Luca - Zwischen Nichts und Allem

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1.1

Die nächsten Tage verliefen ähnlich aufreibend. Während ich mir in den Kopf gesetzt hatte, zu beweisen, dass ich mich verbessern konnte, wenn ich wollte, war mein Schultag von Bangen erfüllt.

Ich bangte darum, ihn zu sehen, selbst wenn ich kein Unterricht bei ihm hatte. In den Pausen hoffte ich, dass er die Aufsicht hatte, und hielt Ausschau nach ihm, wie er mit seinem üblichen Kaffee über den Hof schlenderte, sodass mich meine Clique alsbald fragte, was mit mir los sei, und nach wem ich suchte. Sie neckten mich bald darauf, weil sie glaubten, ich schwärmte heimlich für jemanden.

Sie hatten recht, allerdings war das Objekt meiner Begierde ein Lehrer.

Sie wussten, dass ich schwul bin. Alle wussten es. Ich selbst habe es immer gewusst und nie ein Geheimnis daraus gemacht. Was mein Leben nicht gerade vereinfacht hatte.

Wenn du bereits als – sehr frühreifer – Junge bei jedem freien Männeroberkörper im Schwimmbad zu sabbern anfängst, weißt du es einfach. Außerdem waren meine Fantasien stets eindeutig, als ich anfing, mich für meinen Schwanz zu interessieren. Zugegeben, das Ding war immer sehr interessant gewesen, denn man konnte wahnsinnig tolle und witzige Sachen damit anstellen. Aber erst als er mir diese herrlich prickelnden und warmen Gefühle verursachte, lernte ich seinen wahren Wert zu schätzen. Er war zu mehr als zum körpereigenen Feuerwehrschlauch gut. Oder mehr als ein »Stift«, mit den ich in den Schnee »zeichnen« konnte.

Okay, letzteres tue ich heute noch, wenn ich im Winter draußen mal pinkeln muss. Niemand außer mir konnte so präzise ein Phallussymbol in den Schnee »malen«. Leider konnte ich damit nicht unbedingt viele Menschen beeindrucken.

Jedenfalls kenne ich so etwas wie Scham nicht, wenn es um meine Sexualität geht.

Ich würde mich nicht als klischeehaft schwul bezeichnen. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich wohl durch und durch passiv bin. Was bedeutet, ich lass mich gern besteigen. Wobei, ich reite natürlich auch gerne. Worauf ich eigentlich hinaus will: ich lass mich ficken.

Klar, ich kann es auch anders herum, ich bin da sehr flexibel, aber richtig geil werde ich erst, wenn mir jemand etwas in den Arsch schiebt. Und ich gehe damit auch ganz unverblümt um. Warum lügen oder es schüchtern umschreiben? Es ist, wie es ist. Arschfick bleibt Arschfick, auch durch die Blume gesprochen.

Aber mal davon abgesehen, wie ich Sex praktiziere – was ja auch nur mich etwas angeht – sehe ich mich selbst nicht als Klischee. Ich trage keine schrillen Farben, rede nicht mit nasaler Stimme, gehe nicht ständig in Clubs. Mein Aussehen ist für mich auch nicht das Wichtigste. Ich bin ein typischer Normalo, würde ich sagen, allerdings dass ich eben schwul bin. Nicht, dass die Sexualität eines Menschen tatsächlich aussagekräftig für seinen Charakter wäre.

Ich stehe auf Actionfilme, um so überdrehter, um so geiler. Ich fahre auf Ballerspiele ab, hatte nie eine Barbie und verabscheue Rosa. Ich verwende nur ein einziges Duschbad für Haare und Haut, und es riecht nach Moschus. Ich trage meine Socken so lange, bis meine Mutter sagt, ich solle die Dinger wegschmeißen, sie würde lieber das Haus in Brand stecken, als sie zu waschen. Meine T-Shirts sind weit, dunkel und mit den Covern von Heavy-Metal-Bands geschmückt. Dazu trage ich meistens graue oder schwarze Jeans, die etwas tief liegen, aber derart eng sind, dass sie nicht rutschen können.

Denn mein Arsch ist so ziemlich das Geilste an meinem kleinen, schmächtigen Körper, weshalb ich ihn gern betonte.

An mein Haar lasse ich nur Wasser und das Haarfärbemittel meines Vertrauens. Da ich das banale Straßenköterblond meines Schopfes nicht mochte, färbte ich sie immer blauschwarz – schwärzer geht es nicht. Ich trage mein Haar durchgestuft und wild, etwa wie eine von diesen Manga-Figuren. Nicht, dass ich je einen Manga gelesen hätte, aber ich kenne die ein oder andere Anime-Serie und legte meinem Friseur eine Vorlage hin. Er hat nicht schlecht geguckt.

Die längsten Spitzen waren auf Höhe meines schmalen Kinns, die kürzesten verhingen halb meine silbergrauen Augen. Unter den Fransen trage ich allerdings einen Undercut.

Ich habe einen Tunnel im Ohr – natürlich das »schwule« Ohr, ich will ja Flagge zeigen – und Piercings in der Unterlippe, Zunge und zwischen den Augenbrauen. Aber nein, ich bin kein schwuler Goth oder Punk oder Emo, oder was es sonst noch so gibt. Ich bin ein Normalo, mit dem Hang zu Piercings.

Vielleicht wollte ich aber auch nur Aufmerksamkeit erregen. Was mir nicht gelang. Das einzige, das mir gelegentlich Beachtung einbrachte, war meine Sexualität.

»Hey, Schwuchtel«, wurde ich angesprochen. Dagegen habe ich nichts, ich bin eben der einzige auf meiner Schule, außerdem war ich nicht zimperlich. Ich hatte meinen Freundeskreis, bestehend aus ein paar Videospiel-Nerds und Punk-Kids, da war es mir doch gleich, ob der ein oder andere Spasti auf meiner Schule Witze darüber machte, dass ich mit anderen Jungs vögelte.

Gerade erst hatte ich eine – für mich – lange Beziehung beendet, weil ich mich einfach nicht mehr darauf konzentrieren konnte. Ich habe ihn nicht auf diese Weise geliebt, wie er mich, und es war nicht fair, dieses Spiel weiter zu treiben. Zumal er noch passiver war als ich, und ich keinen Bock mehr hatte, ihn zu ficken. Hinzu kam meine Besessenheit von meinem Lehrer, sodass ich lieber zu den Fantasien über Mr. Olsson wichste, als mit einem anderen Jungen zu schlafen.

Meinen Freunden hatte ich erzählt, dass ich meinen Kleinen abgeschossen hatte.

»Bringst du Mica am Samstag mit?«, hatte Timo, mein alter Kindergarten Freund, gefragt.

Im Übrigen war er der einzige, der nach meinem ganz offiziellen Outing damals nicht den Kontakt zu mir abgebrochen hatte.

Wahre Freundschaft eben, und das obwohl ich mir keine bessere staatlich geprüfte Hete als ihn vorstellen konnte, denn in keinem Zimmer hingen so viele nackte Weiber wie in seinem. Der Kerl war absolut auf Brüste fixiert. Weil Mama ihn mit der Flasche fütterte, zogen wir ihn immer auf.

»Ne«, sagte ich jedenfalls, »hab ihn abgesägt.«

Mehr gab es nicht zu erklären. Sie nickten. »Cool.«

Um so neugieriger wurden sie jedoch, als ich jede Pause hoffnungsvoll umherblickte. Vermutlich, weil ich mal klipp und klar gesagt hatte, ich würde niemals jemandem nachgucken, mit dem ich auf dieselbe Schule ging. Erstens, weil ich ihn dann jeden Tag sehen müsste. Zweitens, weil ich, wie erwähnt, der einzige Schwule hier war und ich mich nie in eine Hete vergucken würde.

Sie witterten, dass ich meine eigenen Regeln gebrochen hatte, und wollten sich lustig machen.

Ich versuchte, sie zu ignorieren und gab mich cool. Wenn sie stichelten und mich mit den Ellenbogen anstießen, mich angrinsten, zuckte ich gelassen mit den Schultern. Und wenn schon. Aber ich verriet nie, wirklich nie, ganz gleich, wie beharrlich sie waren und mich daran erinnerten, dass Freunde sich alles erzählten, wem meine ganze Aufmerksamkeit galt.

Ich wollte ihn sehen, aber jedes Mal, wenn ich ihn erblickte, blieb mein Herz vor Freude stehen. Oh Gott, da ist er! Und wenn mich dann auch noch sein Blick streifte, war ich wie festgewurzelt, mir entwich jegliche Beherrschung. Ich wollte mir die Kleider vom Leib reißen und mich ihm vor die Füße werfen.

»Ich habe nicht gelernt, Mr. Olsson. Das dürfen Sie mir nicht durchgehen lassen.« Und er lächelt mich daraufhin mit einem verschlagenen Schmunzeln an. »Bestraf mich! Begehre mich!«, will ich ihn auffordern. »Denn ich begehre auch dich.«

Das ich ihn will, konnte ich bereits vom ersten Moment an nicht leugnen, als ich bereits sabbernd mit den Augen an seinem Körper und Gesicht hing, aber je mehr Wochen verstrichen waren, je mehr ich seiner Strenge ausgeliefert gewesen war, je inbrünstiger verzehrte ich mich nach ihm.

Ich wollte mich an ihm reiben. Ihm meinen Schwanz an den strammen Schenkel drücken und ihm ins Ohr flüstern: »Siehst du, wie steif du mich machst?«

Dass er unerreichbar schien, machte ihn noch anziehender. Es war Folter, wenn ich ihn sah, aber es war noch tausendfach schlimmer, ihn nicht zu sehen.

Und mit all diesen Gedanken, Gefühlen und Fantasien war es natürlich noch schwieriger, mich zu konzentrieren. Na immerhin die Hausaufgaben für Geschichte hatte ich stets sporadisch fertig, aber wenn er mich dann ansah und aufforderte, ihm das Arbeitsblatt, den Aufsatz, meine Recherche vorzulegen, behauptete ich, ich hätte es vergessen, dabei lag es unter meinem Block versteckt.

Plötzlich war ich schüchtern, wollte nicht, dass er wusste, dass ich es wegen ihm tat. Und er schien enttäuscht, wütend, weil ich seine Worte nicht angenommen hatte.

Auch wieder nur so ein sturer Teenager, schien sein Blick eins ums andere Mal zu sagen. Dabei wollte ich ihn doch vom Gegenteil überzeugen. Mehr noch, ich wollte etwas, worüber ich mich noch einmal mit ihm unterhalten konnte. Wollte ihm zeigen, dass wir die gleichen Interessen hatten, dass ich gescheit bin, und es sich für ihn lohnte, das Wort an mich zu richten, mir zuzuhören.

Also lernte ich, wenn ich zuhause war. Ich lag im Bett, mein Tablet in der Hand, und las so viel über die Themen, die er mit uns durchnahm, bis mir der Kopf rauchte.

Trotzdem blieb nichts hängen.

Meine Gedanken glitten immer wieder ab. Ich sah ihn vor mir an der Tafel, wie sein Rücken sich bewegt, während er Daten an die Tafel schreibt und uns erzählt, welches bedeutendes Ereignis sich an jenem Tag zutrug. Ich sah, wie er am Pult sitzt, sich über Tests beugt, um sie zu korrigieren, und sich mit den langen Fingern das Haar aus der Stirn streicht. Ich sah ausschließlich ihn vor mir, nicht die Worte, die ich las und doch nicht las.

 

Also brach ich immer wieder ab, jeden Nachmittag, da ich mich einfältig fühlte. Und das Letzte, womit ich mich auseinandersetzen wollte, war meine angeborene Lernschwäche.

Deshalb lernte ich ungern, denn wenn ich etwas nicht verstand, kam ich mir unterbemittelt vor. Und so wollte ich mich nicht selbst sehen. Lieber tat ich so, als wäre ich nur faul, statt dumm. Es war ja auch nicht so, als wäre jemand in greifbarer Nähe, der sich die Zeit hätte nehmen können, mir das ein oder andere bei den Hausaufgaben zu erklären.

»Papa, Mama, wie geht dies, wie geht das? Wie wende ich jene Formel an? Wann und aus welchem Grund geschah dies und jenes? Wie wird dieses Wort geschrieben, wann setze ich ein Komma?« Fragen, die ich meinen Eltern nicht stellen konnte, weil sie nicht da waren. Und wenn sie es waren, keine Zeit hatten.

Die Tage frustrierten mich, weshalb ich übellaunig wurde.

Doch freitags, nur eine Woche später, hellte sich meine Stimmung etwas auf, denn unser Sportlehrer war erkrankt, und die Vertretung übernahm Mr. Olsson.

Wir waren nicht allein. Freitags hatten wir in den letzten beiden Stunden immer Sport, gemeinsam mit einer anderen Klasse. Wir wurden dann ganz systematisch aufgeteilt. Oder sexistisch, wie man es auch nennen konnte. Denn alle mit einem Gehänge zwischen den Beinen spielten in der einen Hälfte Fußball, alle anderen mit einem Spot-BH absolvierten Turnübungen in der anderen Hälfte.

Mir konnte es recht sein, ich mochte weder Mädchen, noch Turnen.

Aber ich bin ein ganz respektabler Stürmer. Was mir vermutlich auch einen gewissen Respekt bei den Heten einbrachte.

»Für eine Schwuchtel kann er verdammt gut spielen«, sagen sie über mich.

»Schwuchteln sind eben ausdauernd und können immer gut einlochen«, konterte ich stets mit einem charmanten Augenzwinkern. Ich kann über mich selbst lachen, ich nehme mich auch selbst nicht so ernst. Wäre ja schrecklich, wenn ich ständig alles auf die Oberkante legen würde, was mir jemand hinterherruft, oder wenn ich mich über üble Nachreden von Unwissenden aufregen würde. Man kann sich auch anstellen, sagte meine Mutter früher immer, wenn ich wegen irgendetwas weinte. Und diese Philosophie habe ich irgendwann übernommen. Es lebt sich ziemlich leicht damit.

Ich freute mich auf Sport und schlug bereits erwartungsvoll die Hände zusammen, als ich aus der Umkleide kam. In meinem Kopf spann ich die naive Vorstellung zusammen, es könnte Mr. Olsson vielleicht gefallen, mich schwitzen zu sehen. Wenn mir das T-Shirt am nassen Körper klebt, könnte er möglicherweise Gefallen an mir finden.

Ich bezweifelte, dass er schwul oder bi war, auch in meinen Fantasien war er immer hetero. Aber vielleicht bin ich ja heiß genug, ihn eine Ausnahme machen zu lassen? In meiner Vorstellung gelang es spielend leicht, ihn umzudrehen. Aber ich war immer gut darin, mir das Unmögliche auszumalen.

Timo lief neben mir her und faselte etwas über Bier und Chips, die ich am Samstag mitbringen sollte, wenn wir uns alle bei ihm zum Abhängen trafen. Ich wusste noch gar nicht, ob ich kommen würde, nickte aber einfach mal, weil ich keine Lust hatte, zu erklären, dass ich lieber allein in meinem Zimmer wäre.

Je mehr die Fantasien über Mr. Olsson in meinen Kopf Einzug erhielten, je weniger Lust hatte ich auf Gesellschaft. Ich wollte viel lieber in meiner perversen, kleinen Traumwelt leben, in jener ich über dem Pult gebeugt meinen nackten Arsch in die Luft streckte und darauf wartete, dass er in mich glitt. Vorzugsweise mit einem echt langen, breiten Gemächt, härter als jedes Stahlrohr.

Träumen darf man ja noch.

Als ich in die Turnhalle trat, teilte er gerade die Teams ein. Mr. Dupont, unser eigentlicher und zurzeit erkrankter Sportlehrer, überließ diese Aufgabe immer uns Schülern selbst, aber auch hier musste Mr. Olsson alles bestimmen.

Als er mich sah, deutete er auf mich, und ich wartete darauf, dass er mich zuteilte, aber er sagte streng: »Mr. Vogt, Sie nicht.«

Ich zuckte überrascht zurück. »Ähm … warum?«

»Ähm schon mal gar nicht, Mr. Vogt. Sie können die Zeit nutzen, um die vergessenen Hausaufgaben nachzuholen.« Er wandte mir die kalte Schulter zu und zeigte weiter auf meine Mitschüler.

Als er Timo aufrief, sah dieser mich mit einem halbernstgemeinten, entschuldigenden Lächeln an, hob die Schultern und verschwand.

Seufzend wartete ich ab, denn Mr. Olsson ignorierte meine Blicke und Rufe kontinuierlich, bis er fertig war und sich mir zudrehte.

Er blickte auf mich hinab und blinzelte mit trügerischer Gelassenheit. »Hol deine Sachen, Luca«, trug er mir auf, ich konnte eine leise Warnung in seiner Stimme vernehmen, »wenn du die Aufgaben von gestern nachgeholt hast, kannst du mitspielen.«

Mitspielen … ich würde lieber mit ihm spielen. Alleine. Und kein Fußball, obwohl mein Spiel auch etwas mit Bällen zu tun hatte.

Der Witz an der ganzen Sache war, dass ich die Hausaufgaben bereits gemacht hatte. Aber wenn ich ihm das gesagt hätte, wäre dies wohl nicht wirklich gut bei ihm angekommen. Was er wohl von mir gehalten hätte, wenn ich ihm zu erklären versuchte, weshalb ich einen Vermerk im Klassenbuch in Kauf genommen hatte, weil ich meine Hausaufgaben vor ihm versteckte, wie ein verliebtes Mädchen einen Liebesbrief.

War es das für mich? Meine Art, »Liebesbriefe« zu schreiben, indem ich die Aufgaben erledigte, die er mir auftrug?

Er zog eine Augenbraue ungeduldig nach oben. »Jetzt gleich!«

Jetzt gleich! Mit einem deutlich gesprochenen Ausrufezeichen, das einem knallenden Peitschenschlag gleichkam. Ich war zugleich verärgert und in Erregung versetzt.

Ich wandte mich genervt ab, sein Blick brannte in meinem Nacken, während ich zu den Umkleiden schlenderte und meinen Rucksack holte.

Es gab in der Turnhalle Räume mit Spiegeln, Zuschauerscheiben, Krankenliege und Tischen, in jene ich mich setzen und auf die Halle blicken konnte. Dorthin zog ich mich zurück und tat ein paar Minuten so, als würde ich schreiben, während ich in Wahrheit Mr. Olsson beobachtete, der mit Miss Martin, der Sportlehrerin der anderen Klasse, am Rand des Spielerfelds stand und sich unterhielt.

Sie war jung, blond und ganz nett anzusehen. Timo gaffte ihr immer nach, und sie war ganz sicher nicht nur für ihn eine geile Wichsvorlage. Aus naheliegenden Gründen konnte ich ihr nichts abgewinnen, aber sie war immer leicht mit einem Lächeln zu bezaubern. Die Frau lechzte mehr nach Aufmerksamkeit als eine frisch geschiedene, korpulente Dame mittleren Alters.

Ich wünschte, sie wäre weniger attraktiv, als ich sah, wie sie lachend eine Hand auf Mr. Olssons muskulösen Oberarm legte und sich auffällig die Haare nach hinten warf. Auch er lachte, in seinen Augen stand ein Flirt.

Ich war nie ein eifersüchtiger Mensch gewesen, aber als ich das sah, brodelte es in meinem Magen. Ich wollte aufstehen und mich dazwischenwerfen. Ihr klar machen, dass sein Schwanz mir gehörte.

Aber ich wusste, dass das nur in meiner Fantasie stattfand und nichts mit der Realität zu tun hatte.

Ich stellte mir die beiden unwillkürlich nackt vor, sie unter ihm, und er mit diesen schmälernden Hüften zwischen ihren Schenkeln. Wie sein knackiger Arsch auf und ab hob, während er sie gnadenlos fickte und sie zum Schreien brachte. Und wie er aufsieht und mir ein komplizenhaftes Lächeln zuwarf.

Er kann es ihr besorgen, dachte ich schelmisch. Ob sie es aushielt und ob sie es auch ihm besorgen konnte, wagte ich anzuzweifeln.

In meiner Fantasie brauchte Mr. Olsson mich. Nur mich! Mit einem deutlich gesprochenen Ausrufezeichen am Ende. Weil er mit mir alles machen konnte, machen durfte, was immer er mit mir machen wollte. Mein Körper hätte ihm gehören können, jeder Zoll davon. Ich wollte es ihm gern sagen, es ihm zuraunen: »Du kannst in mein Innerstes eindringen. Sanft, hart, schnell, unendlich langsam. Ganz gleich, wie du es willst, mein Leib gehört dir. Dring in ihn ein, mach ihn nass, bring ihn zum Glühen, berühr ihn nur endlich.«

»Fertig?«, fragte Mr. Olsson, als ich ihn an der Tür zur Halle einige Minuten später antraf. Er hatte mich im Flur gesehen und seinen Plausch mit Miss Martin unterbrochen. Das schien ihm nicht gefallen zu haben. Mir dafür umso mehr.

Er sollte nicht dieser Trine, sondern mir seine Aufmerksamkeit schenken.

»Fertig, ja.« Vor allem mit meinen Nerven. Ich reichte ihm das Blatt, das ich bereits den ganzen Tag mit mir herumschleppte. Es stand das Datum von gestern darauf. Eigentlich hatte ich es durchstreichen wollen, habe es aus Trotz dann doch gelassen. Es interessierte mich, ob er Gedanken dazu hatte. Ich wollte es einerseits provozieren, ihm Gelegenheit geben, über mein irrsinniges Verhalten zu grübeln, mir aber einen Ausweg offenlassen.

Vielleicht dachte er sich nichts dabei, vielleicht ja doch. Er könnte richtige Schlüsse ziehen, wäre er sehr aufmerksam. Dann kann ich immer noch behaupten, ich hätte mich vertan.

Er bemerkte es nicht, und meine Gedanken waren völlig sinnlos gewesen. Es enttäuschte mich, dass er es nicht sah, dass er nicht begriff, dass ich die Hausaufgaben aus Scham vor ihm versteckte. Weil ich etwas Intimes damit verband. Beinahe als würde ich seine Unterwäsche anziehen.

Ob er wusste, dass ich hart wurde, wenn ich mich an die Geschichtshausaufgaben setzte, nur weil ich brav das tat, was er von mir verlangte?

Ich wollte, dass er mich danach fragte.

Und obwohl ich nie den Mut hätte, ihm eine ehrliche Antwort darauf zu geben, wollte ich dennoch kurz diese gewisse Spannung zwischen uns spüren. Ich wollte es knistern fühlen.

Aber von seiner Seite aus schien sich kein Sturm auftun zu wollen, nicht einmal ein warmes Lüftchen. Es schien, als würde ich der wilden und freien Natur ausgeliefert sein, während er mich durch einen sterilen Kasten heraus beobachtete.

Ich war der peitschende Wind, und er der Fels, dem ich nichts anhaben konnte.

»Ist das alles?«, fragt er mich herablassend.

Ich war sprachlos. Immerhin hatte ich eine ganze halbe Seite zu Stande gebracht. Ich war wirklich stolz darauf. Selbst auf die geistreiche Einleitung: Hitler war ein krankes Arschloch.

»Wieso?«, fragte ich entsetzt, es machte mich traurig, dass ich es versucht hatte und gescheitert war. »Was ist falsch daran?«

»Es ist etwas kurz«, gab er zu bedenken, »und es steckt kein Leben darin.«

»Ja, das ist nun mal Geschichte«, belehrte ich ihn. Ich musste mich immerhin verteidigen.

Er nickte zustimmend, versuchte mir aber sachlich zu erklären: »Aber erweck die Geschichte zum Leben, Luca! Wie kam es zu alledem? Warum tat er, was er tat? Wer war der Mann, wie kam es zu seinen Gräueltaten, wann und aus welchem Grund geschah dies und das. Und vergiss dabei nicht, dass Geschichte nicht verurteilend ist. Die Geschichte ist unparteiisch, sie erzählt uns nur die Ereignisse. Nur die Tatsachen. Ich will nicht deine Meinung darüber hören, Luca, ich will wissen, was von dem, was ich dir beibrachte, du noch weißt.«

Da war es wieder, das Gefühl, dass sich jemand für mich Zeit nahm. Er hätte mir auch einfach sagen können, ich sollte mich mehr anstrengen, doch das tat er nicht. Er nahm sich eine Minute, um mich zu beachten. Mir zu erklären, was er denn eigentlich von mir erwartete.

»Geschichte bedeutet, Fakten zusammen zu tragen, ganz genau! Das habe ich doch auch getan! Was Sie jetzt aber von mir verlangen, gehört wohl doch ehe zum Bereich Deutsch und Psychologie. Aber rein geschichtlich habe ich meine Aufgabe doch erfüllt. Sehen Sie, es stehen alle wichtigen Daten da! Wenn es Ihnen so wichtig ist, streiche ich gerne die persönliche Meinung, aber dann wird die Seite auch nicht voller.«

Ich war ein unverbesserlicher Klugscheißer.

»Ich erwartete einen Aufsatz, keine Stichpunktliste.« Aber ich hatte ihn zum Schmunzeln gebracht, und ich schmunzelte zurück. Während jenem stillen, lachenden Blick waren wir auf einer Wellenlänge. Und ich freute mich bis tief in meinen Bauch, der unter seinem Lächeln warm glühte, als hätte ich einen Schluck Alkohol genommen.

Schließlich sah er sich das Blatt noch einmal an und seufzte schwer. »Gut, ich lass es durchgehen.«

»Echt jetzt?« Ich war überrascht.

 

Er schmunzelte wieder. »Echt jetzt«, äffte er mich nach, und ich grinste breit.

»Dann mach jetzt die anderen.«

Mein Lächeln verschwand. »Wie?«

»Die Hausaufgaben für die anderen Fächer«, erklärte er mir. »Deutsch. Mathe. Los, setz dich dran. Und mach auch die, die du für Morgen brauchst.«

»Die kann ich doch zu Hause machen!«, warf ich ein. »Sport ist übrigens auch wichtig!«

Er musterte mich plötzlich. Was sollte dieser grübelnde Blick bedeuten? War ich ihm nicht sportlich genug? Nicht muskulös genug?

»Ich mache gerne Sport!«, protestierte ich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Mein herausfordernder Blick sprühte Blitze zu ihm rauf.

Mr. Olsson lächelte nachsichtig. »Gewiss. Aber das Vergnügen kommt nach der Arbeit.«

So einer ist er also. Das ist ja langweilig … und enttäuschend.

»Außerdem wissen wir beide, dass du zu Hause gar nichts machen wirst. Jetzt setz dich ran, dann kannst du die zweite Stunde vielleicht noch mitmachen.«

Er wurde abgelenkt, weil sich zwei meiner Mitschüler wegen eines angeblichen Fouls rauften. Ich sah ihm böse nach, gehorchte aber und ging wieder zurück an meinem Platz.

Ich wollte mich natürlich beeilen, doch bereits bei Deutsch verzweifelte ich. Wir sollten eine Personenbeschreibung formulieren. Doch es frustrierte mich zunehmend, dass ich die Schreibweise der Wörter, die ich in meinem Kopf hatte, nicht kannte, dass ich es sein ließ. Meine alte Deutsch-Lehrerin in der Grundschule sagte immer, ich hätte eine Rechtschreibschwäche. Keine Ahnung, was das ist, und ob sie recht hatte. Meine Mutter hatte dazu immer nur gesagt: »Ach so ein Quatsch, der Junge ist einfach nur faul.«

Faul. Das war ich immer. Wenn mich jemand beschrieb, war ich immer nur der Faule. Insgeheim gefiel mir es nicht.

Ich seufzte und setzte mich an Mathe. Da ich nicht aufgepasst hatte, kamen mir die Formeln vor, als würde ich versuchen, ägyptische Grabinschriften zu entziffern. Warum sind da so viele Buchstaben? Das ist doch Mathe, kein Deutsch!

Verdammt. Ich schmiss den Bleistift hin und schlug die Stirn auf die Tischkante. »Ich bin so dumm«, klagte ich leise. Ich musste schniefen, weil mir meine geringe Intelligenz Tränen in die Augen trieb. Frusttränen. Schamtränen.

»Klappt es nicht?«

Mir gefror das Blut in den Adern zu Eis, als ich seine Stimme hörte. Schnell rieb ich meine Augen trocken und hob den Kopf.

»Ich hab mich nur kurz ausgeruht«, gab ich zurück. Ich wollte mir keine Blöße geben, weder vor ihm noch vor sonst jemanden, nicht einmal vor mir. Ich wollte meine Gefühle unter einer eiskalten Schicht Coolness verbergen. Mir doch egal, ob ich es kann oder nicht. Mir ist einfach alles egal.

Doch das stimmte nicht.

»Woran liegts denn?« Er kam in den Raum, zog einen rollbaren Hocker von der Krankenliege zu mir herüber und setzte sich neben mich.

Kaffee und Leder. Er roch wieder danach. Und er war mir so nahe, dass ich sehen konnte, wie die Stoppeln auf seinen Wangen nachwuchsen.

»Ich bin nur müde«, log ich, als er sich zu mir hinüber über das Buch beugte. Jeder andere Schüler wäre vermutlich ausgewichen, wenigstens ein Stück. Ich nicht, ich blieb sitzen, und hätte mich am liebsten ihm entgegen gelehnt.

Ob er mich auch roch? Was nahm er wohl wahr? Den Moschusgeruch meines Duschbades, die Amberhölzer mit Vanille meines Deos? Meinen Schweiß, der mir auf der Oberlippe stand?

Roch er mich genauso gerne wie ich ihn?

Mr. Olsson verzog unglücklich die Miene. »Mathe war auch nie meine Stärke.«

Ich blinzelte ihn überrascht an. Konnte es wirklich sein, dass wir etwas gemeinsam hatten? Dass wir beide Mathenieten waren, die an der Supermarktkasse übers Ohr gehauen wurden? War ich doch nicht der einzige, der diese Hieroglyphen nicht entziffern konnte?

»Lass mal sehen.« Er zog das Buch zu sich heran und grübelte, während er sich langsam über den langen Kinnbart strich.

Er hat was von einem Piraten, ging es mir durch den Kopf. Seine Tattoos, sein lässiges Hemd, sein Bart, alles schrie nach Freibeuter. Ich wäre gern ein paar Monate allein mit ihm auf See. Dann, wenn sogar Delphine für ihn zu Meerjungfrauen wurden, würde ich bestimmt nicht von seiner Bettkante geworfen werden.

»Du musst …«, er sah mich an und stockte, zuckte beinahe ein Stück zurück. »Hörst du zu?«

Ich blinzelte meine Trance fort, denn sein Tonfall klang streng. »Sicher«, bestätigte ich, konnte meine Augen aber nicht von seinen losreißen.

Er blickte mir noch einen Herzschlag lang unergründlich in die Augen, Gott weiß, was er in jener Sekunde dachte.

Schließlich sah er auf die aufgeschlagene Buchseite hinab, als wäre nichts gewesen, während mir der Atem im Halse stecken geblieben war und mein Schwanz in der Hose wuchs.

»Das wird so gemacht …«, begann er und versuchte, mir den Rechenweg zu erklären. Die ersten beiden Formeln rechnete er mir aus, um es mir deutlich zu zeigen. Ich konnte Dinge besser verstehen, wenn man sie mir vormachte, statt nur zu erklären. Und er war geduldig, obwohl ich anfangs zu schüchtern und beschämt war, Fragen zu stellen. Ich nickte einfach, wenn er nachhakte, ob ich es verstanden hätte, und gab mich trotzig, wenn er wollte, dass ich es ihm vor machte.

Er wurde nicht wütend, auch nicht genervt, er sagte keine herabwürdigenden Dinge wie: »Das ist doch ganz einfach, Luca.« Sondern er verwendete Worte wie: »Du musst dich nicht schämen, ich habe mich viel dümmer angestellt als du.«

Hatte er das? Vermutlich manipulierte er mich. Vielleicht aber auch nicht. Es bestand zumindest die Möglichkeit, dass wir etwas gemein hatten. Dass er wie ich war. Dass wir uns vermutlich zu seiner Schulzeit ganz ähnlich gewesen wären.

Ich ließ mich darauf ein, dass er mir half. Und plötzlich war Sport auch nicht mehr so wichtig. Das hier war viel besser. So nahe würde ich ihm vermutlich nie mehr wieder kommen.

Mathe war viel zu schnell erledigt.

»Deutsch klappt auch nicht so«, sagte ich, meine Würde vergessend, weil ich wollte, dass er bei mir sitzen blieb.

»Zeig mal«, forderte er mich auf.

Und ich zeigte es ihm.

Plötzlich verstand ich, was es mit der Relativitätstheorie auf sich hatte. Wir waren fast durch, aber es kam mir so vor, als hätte er sich gerade erst neben mich gesetzt.

Verdammt, warum musste er denn auch mein Lehrer sein!

Wobei, wenn ich ehrlich bin, machte dies einen Teil seiner Faszination aus.

Ich wollte schlichtweg meinen Lehrer verführen.

War es nicht seltsam, dass, wäre es anders herum, er sich strafbar machen würde, ich aber einfach so damit durchkam, weil ich der Schüler war. Ich könnte mich nackt in seine Umkleide stellen und auf ihn warten, ihn mit mir dort einsperren, ihn bedrängen, ohne von der Schule zu fliegen. Allerhöchstens würde ich einige ernste Gespräche über mich ergehen lassen müssen, aber ein Rausschmiss wäre erst dann fällig, wenn er sich wegen mir ernsthaft bedroht fühlte. Es brauchte deutlich mehr als einen einzigen Verführungsversuch meiner Seite aus, um eine echte Strafe heraufzubeschwören. Aber würde er es auch nur wagen, jetzt seine Hand ganz unschuldig auf mein Knie zu legen, wäre er der Perverse.

Als mir die Vorstellung kam, starrte ich unwillkürlich hinab auf mein Bein. Es war dem seinem so nahe, nur eine Handbreit Luft stand zwischen uns. Er überprüfte gerade die Personenbeschreibung, bei der er mir geholfen hatte, indem er mir das ein oder andere Wort erklärte, mir neue Wörter beibrachte, die passender klangen und einfacher zu schreiben waren.

Ich stieß ganz beiläufig mit meinem Knie gegen seines, noch bevor ich mich davon abhalten konnte, und beobachtete die Reaktion in seinem Gesicht.