter nach Derrick sucht.«

Vynsus Mutter lehnte den Kopf zurück, ihre violetten Locken trug sie wie stets offen, sie rutschten über ihre schmalen Schultern nach hinten. Das schwarze Kleid aus Rabenfedern umschmeichelte ihre zierliche Figur. Seine Statur hatte er eindeutig nicht von ihr geerbt. Violette Iriden musterten ihn sorgenvoll, doch dann tätschelte sie ihm den Kopf. Eine Geste, die ohne ein einziges gesprochenes Wort all ihr Verständnis ausdrückte.

»Nimm es nicht so schwer«, flüsterte sie ihm zu, »du kannst nicht mehr tun als das, was er dir aufträgt.« Aber Vynsu konnte ihren Ärger in ihrem feinen Gesicht aufblitzen sehen, und er wusste, sie würde Melecay darauf ansprechen. Niemand außer sie wagte es, dem Großkönig die Stirn zu bieten, aber Vynsu wünschte sich, sie würde es einfach auf sich beruhen lassen. Es half ihm nicht, wenn seine Mutter seine Kämpfe austragen wollte.

Er winkte ab. »Ich nehme es ja gar nicht schwer, aber ich sorge mich. Derrick ist verwandelt, Ma! Onkel könnte gefressen werden.«

»Würde dem Hitzkopf guttun«, konterte sie schelmisch und ließ von Vynsu ab.

Er seufzte schwer. »Aber unserem Land nicht.« Ohne einen Erben, würden sich die Fürstentümer Carapuhrs innerhalb weniger Wochen alle gegenseitig die Köpfe einschlagen, während sie alle gleichzeitig nach der Krone griffen.

»Vielleicht«, gestand sie ein, »aber ich hätte es gesehen, würde ihm etwas zustoßen.« Sie tippte sich mit einem langen Fingernagel an die Schläfe. »Und das habe ich nicht, also sorgen wir uns nicht um ihn, sorgen wir uns um dich. Komm, iss und trink! Du musst erschöpft sein, mein Sohn.«

Sie nahm seine Pranken in ihre warmen Hände und wollte ihn auf eine Bank an einem Tisch schieben, dabei winkte sie bereits einer Magd. Doch er schüttelte den Kopf und zog sie sanft an einem Arm zu sich heran.

Neugierig sah sie zu ihm auf, die violetten Augen schimmerten wie Edelsteine.

»Du musst dich um Desith kümmern, Ma. Der Schamane tat sein Möglichtest, aber du weißt, ihre Heilung ist begrenzt.«

Er unterbrach sich, als die Magd mit einem Krug und einem Becher heraneilte. Seine Mutter hob eine Hand und schickte das Mädchen wieder fort. Ohne Protest zog sie eingeschüchtert von Dannen, denn Vynsus Mutter gehorchten alle ebenso demütig wie dem Großkönig selbst.

Sie sah ihn auffordernd an. Umgehend wandelte sich ihre Muttersorge um in die Sorge einer Heilerin, er konnte sehen, wie sich ihre Ohren öffneten. »Was ist geschehen?«

»Das wissen wir nicht sicher, aber er hat einige starke Verbrennungen erlitten, die ihm noch immer starke Schmerzen bereiten, er hat Fieber und … Parasiten. Ma, ich habe die letzten Tage jeden Abend Würmer aus ihm rausgeholt, er kotzt und scheißt uns alles voll, wie ein Neugeborenes.«

Ein leichtes Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. »Scheint, als wüsstest du endlich, was es heißt, eine Mutter zu sein.«

Er bedachte sie mit einem genervten Blick.

Sie lachte lieblich in sich hinein und drückte aufmunternd seinen Arm. »Dann muss der kleine Prinz schleunigst Wasser eingeflößt bekommen. Lass uns gehen, ich werde sehen, was ich für ihn tun kann.«

*~*~*

Sein Kopf brummte so stark, wie damals nach seinem ersten Saufgelage. Er wollte nicht erwachen, krallte sich verzweifelt an den Schlaf, aber das Leben war unerbittlich mit ihm, und er spürte zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, wie ihn die Klarheit seines Bewusstseins zurück in die Wirklichkeit zwang. Er fürchtete sich beinahe davor, aus den vertrauten, wirren Träumen seines Fiebers emporzusteigen. Der Schmerz in seinen Gliedern, die Brüche und die Verbrennungen, waren nur noch ein dumpfer Hall in seinem Leib, die Erschöpfung schien er weggeschlafen zu haben, er fühlte sich beinahe wie erholt. Zumindest sein Geist schickte sich an, hellwach zu werden.

»Wacht unser Traumprinz endlich auf?«

Desith versuchte, zu blinzeln. Seine Augen fühlten sich nicht mehr so trocken an wie die letzten Male, als er sie aufgezwungen hatte, aber sie brannten noch, was vermutlich vom Fieber kam.

Er hatte noch ein dumpfes Gefühl im Kopf, aber sein Verstand war so klar wie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr.

»Wollt Ihr uns nicht Eure Lebensgeister zeigen, Prinz Desith?« Eine ruhige, warme Frauenstimme, die so wohltuend wie Wein mit Honig klang. Brummend drehte er den Kopf und hob vorsichtig die Lider. Das Zeltinnere war ein anderes als jenes, dass Vynsu immer für ihn aufgeschlagen hatte. Es war größer, es standen Tische und Stühle an den Wänden, Feuerschalen und viele Kerzen ließen das Innere heller leuchten als die bescheidene Unterkunft, die er in den letzten Nächten zur Verfügung gehabt hatte. Auch seine Unterlage fühlte sich anders an, keine Felle von Bären und Wölfen mehr, sondern Pferdefell und Kaninchenpelze. Sie waren so weich, dass er sich erst einmal stöhnend daran reiben musste.

»Wir befürchteten bereits, Ihr wolltet gar nicht mehr aufwachen.« Schlanke Finger kämmten durch sein Haar und kraulten seine Kopfhaut. Für einen Moment schloss er die Augen und stellte sich unwillkürlich vor, er wäre wieder ein junger Bursche, der von seiner Mutter umsorgt wurde. Wie sehr er sie doch vermisste, seine geliebte Mutter, er konnte es kaum erwarten, sie und seine Geschwister wiederzusehen, ja selbst auf seinen verstockten Vater freute er sich.

Nur für sie zwang er wieder die Augen auf und stellte sich dem Schmerz, der sich wie ein Frostwind über seinen bandagierten Arm ausbreitete.

»Habt Ihr noch große Schmerzen?«, fragte die Stimme und ließ von ihm ab.

Desith traute seiner Kehle noch nicht, wenn er schluckte fühlte es sich so an, als wäre sie aufgerissen, weshalb er lediglich bejahend nickte.

Er vernahm, wie sie sich entfernte, das leise Rascheln eines bodenlangen Kleides wehte durch das Zelt. Mühsam hob er den Kopf, um seine Heilerin sehen zu können. Als er sie jedoch erblickte, erstarrte er zu Stein.

Das konnte doch unmöglich wahr sein…

Vielleicht täuschte er sich, aber das glaubte er nicht. Er kannte nur eine Frau aus der Geschichte, die violettes Haar besaß und in einem Kleid aus Rabenfedern auftrat.

Sie werkelte mit einem leisen Summen an einem Tisch herum, zerstampfte Kräuter und goss sie mit rotem Wein aus einem dampfenden Krug auf. Der Duft bitterer Blüten stieg im Zelt auf, aber immerhin musste Desith nicht mehr den beißenden, grässlichen Rauch der Räucherwerke des Schamanen ertragen.